First see and walk, then judge and talk!

So erleb(t)e ich die Documenta fifteen

Andreas Mertin

Irgendwann ist man es leid, all dies voreilige Geraune um und Gerede über eine angeblich gescheiterte documenta – aktuell um und über die documenta fifteen.

Diese Kritik ist eigentlich ein Iterativismus, der pünktlich alle fünf Jahre in Szene gesetzt wird, immer schriller, immer greller, immer totalitärer.[1] Ein Gerede, das sich jeweils im Wesentlichen an fünf oder sechs Exponaten festmacht, die man in der Regel nur über die Medien zur Kenntnis genommen hat, oder an der ideologisch-bornierten Haltung einiger der Veranstalter:innen und Kurator:innen. Das schließt die eigenen Texte, also das persönliche Gerede mit ein, insofern es sich eben auch mehr mit den öffentlichen Reaktionen als mit einzelnen Exponaten beschäftigt. Die notwendige Kritik an einzelnen Exponaten droht dazu zu führen, dass man den Blick auf das Ganze verliert. Das habe ich an anderer Stelle die schleichende Vergiftung der documenta genannt: „Wie eine Polonium-Injektion verändern diese wenigen Werke alles, was wir sehen, sie durchdringen und beschädigen es; ihr Gift wuchert. Noch die besten Werke sind aus dem Gleichgewicht gebracht, wenn ihnen wie ein Schatten der Antizionismus und Antisemitismus der anderen Werke folgt.“[2] Und dennoch ist dieses Gift nur ein Spurenelement im Vergleich zur Fülle der Kunstwerke und Kunstaktionen von 1500 beteiligten Künstlerinnen und Künstlern, die sich aus (fast) allen Teilen der Welt aufgemacht haben, ihre Artefakte, ihre Kunstauffassung, ihr Engagement nach Kassel zu bringen. Es ist einfach traurig, dass diese Künstler:innen kollektiv[3] haften müssen für das, was einige Wenige verbockt haben, die dieses Mal im Rahmen des Betriebssystems Kunst für die documenta verantwortlich zeichneten, ohne sich wirklich verantwortlich zu verhalten.[4]

Einer meiner akademischen Lehrer sagte einmal, die wahre Sünde im Paradies wäre nicht der Griff zur verbotenen Frucht gewesen, sondern die sich darin bekundende Nicht-Wahrnehmung dessen, was das Paradies ansonsten zu bieten hatte. Man blendet quasi alles aus, bis auf die Frau, die Frucht, die Schlange und das Böse. Aber so Schwarz-Weiß ist die Welt nicht, sie besteht im Wesentlichen aus Zwischentönen, sie ist divers.

Machen wir uns also auf den Weg, schauen wir, was uns die documenta-Stadt Kassel 2022 zu bieten hat, wo wir ins Nachdenken kommen, wo wir ins Stolpern geraten, wo uns etwas einsichtig wird, was wir bisher so nicht gesehen und erkannt haben. Aber benennen wir auch konkrete Punkte, die uns – wortwörtlich – nicht einsichtig sind, die uns nicht nur stören, sondern verstören. Verhalten wir uns einmal nicht als Symbolpolitiker, die an der Sache der Kunst wenig, an öffentlichkeitswirksamen Gesten und Verurteilungen aber umso mehr interessiert sind. Es ist ja auffällig, dass den Kritikern der documenta zur Kunst selbst wenig auf- und eingefallen ist, dass ihre Kritik sich nicht auf Kunstbewegungen und Kunststile, sondern auf Sujets und vor allen Dingen auf politische Haltungen fokussiert hat. First see and walk, then judge and talk!


Von den mehr als dreißig begehbaren Orten habe ich im Folgenden etwa die Hälfte ausgewählt, es sind (hoffentlich) die wichtigsten Orte dieser documenta:

ruruHaus - KAZimKuBAWH22KunigundisHübner-ArealSandershaus - Hallenbad-OstHafenstraßedocumentahalleOttoneumFridericianumStadtmuseumHessisches LandesmuseumGrimmwelt - Sepulkralmuseum


Ort 0 – ruruHaus

Ich starte mit dem ruruHaus, das ja schon vorab eine mythische Größe dieser documenta darstellte, vor allem weil es der erste Ort war, von dem feststand, dass er vom Kuratorenkollektiv Ruangrupa in Beschlag genommen werden würde.

Auf drei Ebenen kann man nun den Kern des Mythos Ruangrupa studieren. Und das erwies sich als durchaus lehrreich – aber anders, als es vermutlich das Kollektiv gedacht hatte.

Die mittlere Ebene, das Erdgeschoss, ist etwas hektisch (und kommerziell), geprägt vor allem durch die Buchhandlung Walter König, das Ekosistem, die Ticketverkäufe und das Café. Wenn das Überzeugungsarbeit für alternative Zugänge zum Kunstsystem und zur Ökonomie leisten soll, ist es misslungen. Die Buchhandlung Walter König ist so etwas wie die zentrale Konstante des Betriebssystems Kunst in Deutschland, nahezu in allen bedeutenden Museen vertreten und kaum alternativ zu nennen. Das viel beschworene alternative Ekosistem unterschied sich in nichts von den ökonomischen Strukturen des Westens, außer, dass vielleicht die Preise noch höher als üblich und einige wenige Produkte etwas exotischer waren. Überzeugend war dieses Ekosistem nicht.

Ekosistem ist der indonesische Begriff für Ecosystem, der in Anlehnung an den ökologischen Begriff des Ökosystems entwickelt wurde, aber nicht mit diesem gleichzusetzen ist. „Ekosistem“ oder „Ecosystem“ beschreibt kollaborative Netzwerkstrukturen, durch die Wissen, Ressourcen, Ideen und Programme geteilt und vernetzt werden.

Die obere Ebene des ruruHaus ordnet sich dem Schulsystem der documenta zu, vielleicht war ich zum falschen Zeitpunkt da, aber es geschah während meiner Besuche eigentlich wenig.

Die untere Etage versammelt einige regionale Kunstprojekte des Zentrums für Kunst und Urbanistik und dient offenbar auch für Veranstaltungen. Einmal gab es eine Art Catwalk, es saßen zumindest viele Menschen auf Stühlen entlang eines Laufweges, es lief Musik und einige junge Frauen gingen auf dem Laufweg am Publikum vorbei. Ob das aber eine Modenschau war oder etwas anderes, erschloss sich (mir) nicht. Ich hatte aber auch nicht auf den Veranstaltungskalender des ruruHauses geschaut.

Gezeigt wird unten das Projekt Beeholder – Beecoin: es

geht aus der Blockchain-basierten künstlerischen Praxis hervor – durch die Verbindung von künstlerischem Schaffen, urbanem Aktivismus, kryptoökonomischem Design und Bienenzucht. Als Dezentralisierte Autonome Organisation (DAO) ist Beecoin ein Kunstprojekt, das sich für die Verbesserung der Lebensbedingungen von Bienen einsetzt, die im Kasseler ruruHaus einquartiert werden. Mit dabei sind 15 Kasseler Imker*innen und Besucher*innen können sich beteiligen.[5]

Im ruruHaus finden übrigens auch die einzigen Veranstaltungen zum Ukraine-Krieg (mit Beteiligung ukrainischer Künstler) statt.


Ort 1 – KAZimKuBA - Der Kulturbahnhof

Beim ersten Besuch bin ich an diesem Ort glatt vorbeigegangen. Der flüchtige Blick auf die Örtlichkeit hatte mich dazu gebracht anzunehmen, hier gäbe es nur den documenta-Plan und das Begleitheftchen, aber dem war nicht so.

Also bin ich noch einmal wieder hingefahren und habe mir explizit die Werke von Jimmie Durham und seiner Kolleg:innen angeschaut. Als ich im letzten Jahr mit einer befreundeten Künstlerin darüber sprach, wen das Kuratorenteam Ruangrupa zur documenta einladen würde, konnte ich ihr berichten, dass zumindest Jimmie Durham auf der ersten Liste stand – und das war für uns damals eine beruhigende Information. (Da konnte man nicht wissen, dass es sich damit auch erschöpfen würde und andere bedeutende Künstlerinnen allenfalls durch Zuruf auf die documenta kamen.)

Die documenta informiert uns über das im KAZimKuBA ausstellende Kunst-Kollektiv:

Das Kollektiv Jimmie Durham & A Stick in the Forest by the Side of the Road entstand aus Jimmie Durhams Idee, eine Gruppe Künstler*innen zu einer Gemeinschaft on the road“ zu versammeln, um gemeinsam einen Beitrag zur documenta fifteen zu entwickeln. Da die Mitglieder des Kollektivs – Bev Koski, Elisa Strinna, Hamza Badran, Iain Chambers, Joen Vedel, Jone Kvie, Maria Thereza Alves und Wilma Lukatsch – nur lose befreundet sind, erwartete Durham von ihnen nicht, eine einzige gemeinsame Arbeit zu entwickeln. Stattdessen sollten sie Wissen, Empathie und Humor miteinander teilen. Am letzten Abend seines Lebens sagte Jimmie Durham: „Was für eine wunderbare Welt – ein Stock im Wald“. Die Lücke, die Jimmie Durham hinterlässt, wurde nach seinem Tod Teil des Arbeitsprozesses des Kollektivs.

Jimmie Durham starb Ende 2021 und so ist dieser Raum fast schon ein Gedächtnisraum geworden für den politischen Aktivisten und mehrfach mit wegweisenden Objekten auf verschiedenen documenta-Ausstellungen vertretenen Künstler.

Auf seinem Arbeitstisch hatte Jimmie Durham einen Schildkrötenschädel liegen, den er für die documenta fifteen in einer Skulptur verewigen wollte. Dieser sowie weitere Artefakte, die Durham sammelte, sind gemeinsam mit Arbeiten der acht Mitglieder des Kollektivs auf der documenta fifteen zu sehen.

Der Raum im Kasseler Kulturbahnhof ist sehr eindrücklich und ein guter Auftakt zur documenta.


Ort 2 – WH22

Das WH22 ist ein Ort, an dem Ambivalenzen bewusst ausgelebt werden sollen. Als ich erstmalig dort war, kurz nach 10 Uhr morgens, war noch nicht viel los und man stolperte ein wenig orientierungslos durch die Kellerräume und arbeitete sich nach und nach von unten nach oben durch. Dabei ist etwas zu beobachten, was (nicht nur) bei dieser documenta problematisch ist: die Flucht in platonische Höhlen (konkret: aus dem Licht ins Dunkel), die es nicht nur Sehbehinderten schwer macht, sich zu orientieren. Ob das baurechtlich ok ist? Ich habe da meine Zweifel. Beim Stand der heutigen Technik könnte man ohne großen Aufwand das Ganze menschenfreundlicher gestalten. Ich sage einmal rundheraus: diese documenta ist – egal, was sie vorher bekundet hat – ableistisch, sie ist ganz konkret behindertenfeindlich. Man kommt trotzdem irgendwie tastend und stolpernd durch die Räume, aber das ist ja nicht der Sinn der Sache.

