‚Woran erkennt man, dass das Kunstwerk antisemitisch ist?‘

Nach der documenta fifteen: Eine Spurensuche

Andreas Mertin

Herausforderung Bildsprache

Oft ist es ja ziemlich leicht zu erkennen, wenn Bilder, auf die wir in Kunstausstellungen, an und in Kirchen oder in Kunstmuseen stoßen, solche sind, die vom Judenhass zeugen.[1] Vielleicht wollen manche es nicht sehen, aber in der Regel ist es offensichtlich. Wenn an der Wittenberger Stadtkirche eine Skulptur zu sehen ist, die gezielt Juden durch Schweinedarstellungen beleidigt, dann ist der Fall klar.

Wenn wir in dieselbe Wittenberger Kirche hineingehen und auf den berühmten Altar von Lukas Cranach und seinem Sohn stoßen, ist es manchen schon weniger klar. Denn wenn Cranach Judas beim Abendmahl als halbwilden, gelbgekleideten Menschen darstellt, andere Teilnehmer aber als Reformatoren und ihre Wegbegleiter, dann kommt man an der Frage nicht vorbei: Äußert sich hier nicht die lange Tradition der Abgrenzung und Herabwürdigung von Juden?[2] Und welche Konsequenzen ziehen wir daraus nach den ethischen Maßstäben, die wir zur documenta fifteen aufgestellt haben? Wenn an den Bremer Domtüren die Bösen als Juden mit Judenhüten dargestellt sind, Christus und die Jünger aber als Nicht-Juden, dann ist auch dies: Judenhass. Den mittelalterlichen Bildern war ebenso wie den Bildern bis 1945 in der Regel an Eindeutigkeit gelegen, sie hatten kein Interesse daran, ihren Judenhass bzw. die Herabsetzung der Juden irgendwie zu verbergen.[3]

Das war nach der Shoah anders, man suchte nach neuen Formeln, um seinen Judenhass zu kaschieren. So wurde nach 1945 in der deutschen Sprache das ursprünglich ins 18. Jahrhundert datierende Wort „alttestamentarisch“ populär, wo dem braunen Anstreicher noch das einfache „jüdisch“ zur Herabsetzung gereicht hatte.[4] Und statt weiterhin ‚die Juden‘ für alles verantwortlich zu machen, waren es nun ‚die Zionisten‘, die an dieselbe Stelle traten.[5]

Im Visuellen überlegten sich einige, wie sie den Judenhass anders kodieren könnten. Die alten Klischees mit den Hakennasen, dem Geldbeutel funktionierten zwar weiterhin, waren aber eben sofort als antisemitisch zu erkennen und wurden in der Breite (zumindest bis zum Beginn der Pandemie 2020) nicht mehr toleriert. Der ‚kultivierte Antisemit‘ des 21. Jahrhunderts brauchte daher neue Bildformeln, aber nicht so offensichtliche, eher solche, die auf den ersten Blick vielleicht gar nicht als antisemitisch erkannt würden, vielleicht sogar als bloß israelkritisch oder noch besser als kapitalismuskritisch durchgehen würden. Aber es mussten solche Bildformeln sein, die den „Eingeweihten“, also den anderen ‚kultivierten Antisemiten‘ sofort einsichtig machten, worum es hier geht: die Verantwortlichkeit der Juden für den Zustand der Welt. Das Bild der Strippenzieher und Marionettenspieler wurde populär und dann raunte man ein paar Namen (Rothschild, Soros …) und schon wusste man, worum es eigentlich ging (nur Lisa Fitz angeblich nicht[6]).

