Kunst als Welterkenntnis?
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Oj, u lusi tscherwona kalynaEin Update zu: Lautes Verstummen oder: Дерьмо вмозгеAndreas Mertin Ein Leser des Magazins für Theologie und Ästhetik hat mich freundlicherweise nach dem Erscheinen der letzten Ausgabe darauf hingewiesen, dass ich in meinem Text über das laute Verstummen der europäischen Popkultur im Ukrainekrieg ein zentrales popkulturelles Artefakt der Solidarität übersehen hätte: Pink Floyds "Hey Hey Rise up" in Zusammenarbeit mit dem ukrainischen Sänger Andrij Chlywnjuk. Tatsächlich hatte ich nichts davon mitbekommen, dass sich Pink Floyd Anfang April 2022 wiedergetroffen hatte, um dieses Stück zu performen. Nicht auf dieses Stück einzugehen, wäre ein Versäumnis, weil es eine interessante Variante dessen ist, was ich im letzten Heft untersucht hatte. Das Faszinierende an diesem neuesten Stück von Pink Floyd ist seine Vielschichtigkeit, seine tiefgreifende Ambivalenz und vor allem auch das, was ex negativo aus dem Auftritt erschlossen werden kann / muss. Denn natürlich treten Pink Floyd ohne Roger Waters auf, mit dem sie sich nicht nur zerstritten haben, sondern der auch in nahezu allen Fragen gegenteilige, extrem kontroverse Standpunkte vertritt. Aber Schritt für Schritt. Folgen wir zunächst der Darstellung in der Wikipedia, die ja immer das Wesentliche bündelt:
Wir haben es also mit vier bestimmenden Elementen bzw. Faktoren zu tun: einem ukrainischen Volkslied aus dem Jahr 1914, seinen Re-Enactment durch den ukrainischen Sänger Andrij Chlywnjuk von der Band BoomBox im Jahr 2022, einem Framing dieses Re-Enactments durch Teile der legendären Gruppe Pink Floyd aus demselben Jahr 2022 und einer Leerstelle: dem Handeln, Reden und Schweigen von Roger Waters seit Beginn der Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014. Dieser Mix macht das Ganze so spannend. Das Volkslied / Der Marsch: Ой у лузі червона калинаDas ukrainische Volkslied „Oh, roter Schneeball auf der Wiese“ ist eigentlich ein patriotischer Marsch, der ursprünglich in das Jahr 1914 datiert. Im Augenblick werden im Zuge des aktuellen Konfliktes auf Youtube vor allem neueste Versionen (Re-Enactments) des Stückes im Kontext des aktuellen Krieges und zugleich der Kriegspropaganda gestreamt. Es lohnt sich aber, nach älteren Aufspielungen zu suchen, um dem ursprünglichen militärischen Charakter des Stückes auf die Spur zu kommen. Ich habe einmal einige wenige Links zusammengestellt: Beispiel 1 (aufgespielt 2009) Beispiel 2 (aufgespielt 2011) Beispiel 3 (aufgespielt 2014) Beispiel 4 (aufgespielt 2017). Mein Eindruck ist: je früher die Aufspielung bei Youtube, um so stärker dominiert der Marschcharakter des Stückes, je später die Aufspielung, um so folkloristischer die Inszenierung. Das ändert sich dann erst wieder 2022. Der ursprüngliche Marsch wurde 1914 zur Ehrung und Erinnerung der Ukrainischen Legion beziehungsweise der Sitscher Schützen geschrieben.