Im Konglomerat der Räume im WH22 stößt man im Keller auf das BDSM-Studio, das aber tagsüber eher unter die Kategorie des kleinbürgerlichen Exotismus fällt, als dass es erkenntnisproduktiv wäre. Party Office b2b Fadescha, so informiert die documenta, organisiert eigene Club-abende und Konzerte mit DJs, die Räume für queere, trans*feministische Gemeinschaften ermöglichen sollen. Sehr schnell wurde das Programm freilich aufgegeben, weil die Beteiligten vor Ort queerphob angegangen wurden und sich in Kassel nicht mehr sicher fühlten. Diese Situation soll sich aber schon vor der Eröffnung der documenta abgezeichnet haben. Liest man zwischen den Zeilen in der Stellungnahme der Gruppe, dann gab es von Anfang an Probleme mit der Security vor Ort. Das ist dann aber ein Problem, das die Geschäftsführung der documenta unmittelbar lösen muss und nicht bloß als Vorwurf an die Allgemeinheit spiegeln kann.[6] Aber wie gesagt, vor Ort ist das nicht erfahrbar, man geht durch die Räume wie durch Säle in einem Völkerkundemuseum. Das ist aber auch ein Problem der Inszenierung, es ist schlichtweg nicht richtig durchdacht. Man kann queere Kultur nicht einfach ‚ausstellen‘, das wird ihr nicht gerecht.[7]

In den oberen Räumlichkeiten stößt man dann auf die Kunstwerke von „The Question of Funding“, ein, wie es im Text der documenta heißt, „Kollektiv Kulturschaffender aus Palästina“. Sie haben einen Galerieraum mit Kunst von palästinensischen Künstler:innen eingerichtet und arbeiten außerdem an der Entwicklung einer eigenen Währung. Nun ist das Wort „Kulturschaffende“ schon historisch problematisch, was es ausgerechnet in einem documenta-Text zu suchen hat, erschließt sich mir nicht. 1946 wurde das Wort sogar im berühmten „Wörterbuch des Unmenschen“ verzeichnet.[8] Das Wort hatte vor allem im Nationalsozialismus und in der Sowjetischen Besatzungszone bzw. in der späteren DDR seine Konjunktur. Vielleicht ist es ganz hilfreich, weil auch im kirchlichen Kontext immer wieder von „Kulturschaffenden“ geredet wird, hier einen kleinen Ausschnitt aus der Wikipedia zu zitieren:

In totalitären Systemen war die Verwendung des Begriffs verbunden mit der Festlegung politisch gesellschaftlicher Aufgaben der ‚Kulturschaffenden‘ zugunsten des jeweiligen Systems. So hieß es in der Begründung des Gesetzes über die Einrichtung der Reichskulturkammer im September 1937: „Die Aufgabe des Staates ist es, innerhalb der Kultur schädliche Kräfte zu bekämpfen und wertvolle zu fördern, und zwar nach dem Maßstab des Verantwortungs­bewusst­seins für die nationale Gemeinschaft. In diesem Sinne bleibt das Kulturschaffen frei. Wohl aber ist es [...] notwendig, die Schaffenden auf allen ihren Gebieten unter der Führung des Reiches zu einer einheitlichen Willensgestaltung zusammenzufassen.“

Vielleicht ist das Wort „Kulturschaffende“ im vorliegenden Fall auch zutreffender als man es hoffen möchte. Vor Ort stieß man nämlich auf die Artefakte von Mohammed al Hawajri, bei denen man durchaus vermuten könnte, er habe diese Kulturwerke im Auftrag des Hamas-Systems geschaffen. Sie ordnen sich jedenfalls gut in die Propaganda-Sparte ein.[9] Die Inszenierung vor Ort empfinde ich als lieblos bis beliebig, es geht offenbar nur darum, die Artefakte zu dokumentieren, sie vor denen Besucher:innen auszubreiten, nicht darum, sich mit ihnen sinnlich-reflexiv auseinanderzusetzen. Dabei wäre das unter den Fragestellungen, die wir seit Beginn der 2000er weltweit erörtern, überaus produktiv. Ein konkretes Stichwort, das die Kulturwelt aktuell beschäftigt, ist ja das der Cultural Appropriation, der kulturellen Aneignung. Darf man sich Charakteristika verfolgter Minderheiten einfach zu Nutze machen, sie zum Gegenstand der eigenen Werke machen? Ist es vielleicht dann erlaubt, wenn ich mich und mein Volk von diesen früher verfolgten Minderheiten aktuell selbst verfolgt fühle, ich mich mit Cultural Appropriation also nur wehre? Ein Teil der westlichen Kunstwelt ist sehr empfindlich geworden, wenn auf Kunstwerken ethnische bzw. religiöse Minderheiten und Unterdrückte dargestellt werden. Das wird merkwürdigerweise nur solange kritisiert, wie es sich nicht um Juden handelt. Dann scheint es legitim zu sein. Das ist ein klares Beispiel für Doppelstandards im postkolonialen Diskurs.

Im aktuellen Fall in Kassel missbraucht Mohammed al Hawajri die Werke eines verfolgten jüdischen Künstlers und eine Erzählung der jüdischen Überlieferung, um Propaganda gegen den jüdischen Staat zu machen. Ist das unter dem Aspekt der Cultural Appropriation in Ordnung – weil es sich ja um den angeblich repressiven jüdischen Staat handelt? Man wird ja noch mal fragen dürfen.

Vor Ort hat mich die Oberflächlichkeit der ausgestellten Arbeiten frustriert. Es ist Kopfkunst, ohne Konzeptkunst zu sein. Man schnappt sich im Internet Abbildungen bedeutender Kunstwerke der europäischen Kulturgeschichte, zerschnippelt sie mit Hilfe von Photoshop und schiebt Soldaten und Panzer der IDF ins Bild. Das ist selbst für Agit-Prop schwach. Schaut mal: der jüdische Staat bedroht die Werte der europäischen Kultur.[10]

In Wirklichkeit wird die europäische Kultur nicht durch den Israel-Palästina-Konflikt geschädigt, sondern dadurch, dass die Humanität, die sich in ihren Werken – wenn auch nicht durchgängig – inkorporiert hat, auf den Bildern durch den Künstler explizit ausgelöscht wird.

Dort, wo Eugene Delacroix die Opfer auf beiden Seiten sieht und auf seinem Gemälde auch darstellt, sieht der Künstler sie nur auf einer Seite (und bedeckt schamhaft die Brust der Freiheitsgöttin). Wo Jean-François Millet demonstrativ auf die Gastfreundlichkeit der jüdisch-israelischen Kultur gegenüber Nicht-Israelis verweist (Rut und Boas), radiert der Künstler die mit dieser Erzählung verbundenen biblischen Figuren aus und wechselt die Identität der anderen: die Juden auf dem Bild werden zu Palästinensern. Wo Marc Chagall die Liebe zu seiner Bella im russischen Heimatdorf in den schönsten Farben feiert, platziert der Künstler sie vor dem Grenzzaun zu den palästinensischen Autonomiegebieten, mit dem Marc Chagall aber auch gar nichts zu tun hat.  

Das kann man natürlich alles machen, aber in der vorliegenden Form es ist kaum Bildende Kunst, sondern schlicht Bild-Propaganda oder sagen wir besser: ziemlich platte Agit-Prop. Die documenta war ursprünglich einmal gegen den Agit-Prop angetreten, mehr als einem als Kulturwissenschaftler im Nachhinein vielleicht lieb ist.[11] Aber die documenta hatte ein gutes Gespür dafür, wo Form und Inhalt noch nicht aus den Fugen geraten waren, wo also zumindest die Kunstfrage noch gestellt wurde.

Das ist aktuell nicht mehr der Fall. Zwar wird für die ausgestellten Werke, nachdem sie kritisiert wurden, immer wieder die Kunstfreiheit reklamiert, weil man (unzutreffender Weise) meint, die Kunstfreiheit umschließe das Recht, andere Gruppen herabzusetzen, wenn dies nur fiktionalisiert geschieht. Das ist ein ziemlich peinlicher Begriff von Kunstfreiheit, der sich de facto mehr an Satire und Comedy als an der Geschichte der Bildenden Kunst der Neuzeit orientiert. Mit der gleichen Argumentation könnte man die Judensau an deutschen Kirchen oder mittelalterliche Ecclesia-und-Synagoga-Darstellungen unter die Kunstfreiheit stellen, weil sie hinreichend fiktionalisiert seien. So geht das aber nicht, wie das Bundesverfassungsgericht zuletzt unmissverständlich festgestellt hat.

Sehr schön und berührend ist der vietnamesische Garten vom Nhà Sàn Collective im hinteren Bereich des WH22 (ein Kollektiv, das sich mit seinen später noch vorzustellenden Arbeiten als einer der gut inszenierten Höhepunkte dieser documenta fifteen erweisen wird). Wenn man nur den Garten sähe, könnte man sich fragen, wo hier der konkrete Kunstcharakter liegt, im Ensemble mit den weiteren Arbeiten im Stadtraum und vor allem im Stadtmuseum wird eine wunderbare und sensible Kunst-Textur daraus.


Ort 3 – St. Kunigundis (Bettenhausen)

Auf zum nächsten Ort. Und der ist ebenfalls eine der Entdeckungen dieser documenta. Ich glaube, selbst vielen Kasseler:innen war dieser Ort nicht im Bewusstsein. Die Kirche gehört nicht zum alten Baubestand von Kassel (wie etwa die Alte Brüderkirche [um 1300] oder die Martinskirche [14./15. Jh.]), sondern wurde 1925-27 im Rahmen der Heimatschutzarchitektur in Kassel-Bettenhausen errichtet. Der Heimatschutzstil ist ein Baustil der Moderne, der Historismus und Jugendstil überwinden wollte. Die Kunigundis-Kirche litt in den letzten Jahren unter diversen Baumängeln und konnte nun mit finanziellen Mitteln der documenta so aufbereitet werden, dass sie im Rahmen der documenta fifteen als Ausstellungsraum genutzt werden kann. Dabei wurde die Kirche von der katholischen Kirche nie ent-weiht und somit auch nicht aufgegeben, sie ist weiterhin in Gebrauch.

Das macht ihren Einsatz im Rahmen der documenta fifteen so spannend. Anders als in den kirchlichen Begleitausstellungen treffen hier ja die säkulare Kunstinstitution documenta und der religiös genutzte Raum der katholischen Kirche aufeinander. Und es ist schon beeindruckend, wie gut das gelungen ist. Natürlich wird im Vorfeld eifrig kolportiert, dass hier eine haitianische Gruppe aktiv ist und schnell macht auch das Wort vom Voodoo-Kult die Runde. Atis Rezistans (Künstler*innen des Widerstands) ist ein sich stetig wandelndes Künstler*innenkollektiv aus der Mehrheitsbevölkerung Haitis. Es arbeitet im Viertel Grand Rue im Zentrum von Port-au-Prince, Haiti. Die Beiträge von Atis Rezistans zur documenta fifteen umfassen Multimedia-Skulpturen, Künstler*innenresidenzen, Performances, Filmvorführungen und Diskussionen. In der Kirche St. Kunigundis sind Arbeiten zu sehen, die vom britisch-malaysischen Architekten Vivian Chan in Zusammenarbeit mit André Eugène und Leah Gordon entworfen wurden.

Das Publikum vor Ort reagierte auf die gezeigten Objekte interessiert und wissbegierig. Natürlich schwingt da auch immer eine Form des Exotismus mit, aber das lässt sich bei einer Ausstellung, die die Kunst des „globalen Südens“ in den hohen Norden bringt, niemals ausschließen. So aber wurde dieser Ausstellungsort „multiperspektivisch‘ zu einer Entdeckung – die religiöse Rahmensetzung zu einer Herausforderung und zu einem Resonanzraum für die gezeigten Objekte.