Daher ist es aktuell oft gar nicht so einfach, bestimmte Bilder als spezifisch antisemitisch zu erkennen, nicht alle Bilder sind platt agitatorisch, heute sind sie eher codiert und müssen entschlüsselt werden. Und man kann ja nicht in die Köpfe ihrer Urheber:innen hineinschauen, um zu entscheiden, ob ein Bilddetail tatsächlich antisemitisch gemeint ist. Vielmehr muss man aufgrund von Indizien auf den Bildern seine Schlussfolgerungen ziehen. Es geht wirklich um Indizienprozesse, bei aller Problematik der daraus sich ergebenden Schlussfolgerungen.

Lernprozesse

Ich möchte daher im Folgenden Auskunft geben von einem Lernprozess, den ich selbst durchlaufen habe und in Folge dessen ich meine Meinung über einen Künstler und seine Bilder modifiziert habe.[7] Am Anfang dieses Lernprozesses stand die Begegnung mit den Kunstwerken aufgrund von Pressemeldungen von Anfang Juni 2022, die die Arbeiten entweder als israelkritisch, antizionistisch oder eben als antisemitisch qualifizierten. Und das Interessante war, dass selbst unter jüdischen Betrachtern vor Ort das Urteil zwischen allen drei Einordnungen variierte.

Nun könnte das zunächst einmal weniger an den Bildern, als am Begriff und Verständnis von Antisemitismus liegen, die Betrachter:innen in den Deutungsprozess einbringen. Wer im Grunde jede Israelkritik für antisemitisch hält (wie etwa die Anti-Deutschen[8] oder neuerdings der hessische Beauftragte für Antisemitismus[9]), wird gleich zum schärfsten Label greifen. Wem daran gelegen ist, zwischen den drei Formen zu unterscheiden, wird sich erst einmal vorsichtig herantasten.[10] So muss man schauen, ob es nur israelkritisch ist, weil es auf bestimmten palästinensischen Erfahrungen vor Ort basiert, die dramatisiert dargestellt werden, oder ob zugleich das zionistische Projekt als solches in Frage gestellt wird oder ob gar allgemein „die Juden“ verantwortlich gemacht werden. Und da gibt es oft eben keine objektiven Kriterien, sondern es sind tatsächlich Schlussfolgerungen aus Indizien.

In unserem Fall arbeitet ein im Gazastreifen lebender Künstler, der mit einigen Werken auf der documenta fifteen vertreten war, u.a. mit einem künstlerischen Prinzip, bei dem er mit Hilfe von Photoshop in berühmte europäische Gemälde Fragmente und Details von Fotos aus den aktuellen militärischen Konfrontationen im Gazastreifen bzw. der Westbank montiert, so dass die alten ‚Ikonen‘ der Kunst zwar noch erkennbar sind, aber einen völlig anderen Sinn bekommen.

Das könnte man wohlwollend Re-Enactment oder Neu-Inszenierung nennen. Ein klassisches Beispiel dafür wäre der Gebrauch, den diverse Künstler wie Edouard Manet, Otto Dix und später auch noch Pablo Picasso in der neueren Geschichte der Kunst von Francisco Goyas „Erschießung der Aufständischen“ gemacht haben.

  

Das Besondere dieser Beispiele ist, dass die jeweilige Neu-Inszenierung ein künstlerisches Ergebnis zeitigt, das auch dann funktioniert, wenn man die Vorlage nicht (mehr) kennt. Und die neu entstandenen Werke sind eigenständig, d.h. als Handschriften ihrer Urheber erkennbar. Man braucht für Manets „Erschießung Kaiser Maximilians von Mexiko“ nicht unbedingt das Wissen um die Vorlage von Goya, um das Werk zu verstehen. Mit dem Wissen um Goya wird eine zusätzliche Zeitlinie eingebaut, aber man könnte das Bild nahezu vollständig aus sich heraus verstehen. Auch Otto Dix liefert ein in sich stimmiges Bild ab, das beredt und kritisch über die Verhältnisse in der Weimarer Republik Auskunft gibt. Dieses Werk wird vom Kunstkenner ohne Probleme sofort Dix zugeordnet. Aber auch er fügt sich durch die Konstellation in die Linie Goya – Manet ein. Es geht um Opfersituationen, bei denen auf der Gegenseite das Militär steht.

