Noch einmal: Documenta und Antisemitismus

Ein wichtiges Thema

Andreas Mertin

Der Streit um die Documenta fifteen reißt im Vorfeld der Ausstellung nicht ab. Nachdem zuerst eine Initiative aus Kassel ziemlich massive Vorwürfe gegen Findungskommission, Kuratoren­team, wissenschaftliches Begleitteam und einige der eingeladenen Gruppen in Sachen Israelkritik, BDS-Nähe und Antisemitismus geäußert hatte, reagierte die Leitung der Documenta fifteen mit der Ankündigung einer Gesprächsreihe, auf der über Antisemitismus, Rassismus, Islamophobie und Antikolonialismus gesprochen werden sollte. Das legte ein bemerkenswertes Unverständnis jenes Landes vor, in dem die Ausstellung stattfindet, das die Ausstellung finanziert und in dem die Solidarität mit Israel zur politisch bekundeten Staatsraison gehört. Das interessierte die Documenta-Leitung aber überhaupt nicht, sie kehrte die Kritik um und bezeichnete die Kritiker als rassistisch.

„Mittlerweile wird Rassismus in zahlreichen sich als links verstehenden Milieus reflexartig ins Spiel gebracht, sobald es um Antisemitismus geht. Die Ignoranz gegenüber den Unterschieden zwischen rassistischen und antisemitischen Ideologien behindert zusehends antirassistische und antisemitismuskritische Praktiken. Und der Unwille, den „Islamophobie“-Vorwurf als jenen Kampfbegriff der Verteidiger einer islamischen Menschenzurichtung zu erkennen, mit dem noch die brutalsten Formen der Unterdrückung gegen Kritik immunisiert werden sollen, charakterisiert seit Langem die Debatten über Antisemitismus, Rassismus und Islamkritik.“[1]

Da die Documenta die jüdischen Gemeinden und den Zentralrat der Juden in Deutschland nicht an den Diskussionen beteiligt hatten und auch nicht an der Gesprächsreihe beteiligen wollten, kritisierten diese die Veranstaltungsreihe.[2] Eingeladene jüdische Gesprächsteilnehmer bekundeten ihre Solidarität mit den Juden in Deutschland und zogen ihre Zusage zur Gesprächsreihe zurück.[3] Daraufhin sagte die Documenta die Gesprächsreihe ab, verwies darauf, dass man ja zuerst die Ausstellung ansehen müsse, bevor man in Sachen Antisemitismus ein Urteil fällen könne – was die Argumente der Kritiker nun gerade nicht traf, da diese ja auf Einstellungen der Planer der Ausstellung zielten. Daher soll nun während der Ausstellung das Thema wieder aufgegriffen werden.

In ihrem Schreiben, das dann in der Berliner Zeitung veröffentlicht wurde und in einem ziemlich schrecklichen Behördenstil formuliert ist (Mit großem Bedauern teilen wir mit, dass das Gesprächsforum „We need to talk“ zu diesem Zeitpunkt ausgesetzt wurde), wehren sich die Veranstalter gegen die Vorwürfe und verteidigen ihren Ansatz. Die Kritik denunziere Menschen und gehen an der Sache vorbei.

In einem unseriösen Dreisprung macht der Blogtext aus Khalil Sakakini, einem progressiven palästinensischen Pädagogen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, mithilfe verkürzter, teils falscher Zitate aus Wikipedia einen glühenden Antisemiten.[4]

Nun ist die Quellenlage zu Khalil Sakakini unklar und es reicht nicht, zur Widerlegung der Vorwürfe nur auf dessen Tagebücher zu verweisen. Es reicht aber auch nicht, die These vom antisemitischen Khalil Sakakini nur aus ein paar Sätzen ohne Quellen aus einem Wikipedia-Artikel abzuleiten, den ein Schweizer Nutzer 2017 angelegt hat. Der Vorwurf des Antisemitismus ist ein gravierender und man wundert sich schon, dass die Wikipedia, die doch sonst so viel Wert auf Belege legt, hier seit fünf Jahren schweigt. Hier bedarf es dringend weiterer Aufklärung.