Ort 4 – Das Hübner-Areal

Wenn man die Inszenierung, die Ruangrupa dem Hübner-Areal zukommen lässt, mit der vergleicht, die Okwui Enwezor seinerzeit der Bindung-Brauerei spendierte, dann kann man die aktuelle Inszenierung gut als kuratorischen Brutalismus bezeichnen, wenn Brutalismus bedeutet, die Dinge so zu belassen, wie sie sind, sie nicht zu glätten und zu verschönern, und darin eine ethische Maxime zu sehen. Strukturiert ist vor Ort jedenfalls wenig. Es erinnert ein wenig an die Alte Post bei der letzten documenta, ist aber noch willkürlicher und zufälliger. Es mag sein, dass das weitläufige Gelände des Hübner-Areals nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt der Pandemie gewählt wurde, aber auch dann hätte man der kuratorischen Inszenierung doch etwas mehr Aufmerksamkeit schenken können. Es muss nicht immer aussehen wie beim Schlussverkauf im Billigshop. Aber das scheint die verantwortliche Kuratorengruppe Ruangrupa nicht interessiert zu haben. Dabei gibt es hier Highlights zu entdecken, aber eben auch einer der schrecklichen Tiefpunkte dieser documenta.

Kommen wir gleich zu dem Highlight, das mir auf diesem Gelände aufgefallen ist. Es befindet sich im Untergeschoss des Hübner-Areals. Dort stoßen die Besucher:innen auf eine halbwegs verdunkelte Halle, an deren Wänden diverse Objekte betrachtet werden können (so sie denn geöffnet ist, ab und an war die untere Halle auch mangels Aufsichtspersonal geschlossen). Nahezu beiläufig geht man dabei an mehreren abgegrenzten Erdflächen vorbei, die vielleicht Kontinente darstellen könnten, ansonsten scheinen sie nur wüst und leer zu sein. Dann aber merkt man, dass sie Resonanzkörper sind, dass sie sich bewegen können.

Amol K Patil ist ein Konzept- und Performancekünstler, dessen Arbeiten in einem fortwährenden Prozess die pulsierenden und vibrierenden Klänge und Bewegungen der sogenannten Chawls freilegen, untersuchen und einfangen. Chawls sind fünfstöckige Häuser, die im frühen 20. Jahrhundert in Bombay, dem heutigen Mumbai, als Sozialwohnungen für Mühlen- und Fabrikarbeiter*innen gebaut wurden. Amol, ursprünglich bildender Künstler, arbeitet heute vor allem an der Schnittstelle zwischen Performancekunst, kinetischen Werken und Videoinstallationen.

Gerade, weil es so viel Aufmerksamkeit erfordert und seine Botschaft nicht so laut herausschreit wie viele andere Werke auf dieser documenta, erscheint mir dieses Ensemble so außerordentlich gelungen.

Der angesprochene Tiefpunkt im Hübnerareal sind die Arbeiten der Gruppe Subversive Film. Man kann ja mal überlegen, was Subversion hier überhaupt bedeuten soll. Zur Gruppe heißt es:

Subversive Film widmet sich der Filmforschung und -produktion. Sein Anliegen ist die Wiederentdeckung und Restaurierung von Filmen mit Bezug zur Region Palästina sowie die Erforschung archivarischer Praxen. In Langzeitprojekten legt das Kollektiv bisher unbeachtete Filme digital neu auf, kuratiert Screenings selten gezeigter Arbeiten, untertitelt wiederentdeckte Filme, erstellt Publikationen und wird durch vielfältige Interventionen aktiv. Das Kollektiv wurde 2011 gegründet und ist in Ramallah und Brüssel ansässig.

Man ahnt irgendwie schon, dass das eigentlich nur schiefgehen kann. Das Beschreibung dient ja mehr der Verdeckung dessen, was vor Ort geschieht, als der Erschließung für die Besucher:innen. Was wir sehen, sind schlicht Propaganda-Filme für den bewaffneten Kampf gegen Israel. Es geht, wie es bei der documenta etwas nebulös heißt, um

„die weitestgehend übersehenen und nicht dokumentierten „antiimperialistischen Solidaritätsbeziehungen“ zwischen Japan und Palästina. Nach einem Treffen mit Masao Adachi, dem gefeierten Regisseur experimenteller Agit-Prop-Filme und ehemaligen Mitglied der japanischen Roten Armee, wurde Subversive Film eine Sammlung von 16-mm-Filmen und U-matic-Videokassetten anvertraut.

Wenn man das so formuliert, macht man sich zum Komplizen von Terroristen. Denn darum geht es – die documenta ist 2022 zur Plattform für einen früheren Terroristen geworden, der zumindest 1971 das Ziel hatte, den Staat Israel auszulöschen.[12] Was sind denn die „antiimperialistische Solidaritätsbeziehungen zwischen Japan und Palästina“? Es geht um eine japanische Terrorgruppe, die einen Massenmord in Israel veranstaltet hat[13] und dies filmisch legitimiert. Das ist schockierend, entsetzlicher als das, was auf den Wimmelbildern zu sehen ist. Wir wohnen der „Dokumentation“ von historischen Filmen bei, deren agitatorisches Ziel die Vernichtung der Juden in Israel war und ist. Es ist unbestritten, dass der Filmemacher Mitglied der terroristischen japanischen Roten Armee war und dabei die in Kassel gezeigten Filme erstellt bzw. gesammelt hat. Man stelle sich einmal vor, dasselbe liefe mit Filmen der Wehrsportgruppe Hoffmann oder der RAF, die ja auch mit der PLO oder der PFLP (Volksfront zur Befreiung Palästinas) zusammengearbeitet haben. So aber scheint es manchen legitim, im Kampf gegen Zionismus und Imperialismus unkommentiert Filme zu zeigen, die zum bewaffneten Kampf aufrufen. Denn die Zettel, die in Kassel im verdunkelten Raum an der Wand hängen, nimmt niemand zur Kenntnis, dominant ist das visuelle Argument des Films.

Das Ganze funktioniert nur, weil niemand genau hinschaut und die gezeigten Videos analysiert und kommentiert. Es geht dort keinesfalls um Diskurs und Dokumentation, sondern um Gewalt – das wird im gezeigten Material explizit hervorgehoben: We refuse to express revolution in harmless chattters. Als einzige Kulturträger bleiben im revolutionären Kampf nur das Absingen der Internationale und die Lektüre der Mao-Bibel und ansonsten die Fetischisierung von Waffen und Gewalt. Der Film entfaltet Adachis Theorie der Landschaft im revolutionären Film. So heißt es: „Before us is a landscape that armed struggle is to stand by as the landscape of the world. We can learn from the oppressed Palestinians that to stand by is to innovate the immediately usable weapon and to stand by with the arms.”

Dieser Kampf um die Landschaft, so behauptet der in Kassel gezeigte Propagandafilm, begann vor 2000 Jahren, als die Palästinenser sich mit einer Reihe aufeinander folgender Invasionen von Hebräern, Römern, Kreuzfahrern und am Ende der modernen Zionisten konfrontiert sahen. Ein Geschichtsmythos, der mit der Wirklichkeit wenig zu tun hat, denn die Philister sind keinesfalls die Vorfahren der Palästinenser[14], auch wenn diese das gerne behaupten.

Historisch ist dies jedoch fragwürdig. Die Philister waren schon Jahrhunderte vor der römischen Eroberung in der kanaanäischen Bevölkerung aufgegangen. Die Bevölkerung Palästinas bestand bereits vor dem Jüdischen Krieg und der Zerstörung Jerusalems neben den Juden aus verschiedenen anderen Völkerschaften (z. B. Idumäer), die durch die gemeinsame aramäische Sprache und die Zugehörigkeit zum Römischen Reich allmählich ihre Eigenart verloren und miteinander verschmolzen. Die Palästinenser sind Nachkommen der byzantinischen Provinzbevölkerung, die nach der arabischen Eroberung allmählich islamisiert wurde, und der zugewanderten Araber. Andere, insbesondere aus der osmanischen Zeit stammende Einflüsse sind ebenfalls zu berücksichtigen.[15]

In den auf der documenta gezeigten Filmen spielt all das keine Rolle, es geht um den großen grenzenlosen bewaffneten, kommunistischen Kampf für eine (von Israel) ‚befreite Welt‘. Insofern gibt es auch eine Schnittstelle zu den Bildern von Taring Padi, die sich ebenfalls dem kommunistischen Kampf zuordnen. Im Kern geht es – wie es im Film explizit heißt – um einen antiimperialistischen, antizionistischen, antiamerikanischen Dritten Weltkrieg. Es ist diese Kontinuität zwischen den auf der documenta inkriminierten Bildern, die nachdenklich werden lässt. Es gibt eben nicht nur die Kriegs-Filme von Adachi, losgelöst von den Wimmel-Bildern von Taring Padi und diese wiederum losgelöst von den Photoshop-Montagen von Mohammed al Hawajri. Vielmehr hängt all dies programmatisch und ideologisch zusammen und sollte deshalb auch nicht losgelöst voneinander betrachtet werden. Nur wer die Beiträge auseinanderreißt, kann das eine abhängen und das andere als durch Kunstfreiheit gedeckte Meinungsäußerung hängen lassen.


Ort 5 – Sandershaus


Paul Broeker, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons

Ich zitiere einmal an dieser Stelle ausführlich die documenta-Informationen zum Ort:

Vor der industriellen Kulisse der leerstehenden Haferkakaofabrik und großer brachliegender Flächen im Stadtteil Bettenhausen eröffnete mit dem Sandershaus 2017 das erste Hostel der Stadt. Doch das Sandershaus ist mehr als das: Es ist ein Ort für Kultur, für nachhaltige Handwerkskunst wie Repair-Cafés und die Upcycling-Bewegung. Seine Gastfreundschaft zeigt das Team, indem es neben Bar, Restaurant und Hostel auch die Unterkunft Amal für geflüchtete Menschen betreibt.

In Zusammenarbeit mit ZukunftsDorf22, einem Zusammenschluss Kasseler Initiativen, haben Serigrafistas queer in dem an die Haferkakaofabrik angrenzenden Außenbereich einen Versammlungsort eingerichtet, den sie als Archiv vergangener Aktivitäten nutzen: In Argentinien fertigen sie Drucke für LGBTTTIQ+ Pride-Paraden und feministische Proteste. Ebenfalls präsent im und am Sandershaus sind Sa Sa Art Projects and Trampoline House, die hier an ihre Arbeit mit Geflüchteten anknüpfen.

Ehrlich gesagt nutze ich diesen Ort – seit meinem ersten Besuch dort – vor allem zum Abhängen, zum Entspannen und Relaxen nach all den Kunst-Erfahrungen und Kunst-Verstörungen bei den verschiedenen documenta-Orten zuvor.

Und dieses Abhängen und Relaxen gelingt gut im Restaurant und an der Bar des Sandershauses, so dass ich allen, die die documenta besuchen, nur empfehlen kann, hier einen Zwischenstopp einzulegen.