Andrij ChlywnjukWie bereits einleitend im Wikipedia-Artikel beschrieben, brach Andrij Chlywnjuk, der Sänger der ukrainischen Rockband BoomBox, nach dem russischen Überfall auf die Ukraine seine Konzertreise in den USA ab, reiste zurück in die Ukraine und trat den ukrainischen Streitkräften bei. Wir finden im Internet zahlreiche ähnliche Berichte von Künstlerinnen und Künstlern, die sich entschlossen haben, ihre künstlerische Arbeit temporär zu unterbrechen, um ihrer Heimat beizustehen. Wir finden aber auch Künstler:innen, die gerade in Konzertreisen ein Mittel sehen, zur internationalen Solidarität mit der Ukraine aufzurufen. In diesem Sinne nehmen auch einige ukrainische Künstler:innen an einer Veranstaltungsreihe im ruruHaus der documenta fifteen teil. Andrij Chlywnjuk wählte eine Zwischenform. Einerseits beteiligte er sich am bewaffneten Widerstand, andererseits tut er seinen Protest und seine Solidarität durch eine musikalische Intervention kund. Ende Februar nimmt er auf dem Sophienplatz in Kiew eine A-cappella-Version des Marsches Ой у лузі червона калина (Oh, roter Schneeball auf der Wiese) auf (Quelle). Wir sehen den militärisch gekleideten und ausgerüsteten Sänger wie er vor dem Glockenturm der Sophienkirche steht, zunächst kurz über den Sophienplatz blickt und dann zu seinem Lied ansetzt. Am Ende des nur 40 Sekunden langen Stückes hebt er die Hand zum Victory-Zeichen. Es ist fast unspektakulär, aber es führt zu einer Renaissance des alten Volksliedes in der öffentlichen Wahrnehmung, insbesondere, als kurze Zeit auch noch ein Remix durch den südafrikanischen Sänger The Kiffness entstand, der das Stück musikalisch und rhythmisch unterlegte. Das Video von Pink FloydMit Pink Floyd bekommt das bereits virale Stück von Andrij Chlywnjuk noch einmal ein neues, internationales Framing. Nach 28 Jahren kommt es zu einer temporären Re-Union von Bandmitgliedern, die damit auch den Protestsong aufwerten. Das nun 3:54 Minuten lange Stück mit dem Framing von Pink Floyd eröffnet mit dem Titelschriftzug Hey Hey Rise up, der auf einen Hintergrund überblendet wird, in dem ein Panzer durch die Ukraine fährt. Eine Einblendung informiert die Betrachter:innen, dass am 24. Februar 2022 Russland in die Ukraine einmarschiert ist (zeitgleich explodiert eine Granate im Hintergrund) und der BoomBox Sänger Andriy Khlyvnyuk seine US Tour beendet habe und nach Kyiv zurück gekehrt sei um seine Heimat zu verteidigen. Im Hintergrund sehen wir nun Andriy Khlyvnyuk mit seinem Post auf Instagram eingeblendet, während uns der eingeblendete Text informiert, dass er drei Tage später ein Video auf Instagram gepostet habe, in dem er den ukrainischen Song „The Red Viburnum in the Meadow“ gesungen habe. Nun habe sich Pink Floyd mit Andriy zusammengetan um seine Botschaft des Widerstands zu unterstützen. Damit sind 30 Sekunden des Videos gefüllt und nun erfolgt eine Einblendung des Schriftzugs Pink Floyd in den Farben der Ukraine. Dazu hören wir eine Musikeinspielung des ukrainischen Chors Werowka. Dann hören wir für etwa eine Minute die Stimme von Andriy Khlyvnyuk aus seinem Instagram-Post, während Pink Floyd seinen A Cappella Gesang musikalisch untermalt. Für 2½ Minuten erfolgt dann ein Gitarrensolo von David Gilmour, während wir auf Bilder aus dem Ukraine-Krieg vermischt mit Fotos von der Performance von Pink Floyd blicken. Nach insgesamt 3 Minuten wird dann wieder das Instagram-Video von Andriy Khlyvnyuk in den Vordergrund gestellt, aber auch schon auf seine Wirkungsgeschichte in den Social Media angespielt, insofern immer mehr Kinder eingeblendet werden, die das Lied mitsingen. Das entspricht ja der realen Situation bei Youtube im April 2022. David Gilmour sagte in einem Interview zur Begründung der Re-Union von Pink Floyd ohne Roger Waters und seines Engagements:
Roger WatersDer letzte Faktor des Stückes ist somit die Leerstelle Roger Waters, der sich seit vielen Jahren zur Problemfigur der Gruppe Pink Floyd entwickelt hatte. Das betraf nicht nur seine Haltung zu Israel und zum BDS und zu diversen anderen Fragen, auch seine Einstellung zu Russland war zumindest bis Frühjahr 2022 einigermaßen problematisch. 2013 sagte er in einem Interview: „Es gab viele Menschen, die so taten, als wenn die Unterdrückung der Juden nicht stattfinden würde. Zwischen 1933 und 1946. Nun gibt es ein neues Szenario. Nur dass es jetzt die Palästinenser sind, die ermordet werden.“ Zur russischen Invasion in die Ukraine nahm er etwas unklar Stellung. Während er 2014 noch die Annexion der Krim durch Russland verteidigt hatte, verurteilte er den Krieg von 2022, wenn auch relativ ambivalent:
Das wird nichts daran ändern können, dass mit dem Erscheinen von Pink Floyds „Hey, hey. Rise up“ der Name der Band nun mit dem Protest gegen die russische Invasion verbunden sein wird und der ikrainische Widerstand sich zurecht auf Pink Floyd berufen kann. |
Artikelnachweis: https://www.theomag.de/138/am759.htm |