Die Documenta dreht nun die Vorwürfe um und sieht den Vorgang als einen, in dem

deutlich wird, wie nahe unzureichendes historisches Problembewusstsein und eine rassistische Verleumdungskampagne beieinanderliegen.

Das Problem sieht die Documenta darin, dass Deutschland sich um seine Diskurshoheit in Sachen Antisemitismus sorge, die durch einen multiperspektivischen Ansatz in Frage gestellt werde. Das ist schon starker Tobak und ich würde es umstandslos als rechte Meme bezeichnen.[5]

Aber es war klar, dass man durch so ein Vorgehen die im Vorfeld entstandene Diskussion nicht abwürgen kann. Ganz im Gegenteil, nun wurde die Einladungspolitik des Kuratorenteams nach den aktuellen Kriterien für Antisemitismus nach Doppelstandards befragt. Wenn die Kuratoren keine israelischen Künstler, dagegen aber palästinensische Initiativen auf die Documenta einladen, würden sie sich wenigstens in den geopolitischen Bereichen, in denen sie normalerweise arbeiten, also etwa Indonesien besser verhalten? Gibt es also auf der Einladungsliste der Documenta fifteen kritische, unterdrückte Künstler aus dem Südosten der Welt?

Das zumindest fragte Marco Stahlhut in der FAZ. Und da erwies sich die konkrete Einladungspolitik als extrem heikel, berücksichtigt sie doch gerade nicht die unterdrückten Gruppen dieser Welt, weder die Uiguren, noch die Rohingya oder die Menschen in Papua spielen in ihrem Konzept eine Rolle:

Trotz aller Verstiegenheit im Vokabular über Israel und die Palästinenser haben Ruangrupa bisher kein einziges kritisches Wort über Papua verloren, und schon gar nicht haben sie kritische Künstler aus dieser östlichsten Provinz Indonesiens eingeladen … Der Filmemacher [Wensislaus Fatubun], sagt zu Ruangrupa und ihrer Documenta, es sei ‚leider so wie immer, wenn Indonesier irgendwo auftreten: Sie nehmen Papuas und andere indigene Staatsbürger einfach nicht wahr‘, höchstens für ein bisschen verfälschende Exotik. Man müsse immer wieder um wirklichen Zugang kämpfen und werde immer wieder ausgeschlossen.[6]

Stahlhut kommt zu der Schlussfolgerung, man müsse Ruangrupa als das bezeichnen, was sie inzwischen sei:

… ein staatstragendes indonesisches Kunstkollektiv. Mit Fortschrittlichkeit oder wirklichem Pluralismus haben Ruangrupa und ihre „Lumbung“-Documenta eben deswegen nichts zu tun. Diese Werte werden nur beschworen, um berechtigte Kritik, ob an ihrem kuratorischen Nichtkonzept oder politischer Israel-Besessenheit, als „rassistisch“ abzuwehren.[7]

Mehr Aufklärung wagen

Wie immer man zum sprachlichen Stil der Ruhrbarone oder des Kasseler Bündnisses gegen Antisemitismus steht, oder zu den durchaus kritikwürdigen Formulierungen gegenüber dem indonesischen Kuratorenteam, die ich auch als Rassismus-verdächtig betrachten würde, die Frage bleibt: wie steht die Documenta fifteen zum Antisemitismus? Und da wurde die Documenta kalt erwischt. Sie hat kein Verhältnis zur Frage des Antisemitismus. Natürlich, daraufhin befragt, lehnt sie ihn unisono ab, aber sie hat nicht einmal ein minimales Gespür dafür, dass das in dem Land, in dem dieses einzigartige Verbrechen an den Juden geschehen ist, eben nicht ausreicht. Dass sie in dem Wunsch, den Antisemitismus auch auf der documenta zu erörtern, als Versuch der Beibehaltung deutscher Diskurshoheit deutet, spricht dafür, dass sie den Antisemitismus lediglich als untergeordneten Teil der Geschichte des Rassismus verortet. Das würde ich wiederum als „unzureichendes historisches Problembewusstsein“ bezeichnen.