Ort 6 – Das Hallenbad Ost

Das Hallenbad Ost ist den Bildern von Taring Padi gewidmet, die im Kontext dieser documenta eine besondere Rolle spielen. Schon vor dem Gebäude wird man von diversen Stelen mit karikaturenhaften Figuren empfangen, die sich schnell dem Protest gegen das kapitalistische System zuordnen lassen. Inwiefern diese Figuren tatsächlich aus den traditionellen indonesischen Schattenfiguren entwickelt wurden, müsste detailliert untersucht werden. Es lohnt sich durchaus, sich auf die Geschichte der Bilder einzulassen – zumindest unter ethnologischen Gesichtspunkten.[16]

Im Inneren des Gebäudes stößt man dann auf mehrere Wimmelbilder der Gruppe. Man muss das Genre der Wimmelbilder schon lieben, um sich mit diesem Ausstellungsareal und den dort gezeigten Bildern anfreunden zu können. Vielleicht kann man sie als exotisches Hautgout für documenta-Besucher:innen begreifen. Wenn man allerdings den Garten der Lüste von Hieronymus Bosch als historisches Wimmelbild ansieht, dann kann man etwas damit anfangen, aber Boschs Bild ist sehr sorgfältig strukturiert und lässt sich in eine narrative Struktur überführen.

Das ist bei den Wimmelbildern von Taring Padi nur bedingt der Fall.[17] Da die Bilder Kollektivarbeiten sind, erreichen sie nicht die Stimmigkeit, die ihre historischen Vorgänger auszeichnet. Dennoch ist der Rekurs auf die vormoderne, christliche Kunstgeschichte, den einige der Kritiker und Journalisten vollzogen haben, hilfreich.[18] Wir haben es mit einer nicht-autonomen, funktionalen und in ein bestimmtes Weltbild eingebetteten Bilderwelt zu tun, die bestimmte politische oder religiöse Überzeugungen und Haltungen transportieren und den Betrachter:innen vermitteln sollen.

Und in derselben Schärfe und Präzision, mit der wir mittelalterliche christliche Bildkonstruktionen analysieren, müssen wir dann aber auch mit diesen Bildern umgehen. So wie wir heute Herrad von Landbergs antijudaistische „Ecclesia-und-Synagoga-Gegenüberstellung“ aus dem Hortus Deliciarum in ihrem antijüdischen Gehalt analysieren und kritisieren, müssen wir das gegebenenfalls auch im Blick auf die documenta-Kunstwerke tun.

Im Unterschied zur christlichen Ikonographie sind bei Taring Padi die Seiten von Gut und Böse vertauscht: Auf der linken Seite finden wir – dargestellt u.a. als Schweine und Drachen - die bösen Weltenunterdrücker, die Oligarchen, die Kapitalisten, die Militärs im Höllenfeuer. Auf der rechten Seite die Armen und Unterdrückten der Welt, die auf ihre Auferstehung als Neue Menschen warten. Es ist ein säkularisiertes Weltgericht, man könnte auch sagen: ein Volksgericht. Das Wimmelbild von Taring Padi ist dualistisch aufgebaut, vergleichbar mit christlichen Weltgerichtsdarstellungen des Mittelalters, wie wir sie zum Beispiel auf dem Jüngsten Gericht von Giotto in Padua finden, vergleichbar aber auch mit den lutherischen Gegenüberstelllungen von Gesetz und Evangelium auf den gleichnamigen Bildern von Lukas Cranach.[19] Aber auch zu letzteren haben wir inzwischen eine distanzierte Haltung. An diesem Ort offenbarte sich die documenta als Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und doch das Böse schafft.


Ort 7 – Hafenstraße 76

Das Areal der Hafenstraße 76 liegt in der Nähe der alten Binding-Brauerei, die Okwui Enwezor auf seiner documenta 11 erschlossen und genutzt hatte. Genutzt wird im Hafengelände ein dreistöckiges Gebäude, das nun von mehreren Künstler:innen bzw. Gruppen bespielt wird. Ich war fast alleine, als ich das Gebäude zum ersten Mal besucht habe. Die Aufsichtführenden waren erkennbar gelangweilt. Aber so konnten die einzelnen Räume umso fokussierter aufgesucht werden.

Es mag etwas arg herablassend wirken, aber hier vor Ort hatte ich den Eindruck, wie wichtig und weiterführend es doch ist, wenn die diversen internationalen künstlerischen Kollektive und Gruppen auch den deutschen Kunstbetrieb und dessen Funktionsweise kennenlernen. Im unteren Stockwerk gibt es den Gemeinschaftsraum von *foundationClass*collective. Gegründet 2016 an der Berliner Kunsthochschule Weißensee und Teil der dortigen Abteilung Foundation Year unterstützt die Gruppe Migrant*innen bei ihren Studienbewerbungen. Dadurch gibt es aber auch gute Rückkopplungseffekte, man merkt, dass die beteiligten Künstler:innen und Künstlergruppen wissen, auf welches Publikum sie in Deutschland stoßen.

Nino (Paula) Bullings von der Decke hängende Zeichnungen erzählen die Geschichte der Beziehung von zwei Transpersonen, eine ausdrucksstarke Arbeit, die aber von ihrer Anlage und Durchführung her eine Ausnahme auf der documenta bildet, wo der nackte Körper eher verdeckt als gezeigt wird.

Die Künstlerin, Filmemacherin und Forscherin Marwa Arsanios, auf die wir als nächstes stoßen, betrachtet, so schreibt die documenta,

in ihrer künstlerischen Praxis die um die Mitte des 20. Jahrhunderts vorherrschende Politik unter heutigen Gesichtspunkten, wobei sie besonderes Augenmerk auf Geschlechterbeziehungen, räumliche Praktiken und Kämpfe um Landbesitz legt. Auf der documenta fifteen zeigt sie den jüngsten Teil ihrer seit 2017 fortlaufenden Filmserie Who is Afraid of Ideology ... Der Film, den sie in Kassel zeigt, spielt in einem Steinbruch in den Bergen des Nordlibanon. Er ist der Beginn einer viel längeren Arbeit, die darauf abzielt, den Grundstein für eine andere Zukunft zu legen. Arsanios’ Hauptziele bei diesem Vorhaben sind die Vergemeinschaftung eines privaten Steinbruchs in den Bergen mithilfe einer landwirtschaftlichen Genossenschaft, die Erarbeitung von Lösungen zur Verbesserung der Bodenqualität und die Einbeziehung der örtlichen Gemeinschaft in den Prozess.

Das erinnert an Irena Haiduks Aktivitäten auf der documenta 14 und ist hoffentlich genauso erfolgreich und öffentlichkeitswirksam. Auf jeden Fall haben wir hier eine starke feministische Arbeit vor uns.

Das zweite Obergeschoss wird geradezu dominiert von einem Foto-Roman des Berliner Kollektivs Fehras Publishing Practices. Ich habe bei meinen bisher drei Besuchen des Areals ganz unterschiedliche Erfahrungen mit dem Projekt gemacht. Beim ersten Mal fühlte ich mich spontan an Fotolovestorys der BRAVO erinnert, weniger, was das Explizite angeht, als vielmehr von der Machart her. Das schien mir im Rahmen des Betriebssystems Kunst merkwürdig zu sein. Aber genau damit kann man auch spielen, Ambivalenzen ausreizen und so Erkenntnisprozesse in Gang setzen.

Beim zweiten Besuch habe ich mich stärker mit dem queeren Charakter des Projekts auseinandergesetzt, mit seinem Sujet, dem (alternativen) Verlagswesen im globalen Süden.

Und vor dem dritten Besuch habe ich mich dann mit den von der documenta bereitgestellten Informationen zum Projekt beschäftigt:

Fehras Publishing Practices wurde 2015 von Sami Rustom, Omar Nicolas und Kenan Darwich in Berlin gegründet. Das Künstlerkollektiv erforscht Geschichte und Gegenwart des Verlagswesens und dessen gesellschaftspolitische und kulturelle Verflechtungen im östlichen Mittelmeerraum, Nordafrika und der arabischen Diaspora. … Die Arbeit Borrowed Faces (2019 – heute) beleuchtet kulturelle Praktiken aus der Epoche des Kalten Krieges. Die erste Ausgabe von Borrowed Faces, die 2019 erschien, problematisierte das US-amerikanische Bildungsprogramm Franklin Book Program und den sowjetischen Buchmarkt. Die zweite Ausgabe, die von der documenta fifteen in Auftrag gegeben wurde, konzentriert sich auf die afro-asiatische Solidaritätsbewegung und ihre Publikations­praktiken. Sie berücksichtigt auch das Gegenprojekt, den von der amerikanischen CIA finanzierten Congress for Cultural Freedom, und dessen Eingriffe in kulturelle Produktion. Die zwischen Beirut, Kairo, Bandung, Rom, Paris, New York und Moskau gesponnene Erzählung wird von einer feministischen Diskussion über die Rolle intellektueller Frauen in den 1960er Jahren bestimmt.

Das klingt überaus spannend, zumal die Leser:innen ja gleich mit entsprechenden Rahmensetzungen getriggert werden: von der CIA finanziert – Eingriffe in die kulturelle Produktion. Wie bei vielen Texten des documenta-Booklets wird auch hier nur die halbe Geschichte erzählt. Tatsächlich ordnet sich der Congress for Cultural Freedom in die Geschichte des Kalten Krieges ein. Er ist sozusagen der Vertreter der anti-totalitären „Westkunst“. Verbunden mit diesem Programm, und das wird eben nicht deutlich, sind Namen linksliberaler Intellektueller wie Benedetto Croce, T.S. Eliot, André Malraux, Bertrand Russell, André Gide, Arthur Koestler, Raymond Aron, Carlo Schmid, Heinrich Böll, Siegfried Lenz, aber auch die Kunst des Informell und des abstrakten Expressionismus. Einer der frühen Schriften trug übrigens den Titel „Wider den Antisemitismus“ und dokumentierte Redebeiträge von Theodor Heuss, Willy Brandt und Stefan Andres.[20] Und schon eröffnet sich eine ganz andere Perspektive, die gerade auch auf die aktuelle documenta ein neues Licht wirft. Wie ist das mit dem Sowjetkommunismus und dem Antisemitismus?


Ort 8 – documentahalle

Es geht weiter zur documenta-Halle. Auf allgemeine Zustimmung sowohl beim Publikum wie auch beim Feuilleton stieß der Vorbau zur documenta-Halle im Wellblechhüttenstil. Ich fand das persönlich ganz und gar nicht gelungen – auch wenn es durchaus ein in sich stimmiges Kunstwerk war. Das Werk stammt von Wajika Kwetu, ist einer Slumhütte in Kenia nachempfunden und könnte, wie die WELT meldet, bald im Skulpturenpark eines Kunstsammlers stehen: „When They Come to Our Place“ kostet 60.000 Euro.[21]

Merkwürdigerweise empfand ich aber gerade den Gestus des Vorbaus vor ein bedeutendes postmodern-konstruktivistisches Gebäude aus der Geschichte der documenta (es wurde für Jan Hoets documenta 1992 geschaffen) als paternalistisch. Dieser Gestus ist weder sachlich erzwungen, noch irgendwie begründet. Es entwickelt seine Logik aus der Opposition zu der als westlich empfundenen Architektur der Post-Moderne.

Mir ist das zu viel Kirchentags-Ästhetik, pädagogisch aufgeladen mit erhobenem Zeigefinger. Als Einstimmung ist es eher Erlebnispädagogik als formales Argument. Aber meine Begleiter:innen und das Feuilleton sahen das anders. Sie fühlten sich abgeholt, hatten vermutlich aber auch nicht eine derartige Emphase für die documenta-Halle und ihre diversen Bespielungen entwickelt wie der Verfasser dieses Textes.

Im Inneren der Wellblechinszenierung stieß man dann auf mehrere, ausgesprochen starke Arbeiten aus dem Wajukuu Art Project. Das Wajukuu Art Project ist eine gemeinschaftliche Organisation aus Lunga-Lunga, einem Teil des kenianischen Mukuru-Slums. Die documenta schreibt dazu:

Mit Hilfe von Kunstunterricht empowert Wajukuu Kinder und Jugendliche, alltägliche Herausforderungen zu bewältigen und sich gegen widerfahrenes Unrecht zu stellen. Eine öffentliche Bibliothek, die erste Mukurus, bietet Schüler*innen und Erwachsenen einen Safe Space zum Lernen. Filmvorführungen und Wandmalerei sprechen verschiedenste Themen an, unter anderem Konfliktlösung, Verbrechensprävention, kulturelle Praxis, Gleichberechtigung, Gesundheit, Teenagerschwangerschaft und verantwortungsvolles Handeln.

Und die gezeigten Arbeiten gehören sicher zu den ausdrucksstarken Arbeiten dieser Documenta und man kann nur hoffen, dass sie in großen Kunstsammlungen ihre Heimat finden. Vielleicht ist dieses Projekt das überzeugendste Argument für das, was die documenta fifteen und ihre Kuratorengruppe uns nahebringen will. Es zeigt uns, was Kunst leisten kann, wenn wir sie als Empowerment, als Neu-Kartierung der Wirklichkeiten begreifen.

Das nächste Perojekt in der documenta-Halle ist das Instituto de Artivismo Hannah Arendt. Dazu schreibt die Documenta:

Das Instituto de Artivismo Hannah Arendt entstand aus einer Kunstaktion in Havanna. Im Mai 2015 veranstaltete die Künstlerin und Aktivistin Tania Bruguera eine kollektive Lesung aus Arendts Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft (1951). 100 Stunden lang lasen und diskutierten die Teilnehmer*innen Arendts wegweisende Studie über totalitäre Systeme, die in Kuba bis heute von größter Bedeutung ist.

Tanja Bruguera gehört neben Jimmie Durham und Hito Steyerl zu den drei Top-Künstler:innen der documenta fifteen auf dem internationalen Kunstmarkt. Richtig überzeugt haben mich die ausgestellten Werke nicht, aber vielleicht hätte ich mich auch mehr mit dem Kontext beschäftigen müssen.

Und schließlich finden wir in und vor der documenta-Halle noch die Arbeiten des Britto Arts Trust. Hierzu informiert die documenta:

Britto Arts Trust ist ein 2002 gegründetes gemeinnütziges Künstler*innenkollektiv, das von Dhaka aus an verschiedenen Orten im Land arbeitet. Als Teil des Triangle Network, ein internationales Netzwerk von Künstler*innen und Organisationen, hat das Kollektiv eine globale Reichweite. Britto widmet sich in seiner künstlerischen Praxis dem sozio-politischen Umbruch in Bangladesch. Auf der Suche nach verlorener Geschichte, Kulturen und Gemeinschaften erforscht und sammelt das Kollektiv gemeinsam mit verschiedenen Partner*innen vielfältige Quellen.

Von den diversen Aktivitäten des Kollektivs (Gemüsegarten, Halfpipe, Wandbild, Videioinstallation) haben mir vor allem die petrifizierten Lebensmittel gefallen, die vor Augen führen, wie der Neoliberalismus alles und nicht nur die Kultur mit Ähnlichkeit schlägt und so unter der Hand selbst Paprika und Auberginen zu Handgranaten werden.[22]


Ort 9 – Ottoneum

In den ersten Tagen der documenta fifteen besuchte ich mit einem Kollegen und Freund die Ausstellung und wir wanderten von Ausstellungsort zu Ausstellungsort, um die Potentiale der ausgestellten Kunstwerke zu erkunden. Wir bereiteten dabei den Besuch der documenta mit Studierenden diverser Universitäten vor und wollten ihnen Hinweise geben können, was sich anzusehen lohnt, was der Auseinandersetzung wert ist und wovon man sich herausfordern lassen könnte. Natürlich müssen die Studierenden ihr Urteil letztlich selbst fällen, aber zumindest wollten wir ihnen sagen können, was sie auf jeden Fall gesehen haben müssten. Ich habe es mir seit Jahren zur Angewohnheit gemacht, beim Besuch von Überblicksausstellungen nicht auf die kleinen Zettel zu schauen, die uns Name, Titel und Urheber:innen der Kunstwerke verraten, sondern lasse die Arbeiten zunächst auf mich einwirken, gehe den sinnlichen Spuren nach, die die Künstler:innen in ihren Werken ausgelegt haben und versuche sie zu reflektieren. Erst wenn ich gar nicht weiter weiß (und dennoch sinnlich affiziert bin) konsultiere ich die schriftlichen Informationen zum Werk. Aber ich halte daran fest, dass trotz aller Komplexität der Zweiten Moderne die Werke aus sich heraus sprechen sollten und nicht Illustrationen ihrer Bildtitel sind.

Und während wir so durch die documenta fifteen wanderten betraten wir auch das Ottoneum, nicht durch den Haupteingang, sondern vom Garten aus. Dort stießen wir zunächst auf das Modell einer offenkundig orthodoxen Kirche, deren Dach abgedeckt war – etwas, was mich als Theologe fasziniert. Die Unbehaustheit des Ortes und Gebäudes. Auch die Objekte im Raum wiesen eine Vielzahl von intertextuellen Bezügen auf (wenn man intertextuell im weitesten Sinn versteht), so etwa auf das Werk von Edward Hicks.

Dann betraten wir einen verdunkelten Videoraum – auch wenn ich das aufgrund meiner Sehbehinderung nicht so gerne mache, mein Auge braucht zu lange, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen und ich fürchte immer, mich an etwas zu stoßen. Aber bei der Kunst geht es ja darum, Anstoß zu erregen, Erfahrungen auszulösen, Denkprozesse anzuregen. Man kommt also nicht darum, sich auch den dunklen platonischen Höhlen der Videokunst auszusetzen. Und im konkreten Falle erwies sich das als außerordentlich gewinnbringend.

Wir betraten den Raum, an dessen Wänden Bilder steinzeitlicher Höhlenmalereien (Lascaux?) flimmerten, eine Erinnerung daran, dass das kulturelle Schaffen der Menschheit nicht mit den großen Erzählungen und Texten, sondern mit den Bildern an den Wänden der Höhlen von Chauvet, Altamira oder Lascaux begann. Der Einsatz der Kunst oder sagen wir allgemeiner: der Bilder in der Steinzeit ist der Ausgangspunkt der Geschichte der sinnlichen Reflexion, die sich nun über beinahe 50.000 Jahre erstreckt und mit dieser documenta fiftenn noch lange nicht an ihr Ende gekommen ist.

Kontrastiert wurden diese flimmernden Videoprojektionen der Höhlenmalereien von diversen Glaskugeln, in denen sich Pflanzen, Käsestücke und den sich in deren Verfallsprozess ergebenden Schimmelkulturen beobachten ließen. Es handelt sich um die fiktive Währung des Cheesecoins, die Informationen über Geruch übermitteln sollen. Das ist wunderbar ironisch und konterkariert alle NFT-Mythen, die auch im Kunstraum wuchern. Ein anderer Raum erzählt uns die Geschichte des virtuellen Schafhirten Nel, der die Überlegenheit ländlichen Wissens gegenüber biologistisch argumentierenden Wirtschaftsideologien vor Augen führen soll.

Was für eine visuelle und intellektuelle Herausforderung. Wie das eine mit dem anderen in Verbindung bringen? Im Vorteil ist natürlich, wer sich den Text an der Wand vor der platonischen Höhle durchgelesen hatte, aber er wäre dann um jeden Erkenntnisprozess gebracht worden, das Denken wäre ihm erspart worden.

Mitte Juli 2022 erklärte Hito Steyerl, dass sie mit ihrer Arbeit nicht mehr an der documenta fifteen beteiligt sein wolle und sie daher aus der Ausstellung zurückziehe. Sie begründet das zum einen mit den prekären Beschäftigungsbedingungen auf der documenta, zum anderen und vor allem aber mit der nicht vollzogenen Auseinandersetzung mit dem Thema Antisemitismus. Das ist nur konsequent und stellt eine große künstlerische Geste dar. Denn Hito Steyerl ist eine der wenigen Künstler:innen auf der documenta, die sich öffentlich und vor allem öffentlichkeitswirksam mit dem entstandenen Konflikt auseinandersetzt. Und sie ist, das scheint mir wichtig, ja gerade dafür bekannt, sich intensiv mit Fragestellungen des Postkolonialismus auseinanderzusetzen, nähert sich der Fragestellung also nicht von außen her.

Was soll man jetzt – danach, also nach der Entfernung des Kunstwerks von Hito Steyerl – zu diesem Ort sagen? Zunächst einmal ist es eine Wunde im Körper der Ausstellung. Das ist vielleicht nicht das Schlechteste. Es kann ja nicht um vorschnelle Antworten gehen, sondern es muss ein Bewusstsein dafür entstehen, dass offen um Fragen von Postkolonialismus, Antisemitismus und Kunst gerungen werden muss. So gesehen ist es nun nicht nur ein Leerraum, sondern auch ein Lehrraum.


Ort 10 – Fridericianum

Etwas unstrukturiert und unübersichtlich wirkt dieses Mal das Fridericianum. Von der Großzügigkeit des Gebäudes, von der die documenta in früheren Ausstellungen reichlich Gebrauch machte (200720122017), ist wenig zu verspüren. Was waren das noch für Zeiten als Ryan Gander das stille, sanfte Sausen Gottes in den unteren Räumen erfahrbar werden ließ,[23] heute läuft man in Gefahr, auf Kleinkinder zu treten, denn Ruangrupa hat dort eine Krabbelgruppe eingerichtet (Kinder unterrichten Kinder). Scherz beiseite, schon bei der letzten documenta wusste der Macher mit dem Raum weniger anzufangen und das setzt sich nun fort. Das heißt nicht, dass man nicht auf Interessantes stoßen würde, nur ergibt sich dies nicht organisch aus einem kuratorischen Prinzip.

Auch im Fridericianum dominieren die Diskursorte, die zumindest potentiell für Gespräche genutzt werden können. Aber nach meinem subjektiven Eindruck wurde dieses Angebot in den ersten 14 Tagen noch genutzt, um dann immer mehr zu verwaisen und schließlich sogar dem Prinzip der geschlossenen Räume (No entry) zu weichen. Das hat sicher auch etwas mit der kalten Reaktion des deutschen Feuilletons und der deutschen Politik zu tun, ist aber vielleicht auch in der Sache selbst begründet: man fährt nicht von weither nach Kassel zu documenta, um einfach mal abzuhängen.