Aufklärerisch wäre es gewesen, wenn die Documenta fifteen die Nachfragen dazu genutzt hätte, Antisemitismuskritik und Rassismuskritik in ein weiterführendes und konfliktlösendes Verhältnis zu bringen, so, wie es etwa Floris Biskamp in seinem lesenswerten Artikel „Ich sehe was, was Du nicht siehst. Antisemitismuskritik und Rassismuskritik im Streit um Israel“ getan hat.[8] Der Vorteil von Biskamp ist, dass er die Standpunkte beider Seiten einsichtig macht und von da aus Perspektiven eines Gesprächs skizziert. Und genau das hätte auch die Documenta leisten müssen.

Anmerkungen

[1]    Grigat, Stephan (2022): Antisemitismus bei documenta15: Rassismus und „Islamophobie“. https://taz.de/Antisemitismus-bei-documenta15/!5846923/

[2]    Zentralrat der Juden in Deutschland (2022): Bei documenta nicht berücksichtigt. https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/zentralrat-der-juden-bei-documenta-nicht-beruecksichtigt/ .

[3]    Sznaider, Nathan (2022): Konflikte nicht einfach wegdenken. Documenta 15 in Kassel: In: DER STANDARD, 30.01.2022. https://www.derstandard.at/story/2000132933416/documenta-kassel-konflikte-nicht-einfach-wegdenken sowie Schneider, Johannes (2022): documenta: Sie müssen wirklich reden. In: Die Zeit, 07.05.2022. https://www.zeit.de/kultur/kunst/2022-05/documenta-fifteen-expertenforen-antisemitismus-vorwuerfe-ruangrupa/komplettansicht.

[4]    ruangrupa (2022): Antisemitismus-Vorwurf gegen Documenta: Wie ein Gerücht zum Skandal wurde. In: Berliner Zeitung, 09.05.2022. https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/debatte/antisemitismus-vorwurf-gegen-documenta-wie-ein-geruecht-zum-skandal-wurde-li.226887.

[5]    Auch Formulierungen wie „Offensichtlich reicht es beim Thema Antisemitismus, mit der Dynamik des zirkulierenden Gerüchts zu arbeiten. Das nehmen wir zur Kenntnis“ sind rechte Meme und von erschreckender Unterkomplexität.

[6]    Stahlhut, Marco (2022): Worüber Ruangrupa schweigt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.05.2022. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/documenta-macher-ruangrupa-schweigen-zu-missstaenden-in-indonesien-18047726.html.

[7]    Ebd. Stahlhut beschließt seinen Artikel mit scharfen Worten: „Wenn also ein indonesisches Künstlerkollektiv behauptet, eine Resolution des Deutschen Bundestags zur antiisraelischen BDS-Kampagne wäre ein dramatischer Eingriff in die Meinungsfreiheit, und just dasselbe Kollektiv kein kritisches Wort über den Stand politischer und medialer Freiheit in Indonesien verliert, kein kritisches Wort auch über den dortigen Alltagsrassismus – als was sollte man ein solches Kollektiv dann bezeichnen: als uninformiert? Oder als Heuchler?“

[8]    Biskamp, Floris (2021): Ich sehe was, was Du nicht siehst. Antisemitismuskritik und Rassismuskritik im Streit um Israel. In: PERIPHERIE 40 (3 and 4-2020), S. 426–440. DOI: 10.3224/peripherie.v40i3-4.12.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/137/am758.htm
© Andreas Mertin, 2022