Als Besucher muss man sich auf die Suche nach den Beiträgen begeben, die einen interessieren, die neue Aspekte für die eigene Kunst-Erfahrung bringen. Nicht unbedingt interessant fand ich die moralisch aufgeladenen, belehrenden Diskurse über die europäischen Nutzungen von stereotypen Darstellungen. Nicht, weil ich den Diskurs darüber falsch finde, sondern weil mir das Kunsthafte daran überhaupt nicht einleuchtete. Es war ein durch und durch ethischer Diskurs. Und es wäre doch gerade die Herausforderung gewesen, hier einen ästhetischen Diskurs zu führen. Da hätte man wirklich etwas lernen können. Was unterscheidet die Wellblechhütten der Sammeldosen der deutschen Mission von der Wellblechhütte vor der documenta-Halle? Das wäre eine aufregende Diskussion gewesen. So aber triumphiert die ethische über die ästhetische Fragestellung.

Überaus interessant und erkenntnisreich fanden meine Studierenden und ich die Filme, die die Rojava-Film-Kommune im zweiten Stockwerk des Fridericianums präsentiert, denn sie knüpfen vielleicht nicht zufällig an die Programmatik der letzten documenta mit ihren „Idiomen des Widerstands“ an.[24] Vor Ort kuratierte das Kollektiv ein Filmprogramm aus älteren und neu produzierten Filmen der Kommune sowie Werken aus der kurdischen Filmgeschichte. Dabei ging es nicht zuletzt darum, Frauen sowie ethnischen und religiösen Minderheiten eine Stimme zu geben.

Exkurs: Das entmündigte Subjekt

Während ich dies schreibe, wird am 27. Juli 2022 ein weiteres Objekt der documenta fifteen als antisemitisch skandalisiert. Es ist eine Broschüre, die sich im Fridericianum befindet und dort von der Initiative Archives des luttes des femmes en Algérie (Archive der Frauenkämpfe in Algerien) dokumentiert worden ist. Ich schreibe ‚skandalisiert‘, weil es offenbar nicht um die Auseinandersetzung mit dem historischen Bildmaterial geht, sondern um die Fortsetzung der Dekonstruktion der documenta im Sinne einer Medien­strategie. Innerhalb kürzester Zeit hat ein fast schon Medienbündnis zu nennendes Pressekonglomerat erneut Vorwürfe gegen die documenta erhoben. Es ist unmöglich, dass die Betreffenden die Präsentation vor Ort eingesehen haben. Sie argumentieren nach dem Hörensagen bzw. der Beurteilung von Fotos. Diese können aber über die Kontextualisierung der Bilder vor Ort keine Auskunft geben. Dieses Medienbündnis spielt Staatsanwalt und Richter zugleich, ohne auch nur beim Archives des luttes des femmes en Algérie eine Stellungnahme einzuholen, also wenigstens den Angeklagten das Recht auf Gehör einzuräumen. Sie wenden sich autoritätshörig nicht an die Urheber:innen, sondern an die Geschäftsführung. Man fordert Zensur. So richtet man gezielt eine 67 Jahre alte Kunst-Institution zugrunde. Eine liberale Gesellschaft sollte das nicht durchgehen lassen.

Worum geht es? In einem Reprint einer 1988 in Algier gedruckten Broschüre werden vier Bilder abgedruckt, die auf den israelisch-palästinensischen Konflikt Bezug nehmen und israelische Soldaten als Aggressoren darstellen. Die Bilder stammen von dem syrischen Künstler Burhan Karkoutly, der wiederholt Bilder aus palästinensischer Perspektive veröffentlicht hat. Die Auslegungen, die nun in kürzester Zeit zu den Bildern in der Broschüre vorgenommen werden (Bezugnahme auf die Ritualmordlegende etc.), halten einer näheren Überprüfung nicht stand. Sie sind interpretatorische Gewaltakte. Man wollte die Bilder skandalisieren und suchte nach historischen visuellen Beispielen, die bei den Leser:innen spontan Empörung auslösen sollen.

Eingebracht wurde das Objekt von dem ausstellenden Kollektiv Archives des luttes des femmes en Algérie explizit als historisches Objekt, nicht als Kunstwerk. In diesem Sinne gibt es auf der documenta auch viele rassistische Objekte, die historische Vorgänge dokumentieren. Und auch hier protestiert niemand, dass die documenta rassistisch sei. Die Leitung der documenta fifteen hat die Broschüre bereits Anfang Juli 2022 juristisch prüfen lassen und danach wieder in die Ausstellung eingefügt, weil sie zumindest juristisch zulässig ist. Alles Weitere wäre dann ein Eingriff in die Kunstfreiheit des Archives des luttes des femmes en Algérie, die die Broschüre als außerästhetisches Material in die documenta-Installation eingebracht hat. Die Erkenntnis der Betrachter:innen im Rahmen des Besuchs des Fridericianums ist ja, dass sich offenkundig die algerischen Frauen im Rahmen ihrer Emanzipationsgeschichte in den 80er Jahren nicht von bestimmten anti-israelischen Stereotypen emanzipieren konnten. Das ist offensichtlich so. Im Rahmen ihres politischen Engagements haben sie mit Kräften zusammengearbeitet, die im Konflikt mit Israel stehen. Das ist zunächst einmal eine historische Tatsache, die man erörtern muss, aber nicht durch Zensur zum Verschwinden bringen sollte, ganz im Gegenteil.

Das zentrale Problem dieses Vorgangs wird in einer Darstellung / einem Kommentar des Berliner Tagesspiegels deutlich. Zum neu aufgefundenen Objekt schreibt die Zeitung noch am Tag der Entdeckung folgendes:

Das große Unbehagen bei der Documenta entsteht dadurch, dass einem Bilder mit antisemitischem Inhalt quasi untergejubelt werden. Ohne Kommentar, ohne Warnung, jedem bleibt es selbst überlassen, zu interpretieren, die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Das überfordert.[25]

Das ist fatalerweise das Bild vom Subjekt, das beinahe alle documenta-Kritiker kultivieren. Die adressierten Menschen (alle Besucher:innen der documenta fifteen) sind demnach unfähig, eigene ästhetische, ethische oder politische Urteile zu fällen und müssen deshalb betreut werden, damit sie die richtigen Schlussfolgerungen ziehen.[26] Was die richtigen Schlussfolgerungen sind, sollen der Staat und dessen Vertreter den Subjekten vorgeben.[27] Das ist das Problem aller Diskussionen rund um die documenta in den letzten Monaten: dass sie nicht den Menschen zum Denken befähigen wollen, sondern ihm das eigenständige Denken, das eigenständige Urteil absprechen und deshalb staatliche Vorgaben fordern. Was für eine traurige Entwicklung.

Auf einem Kongress für kulturelle Freiheit, der 1950 unter dem Eindruck des überstandenen Nationalsozialismus und des sich formierenden sowjetischen Totalitarismus veranstaltet wurde[28], formulierten die beteiligten linksliberalen Theoretiker:innen in einem Manifest zwei zentrale Einsichten:

Wir halten es für eine axiomatische Wahrheit, dass die Freiheit des Geistes eines der unveräußerlichen Menschenrechte ist.

Diese Freiheit besteht in erster Linie im Recht des Einzelnen, eigene Meinungen zu bilden und zu äußern, und zwar namentlich auch dann, wenn sie von den Meinungen der Obrigkeit abweichen. Der Mensch wird zum Sklaven, wenn er des Rechtes beraubt wird, "nein" zu sagen.[29]

Die hier eingeforderte kulturelle Freiheit ist aktuell gefährdet, aber nicht durch die schlimmen antisemitischen Bilder, nicht durch die Naivität mancher Verantwortlicher der documenta fifteen, sondern durch eine an einer obrigkeitsstaatlichen Symbolpolitik orientierten documenta-Kritik. Sie will das Recht der Menschen und der kulturellen Institutionen, in ihrer Meinung von der Obrigkeit abzuweichen, einschränken. Sie wollen, wie die linksliberalen Autor:innen 1950 schrieben, die Anpassung an Schablonen:

„Wir halten die Gefahr, die sich im totalitären Staat verkörpert, für umso größer, als die Wirksamkeit seiner Zwangsmittel die aller früheren Despotien der Geschichte übertrifft. Der Bürger eines solchen Staates muss sich nicht nur aller Verstöße gegen die Gesetze enthalten, sondern auch seine Gedanken und Handlungen restlos einer bestehenden Schablone anpassen.“

Wir leben in finsteren Zeiten, wenn Verbote und nicht das Gespräch unser Leben bestimmen.


Ort 11 – Stadtmuseum

Im Stadtmuseum hat mir vor allem die oberste Ebene mit den Arbeiten des vietnamesischen Nhà Sàn Collective gefallen. Es ist ein geradezu zenbuddhistisch gestalteter Raum, dessen hintere Wand aus einem Spiegel besteht und so vielfältige Konstellationen eröffnet. Der wiederholte Besuch vor Ort zeigt, dass die ausgestellten Exponate immer wieder umgeräumt und der Raum damit neugestaltet wird. So wurde aus der Holzbrücke eine Waage, aus dem sich selbst im Spiegel betrachtenden Pferd eines, das im Spiegel rundherum betrachtet werden kann. Das Ganze hat etwas Spielerisches, aber auch Meditatives. Ab und an unterbrochen wird die Stille des Raumes vom peitschenden Knall eines Bambusrohres, der einen erschreckt, aber dann auch wieder neu fokussiert. Ein gutes Ensemble. Ich würde diesen sensiblen Raum als ein es der Highlights dieser documenta bezeichnen.

Im zweiten Stock des Stadtmuseums stellt die Gruppe FAFSWAG, die ihre Arbeiten über mehrere Standorte auf der documenta fifteen verteilt hat, Teile ihres Archivs vor.

Der Name FAFSWAG setzt sich zusammen aus Silben der Bezeichnung „fa’afafine“ für nicht-binäre Geschlechterrollen in samoaischen Kulturen sowie dem „Swag“ als selbstbewusste Lässigkeit.

Das Kollektiv präsentiert eine umfassende Fotogalerie, in der die Porträtierten als Nixen oder götterähnliche Figuren posieren, sich elegant oder exaltiert beim Sport, bei der Gartenarbeit oder in rituellen Kontexten zeigen.[30]

Die im Stadtmuseum gezeigten Foto-Arbeiten bestechen durch ihren hohen Grad an Ambiguität, das macht sie so faszinierend, sie fordern die Besucher:innen zu persönlichen Reaktionen heraus. Im Internet (https://fafswagvogue.com/) kann man darüber hinaus diverse Dance-Battles der sogenannten „Ballroom-Kultur“ initiieren, einen „Winner“ bestimmen und sich mit den Persönlichkeiten der Beteiligten auseinandersetzen. Man lernt sehr viel bei den Arbeiten der Gruppe FAFSWAG.


Ort 12 – Hessisches Landesmuseum

Die Augmented Reality-Skulptur ATUA von Tanu Gago and Jermaine Dean von der der Gruppe FAFSWAG ist ein besonders beeindruckendes Kunstwerk der documenta fifteen. Im ersten Stock des Hessischen Landesmuseums stoßen die Besucher:innen zunächst auf eine mit zahlreichen Symbolen versehene Säule, die mitten im Raum platziert ist. Die Besucher:innen können sie umschreiten, sie leuchtet aus sich heraus. Der Titel der Installation ATUA verweist die Besucher:innen auf eine maorische Religion.

Atua ist die Bezeichnung für die Götter und Geister der Polynesier: Māori, Hawaiianer und anderer. Das polynesische Wort bedeutet wörtlich „Macht“ oder „Stärke“. Das Konzept, das dahintersteht, ist vergleichbar mit dem austronesischen „Mana“. Heute wird es auch für das monotheistische Konzept von Gott verwendet.[31]

Zum „Leben“ erweckt wird die Statue in Kassel durch iPads, die vor Ort ausgeliehen und dann auf das Objekt gerichtet werden. Sobald man die Kamera auf die Statue richtet, tritt aus ihr virtuell eine Figur hervor, die sich den Besucher:innen selbst so vorstellt: „I am Te Kore, a mighty chaos - I am Te Kore, The Void“. Damit werden wir wiederum auf den Schöpfungsmythos der Māori verwiesen, zu dem die Auckland Art Gallery schreibt:

The Māori creation story is the oldest philosophy of Aotearoa New Zealand and articulates the origin stories that Māori still recall and observe today. This begins in the state of Te Kore, described as the great nothingness – the empty faceless void. In Te Kore there is nothing above, nothing below. Time is suspended in darkness – in a state of latent being and unrealised potential.[32]

Anders als beim biblischen Tohuwabohu, das eher dem Chaos, dem Nichts oder der Wüste, die gestaltet werden müssen, entspricht, geht es bei Te Kore um das Potential, das Potentielle, um die Möglichkeiten, die in den Dingen liegen.

Ich habe beim ersten Besuch gar nicht verstanden, dass und inwiefern diese Arbeit etwas mit Queerness zu tun hat und war zunächst nur fasziniert vom mythologisch-inspirierten Gebrauch der Augmented-Reality. Erst zuhause wurden mir dann die Implikationen des „latent being and unrealised potential“ deutlich, mit der die Künstler:innen hier arbeiten. Und erst der zweite Besuch brachte dann die notwendigen Einsichten in das Projekt, die sich mit den anderen Arbeiten von FAFSWAG auf dieser documenta verknüpfen.


Ort 13 – Grimmwelt

Die Grimmwelt in Kassel ist nicht zum ersten Mal ein Spielort der documenta. Bereits vor fünf Jahren waren hier u.a. Arbeiten des jüdisch-israelischen Künstlers Roee Rosen zu sehen. Bevor ich auf die aktuellen Arbeiten vor Ort eingehe, noch ein kleiner irritierter Rekurs auf jenen Text, den die documenta diesem Ort widmet:

Die Grimmwelt Kassel ist ein vielschichtiger Ort, an dem wie in deutschen Volksmärchen Schönes und Schreckliches nah beieinander liegen. Ganz ungebrochen kann man die Sprachwissenschaftler und Volkskundler Jacob und Wilhelm Grimm heute eigentlich nicht mehr würdigen, weil sich insbesondere in ihren Tagebüchern und Briefen antisemitische Aussagen finden.

Abgesehen von dem Umstand, dass die Mehrzahl der inkriminierten Äußerungen eher antijüdisch als antisemitisch ist, bildet das einen wichtigen Hinweis auf die Notwendigkeit, immer auch die Kontexte mitzudenken. Es ist also bereits im Vorfeld der Ausstellung bei der documenta ein sensibles Problembewusstsein in Sachen Antisemitismus der Deutschen, respektive der Gebrüder Grimm zu konstatieren. Aber das bildet zugleich auch den Maßstab, an dem die documenta fifteen selbst zu messen ist, wenn es um ihre eigenen Exponate geht. Es kann ja nicht angehen, dass das Argument des Antisemitismus zu Recht im Blick auf die deutsche Romantik in Anschlag gebracht wird, bei den aus Indonesien, Japan oder Palästina stammenden Exponaten der documenta aber nicht. Hier tut sich eine Kluft auf, man könnte auch von Doppelstandards sprechen. Der Antisemitismus der Gebrüder Grimm wurde dabei vor allem in deren privaten Schriften entdeckt (Tagebücher und Briefe), bei den documenta-Exponaten handelt es sich aber um öffentliche Werke, für die noch einmal eine ganz besondere Sorgfaltspflicht gilt.

In der Grimmwelt sehen wir dann u.a. Arbeiten der palästinensischen Künstlerin Jumana Emil Abboud, die sich mit persönlichen und kollektiven Geschichten und Mythologien auseinandersetzt. Die documenta schreibt dazu:

Abbouds Arbeiten untersuchen unser Verhältnis zu Natur und Landschaft, die von menschlichen und nicht-menschlichen Wesen gemeinsam bewohnt werden. Ihre künstlerische Praxis in den Medien Video, Performance, Zeichnung und Malerei behandelt Motive wie Sehnsucht, Zugehörigkeit und Getrenntsein. Sie vermeidet dabei jede nostalgische Ikonografie, stattdessen sollen Räume neu entdeckt und imaginiert werden. Konkret werden Orte und Platze der Topografie Palästinas erforscht, wo das Ringen um Kontinuität einen ständigen Prozess der Regeneration und des Einfallsreichtums erfordert.

Die ausgestellten Arbeiten erweisen sich als außerordentlich poetisch, es sind Bienenwachsfiguren, die nach Fundstücken bei gefährdeten Wasserquellen in Palästina gebildet wurden. Zu diesen Figuren gibt es jeweils kleine begleitende Texte, die die Objekte deuten und poetisch ergänzen.

Ebenfalls in der Grimmwelt ausgestellt ist Agus Nur Amal PMTOH, dessen Werke wir in der oberen Etage finden. Dieser Künstler verwendet Haushaltsgegenstände und Fundstücke für erzählerische Performances und produziert Kunstobjekte, um Ideen, Wissen, aber auch Konfliktlösungen mit anderen zu teilen. Die Documenta schreibt zu ihm:

Für die documenta fifteen bietet Agus in der Grimmwelt Kassel eine Reihe von Erzählsessions an, die auf dem sundanesischen Lebensprinzip Tri Tangtu basieren. Die Erzählworkshops werden mit Schüler*innen der Friedrich-Wöhler-Schule und der Reformschule in Kassel durchgeführt. Tri Tangtu repräsentiert ein volkstümliches Denksystem, in dem sich das Mystische, das Rationale und das Natürliche überschneiden. Es ist die Grundlage, um die Beziehung des Menschen zu anderen Bewohner*innen der Erde zu gestalten. Im Mittelpunkt des Geschichtenerzählens steht die Freude am Dasein und an der Interaktion mit vielen Menschen: Gemeinsam erinnern sie sich an die Vergangenheit, denken über die Gegenwart nach und spekulieren über die Zukunft.

Der erste Eindruck beim Besuch vor Ort ist der einer Spielwelt, die sich auf gute Weise in die Thematik der Grimmwelt einordnet. Es ist aber nicht nur eine Spielwelt, sondern ein Dokument des spielerischen Umgangs mit der Welt. Man fühlt sich an Worte von Karl Barth erinnert: "Das wagt doch der Mensch in der Kunst: die gegenwärtige Wirklichkeit in ihrem schöpfungsmäßigen Das-Sein, aber auch in ihrem So-Sein als Welt des Sündenfalls und der Versöhnung nicht letztlich ernst zu nehmen, sondern neben sie eine zweite, als Gegenwart nur höchst paradoxer Weise mögliche Wirklichkeit zu schaffen, ohne von jener loszukommen".[33] Kunst dient trotz ihres spielerischen Charakters aber nicht dem Genuss (sie ist kein „Fakultativum für solche, denen es zufällig Spaß macht"), sie ist unentbehrliche Kritik der Gegenwart. Das wird bei Agus Nur Amal PMTOH besonders deutlich.

Im Untergeschoß der Grimmwelt findet sich ganz weit hinten eine Videopräsentation des Kunstkollektivs Alice Yard. Die documenta informiert dazu:

Alice Yard ist ein zeitgenössisches Kunstkollektiv, das seit 2006 zahlreiche Künstler*innenprojekte und Ausstellungen, Performances, Gespräche und andere Events organisiert und veranstaltet und dabei ein Ethos der Selbstbestimmtheit, Autarkie, Großzügigkeit und Verspieltheit entwickelt hat.

In der Grimmwelt Kassel präsentiert Alice Yard ‚Telling After All …‘ (2022), ein digitales Videoprojekt mit Arbeiten von fünf karibischen Künstler* innen, die sich mit Fragen der Folklore und Mythologie im digitalen Zeitalter auseinandersetzen.

Das ist ein interessantes Videoprojekt, das sich ebenfalls gut in die Thematik der Grimmwelt einfügt und deshalb in diesem Rahmen eine große Stimmigkeit erreicht.


Ort 14 – Sepulkralmuseum

Nicht erschlossen haben sich mir die documenta-Exponate im Museum für Sepulkralkultur, so interessant der Ort als solcher auch ist. Hier wird man mit Texten und Schriften überschüttet, deren Lektüre die Sache aber auch nicht einfacher macht. Die documenta schreibt dazu:

Die Arbeit von Erick Beltrán erforscht das Konzept der Edition. Sie rückt die Mechanismen in den Fokus, die Bilder und Diskurse definieren, bewerten, klassifizieren, reproduzieren und verbreiten, um in gegenwärtigen Gesellschaften soziale, kulturelle, politische und ökonomische Verhaltensweisen und Werte zu kreieren. Beltrán analysiert und reflektiert transversale Wissenskonstruktionen und Wissensfiguren in unterschiedlichen Formaten, etwa in Publikationen, Installationen, schematischen Darstellungen oder Vorträgen.

Seine Arbeit für die documenta fifteen, Manifold (2022), ist eine Studie über die Beziehung von Einheit und Vielheit – und über die zeitgenössischen Formen und Bilder, in denen wir diese Beziehung darstellen. „Die Idee des Individuums ist bekanntlich erst vor 300 Jahren entstanden“, sagt Beltrán. „Meine Arbeit thematisiert den Clash dieser westlichen Denkstrukturen mit anderen Weisen, die Welt zu sehen.“ Wir neigen dazu, Dinge als Einheit wahrzunehmen: ich, du, eine andere Person. Die Vielheit wäre dagegen die Gesamtheit der Dinge, die miteinander verbunden sind. Ihre Beziehung offenbart sich als Spannung. Gibt es Möglichkeiten, sich der Wirklichkeit von der Vielheit her zu nähern? Hier setzt Beltrán mit seiner Forschung an

Das entspricht etwa einen Forschungsprojekt an der Universität. Was sich mir überhaupt nicht erschlossen hat, ist der Kunstcharakter der hier gezeigten Exponate. Dem Trend von der Kunst zum diskursiv erörterten Bild, der sich in den Kulturwissenschaften ja schon seit Jahrzehnten abzeichnet, wird hier exzessiv auf die Spitze getrieben.

Zusammen mit Forscher*innen des Fachbereichs Kunst der Universität Kassel führte Beltrán Interviews mit Kasseler Bürger*innen. Diese wurden nach dem Bild gefragt, das sie vor Augen haben, wenn sie an Macht denken. Ziel war es, eine Projektion zu erzeugen zwischen den Befragten (Einheit) und ihrer imaginativen und ikonografischen Beziehung zu Formen der Macht, wie sie durch soziale Filter vermittelt werden (Vielheit). Das Museum für Sepulkralkultur zeigt die Ergebnisse dieser Befragung in einer Reihe von Bildern, die aus den Interviews hervorgegangen sind, sowie anhand von Theorien und Diagrammen, die ihre Beziehungen untereinander erklären.

Wie fast immer bei qualitativer Befragung bleibt ein Unbehagen, das in der Frage nach der Macht der Befrager:innen und Deuter:innen kulminiert. Man stellt Fragen, behält aber in der Deutung der Antworten alle Macht in der eigenen Hand. Irgendwie künstlerisch oder auch nur visuell einsichtig wird das Ganze nicht. Es wirkt, so schrieb mir ein Kollege, wie ein schlechtes Referat, das im Nachhinein als Kunst ausgegeben wird.

Anmerkungen

[1]    Totalitär ist dieses Gerede, wenn für die Zukunft festgelegt werden sollen, dass alle Beteiligten, Findungskommission, Kurator:innen und Künstler:innen auf ihre politische Haltung und Gesinnung kontrolliert werden sollen, wie es Volker Beck im Interview mit der HNA gefordert hat (Quelle). Diese Forderung ist allen totalitären Systemen eigentümlich: dem Dritten Reich, der DDR und der Sowjetunion. Der Grundgedanke, warum Kunst und Kultur nicht Bundessache sind, war der, dass die nationalsozialistische Kulturpolitik sich in Deutschland nicht wiederholen sollte. Aber nun sind wir auf dem besten Weg zu einer vom Staat gemanagten Kultur. Sie mag meinen, „Im Interesse der Sache“ zu handeln, aber wie in Solschenizyns gleichnamiger Erzählung ist das nur Ausdruck totalitären Denkens. Unangenehm berührt auch die Tatsache, dass Volker Beck dabei zugibt, die Documenta noch gar nicht besucht zu haben, sondern dass er nur nach Hörensagen urteilt. Er ist nicht der Einzige. Das ist schockierend. Kunst basiert auf konkreten ästhetischen Erfahrungen vor den Werken. Alles andere ist Ideologie.

[2]    Vgl. Verf. Wenn Bilder töten. Wie wir mit der vergifteten Documenta fifteen umgehen sollten, z(w)eitzeichen, Quelle.

[3]    Exemplarisch für die systematische Verzerrung der Berichterstattung sind die Ruhrbarone, wenn sie etwa von einer „von antisemitischer Kunst geprägten Kasseler Documenta“ schreiben. Entweder haben sie die Ausstellung gar nicht besucht oder sie sind dort mit geschlossenen Augen herumgelaufen. Für die Ruhrbarone trifft zu, was Eva Menasse im SPIEGEL über den "diskursiven Reinigungsfuror eines publizistischen Bataillons aus Anti-Antisemiten", geschrieben hat, eine Gruppe, die sich einbilde, dieses Land antisemitenfrei zu kriegen. "Da man nach all den Jahren im eigenen Purgatorium vollumfänglich verstanden zu haben glaubt, was Antisemitismus ist, und sich selbst frei davon wähnt, möchte man ihn bei anderen umso allumfassender geahndet sehen. Ein deutscher Drang zur Übererfüllung blitzt auf.“

[4]    Am besten lässt sich deren Haltung mit der biblischen Grunderzählung vom Sündenfall charakterisieren. Nicht ich, sondern die Frau, die Du mir gegeben hast … Nicht ich, sondern die Schlange am Baum … Es ist der fortgesetzte Verweis auf fremdes Verschulden, niemals das Eingeständnis eigener Verantwortung.

[6]    Wenn Frau Schormann am 12. Juli in ihrer Erklärung schreibt „Zudem ist durch Vorfälle mit diskriminierenden Inhalten, u. a. mit rassistischem und transphobem Hintergrund, der Eindruck entstanden, in Kassel und Deutschland nicht willkommen oder sogar gefährdet zu sein“, dann kaschiert sie den Umstand, dass sich diese Vorwürfe auch konkret gegen das von ihr beauftragte Personal gerichtet haben. Als Grund benennt die HNA im Gespräch mit der Gruppe „queer-phobische und rassistische Aggressionen, ausgehend von Menschen aus Kassel, von documenta-Besuchern und Security-Personal, die die Gruppenmitglieder in den zurückliegenden Wochen vielfach erfahren hätten“. Die Überzeugung, dass ein Ort zum Nichtstun bereits Widerstand ist, teile ich nicht, auch nicht die „Annahme, dass Schwarze, Braune, Trans*-Personen und andere marginalisierte Gruppen mit ihrem bloßen Überleben wichtige Arbeit leisten“. So kann man jedes Verhalten ideologisieren.

[7]    Insgesamt finde ich den Auftritt von Party Office b2b Fadescha im Vergleich etwa zu den Arbeiten von FAFSWAG eher schwach. „Ausgehend von einem Verständnis der Party als Ort der Befreiung möchte das Projekt neoliberalen Definitionen produktiver Zeit Ruhe, Rave und radikalen Genuss als Strategien der Widerstandsfähigkeit entgegenstellen.“ Als ob in neoliberal bestimmten Gesellschaften nicht gerade die Party der Ort der Konformität wäre.

[8]    Sternberger, Dolf; Storz, Gerhard; Süskind, Wilhelm E. (Hg.) (1962): Aus dem Wörterbuch des Unmenschen. München, S. 54ff. Heute, wo auf die Bedeutung von Worten keinen wert mehr gelegt wird, mag es erstaunen, dass „Kulturschaffender“ ein Problem darstellen soll. Und doch ist es die Sprache der Herrschaft, der Kulturbürokratie, die sich hier artikuliert. Nicht ohne Süffisanz weist das Wörterbuch des Unmenschen darauf hin, dass es einen etymologischen Zusammenhang von Kultur und Kolonie gibt. Darüber könnte man ja auch mal nachsinnen.

[9]    Siehe hier oder hier.

[10]   Dass hier mit der Kunstfreiheit – ein westlicher Wert, den diese documenta fifteen eigentlich ablehnt – argumentiert wird, indem man sagt, es handele sich ja um hinreichend fiktionalisierte Bilder, ist schon merkwürdig. Abgesehen davon, dass auf anderen Bildern aus demselben Zyklus identifizierbare Soldaten des IDF gezeigt werden, es mit der Fiktionalität also nicht weit her ist, bleibt die gesamte Serie dezidiert gegen den jüdischen Staat gerichtet, Wer das in Deutschland unproblematisch findet, hat wenig von der Deutschen Geschichte verstanden. Aber auch gegenüber dem Arbeiten von Arno Breker könnte man sagen, dass sie hinreichend fiktionalisiert sind und deshalb unter die Kunstfreiheit fallen. Nur kann das nicht das letzte Wort sein, denn sie haben den Nationalsozialismus und sein Vernichtungswerk gestützt und ermöglicht.

[11]   Insoweit sich zumindest die Documenta II explizit als Westkunst im Kampf gegen den sozialistischen Realismus verstand.

[12]   Der österreichische Falter (www.falter.at) schreibt zum: „Ein ‚Stück reinster Terrorismus-Propaganda. Auf dem Weg zum Cannes-Filmfestival kurbelte man die militanten Ausbildungslager des palästinensischen Widerstands und deklarierte mit dem finalen Film gleich den Dritten Weltkrieg. Adachi ging daraufhin selbst für 28 Jahre als Kommandant der United Red Army in den Untergrund.‘ (Paul Poet)“. Interessant ist, dass Filmfestivals diesen Film schon länger zeigen und ihn fast gleichlautend so beschreiben: „It was a milestone of film as activism, cinema as movement in Japan's context.“

[13]   https://de.wikipedia.org/wiki/Massaker_am_Flughafen_Lod. Noch 2016 feierte die palästinensische Fatah die „Helden der Operation am Flughafen Lod“. Das zeigt die fortdauernde Bedeutung auch des Films von Adachi.

[14]   Das Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena kommt damit 2019 zu dem Schluss, dass die DNA-Analyse vorgefundenen Materials zumindest die Theorie stützt, dass die Philister im 12. Jahrhundert vor Christus als europäische Einwanderer über das Mittelmeer in den Süden kamen.

[17]   Für das entfernte Bild vom Friedrichsplatz in Kassel hat Thomas Wessel eine derartige Bildexegese vorgenommen: Wessel, Thomas (2022): Documenta 15: Wimmelbild oder antisemitisches Weltbild? Volksfest oder Volksgerichtshof? In: Ruhrbarone, 28.06.2022.

[18]   Vgl. etwa Smolek, Noemi (2022): War der moderne Kunstbegriff nur eine kurze Episode? In: Kunstforum International (283), S. 84–89. 

[19]   So die Auslegung von Johann Hinrich Claussen, Agitation auf der Documenta. Ob freilich Kunstwerke allein deshalb auf der Documenta nicht gezeigt werden sollen, weil sie sich als politisch verstehen, würde ich bezweifeln. Jede Documenta seit 1955 war in diesem Sinne extrem politisch aufgeladen, bis dahin, dass die Westkunst auf ihr wie 1959 von der CIA ausgewählt wurde. Auch Roee Rosens Arbeit „The Dust Channel“ auf der Documenta 14 war extrem politisch gegen die Regierung Netanyahu gerichtet. Das Politische ist kein Kriterium für die Aufstellung oder Abhängung von Bildern, sondern die konkrete Verletzung der Menschenwürde auf den Bildern.

[20]   International Association for Cultural Freedom: Wider den Antisemitismus (1953). Bangalore: Kongress für kulturelle Freiheit.

[21]   Dass zeigt m.E, zweierlei: dass das westliche Betriebssystem Kunst alles Gute von der Documenta behält und aufkauft, aber auch, dass die Widerständigkeit des Objekts begrenzt ist, wenn es so umstandslos in eine Kunstsammlung integriert werden kann. Vgl. Imdahl, Georg (2022): Abseits des Wertesystems. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.07.2022. Quelle sowie Woeller, Marcus (2022): Kunstverkauf in Kassel: So kommerziell ist die Documenta. In: WELT, 12.07.2022. Quelle

[22]   Vgl. Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a.M: Fischer Verlag 16. Auflage 2006. S. 129.

[26]   Man lese dazu den lehrreichen Artikel zum Wort „Betreuung“ im Wörterbuch des Unmenschen, a.a.O..

[27]   An dieser Stelle kann ich auch Meron Mendel nicht mehr folgen, der angesichts der neu gefundenen Bilder fordert, sie erst einmal zu entfernen und extern begutachten zu lassen und dann über ihre Wiedereingliederung in die Ausstellung zu entscheiden. Das ist das Ende von Kunst. Dann brauchen wir keine Documenta mehr, sondern sind wieder bei der staatlich gelenkten Kultur früherer Zeiten. Man muss sich klarmachen, dass bei einem derartigen Vorgehen ein Gutteil der Meisterwerke der Kunstgeschichte nicht ausgestellt worden wären. Wenn der Staat darüber entscheidet, ob ein Bild genehm ist oder nicht, dann kommt freie Kunst nicht mehr zustande.

[28]   Und, wie wir heute wissen, von der CIA finanziert wurde.

[29]   Der Monat, Nr. 22/23 (1950), S. 483-484

[33]   Vgl. Verf. (1999): Kunst als kritisches Spiel. Karl Barths Äußerungen zur Kunst. In: tà katoptrizómena - Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 1, H. 2.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/138/am760.htm
© Andreas Mertin, 2022