Wenn eine solche Linie entsteht und den Betrachter:innen bewusst wird, kann man sie auf alle Situationen anwenden, bei denen eine Bevölkerung auf der einen und Militär auf der anderen Seite steht. Und so haben sich weitere Künstler:innen in diese Linie eingezeichnet. Man kann zeigen, wie auch im Nahost-Konflikt diese Konstellation wiederholt aufgegriffen wurde.

Was den Künstler aus dem Gazastreifen betrifft, so will er eigentlich gerade kein eigenständiges Werk, das auch ohne seine Vorlage wirkt. Vielmehr heftet er sich quasi parasitär an die Ikonizität seiner Vorlagen, um nun verstörende Elemente aus Fotos von Pressefotograf:innen aus dem Israel-Palästina-Konflikt in sie einzutragen, so dass beides miteinander verbunden wird. Er collagiert die Bilder, wobei nicht die Collage das Ziel ist, sondern die Simultanität der Wirkmächtigkeit von Ikone und Fotos im Blick auf die Betrachter:innen. Es handelt sich um bewusst wirkungsästhetisch komponierte Bilder, eine Form der politisch-sensualistischen Kunst.

Die Betrachter:inen sollen sich an ihre (positiven) Wahrnehmungen der europäischen Meisterwerke Kultur erinnern, dann die eingeschobenen Foto-Elemente mit Entsetzen wahrnehmen und dieses Wechselbad der Gefühle auf den Palästinakonflikt übertragen: es wird etwas als positiv Wahrgenommenes durch aktuelle militärische Handlungen in der Gegenwart zerstört. Das ist noch nicht zwingend als antisemitisch zu qualifizieren, obwohl es sich der Unterstellung annähert, Israel sei für das Leid auf den Bildern und letztlich auch für das Leid der Welt verantwortlich (insofern die Vorlagen ja auf das Allgemeine und nicht auf das Besondere zielen).

Kriegsfotos

Wenden wir uns in einem ersten Schritt den fotografischen Elementen zu. Wenn Pressefotograf:innen Fotos von einem Konflikt im Westjordanland oder im Gazastreifen macht, sind sie ja weder israelkritisch, antizionistisch oder antisemitisch, sondern – wenn sie ihr Handwerk professionell und das heißt neutral betreiben – zunächst nur mit einer Kamera ausgestattete Zeitzeug:innen.[11] Auch sie werden vermutlich bestimmten visuellen Klischees erliegen, sie werden wissen, welche Fotos ihnen die Agenturen abkaufen und ihnen wird klar sein, dass manche Situationen, auf die sie stoßen, inszeniert sind. Das ist ihr Berufsalltag, den sie einschätzen müssen. Und wenn die Fotograf:innen in dem Gebiet geboren wurden, in dem sie ihre Aufnahmen machen, wird man auch mit einer gewissen Parteilichkeit ihrer Fotos rechnen. Wir nehmen die Welt – auch fotografisch – nie objektiv wahr, so sehr wir uns auch um Neutralität bemühen.

Sollte nun ein Künstler aus Zigtausenden Fotos bestimmte auswählen, so macht er das perspektivisch. Er will ja mit der anzufertigenden Collage etwas aussagen bzw. etwas bewirken, und die von ihm ausgewählten Fotos müssen deshalb in sein Bild passen. Wenn er kritisch zum Konflikt im Gazastreifen Stellung beziehen will, wird er nicht gerade idyllische Blumenbilder wählen, sondern wohl eher Bilder von Bombenangriffen und ihren Folgen oder vom Widerstand vor Ort.

Wer diesen Vorgang der Auswahl einmal sozusagen an sich selbst überprüfen will, kann das mit Hilfe der folgenden Links machen (ich wähle jeweils Zusammenstellungen von Pressefotos für den Gazastreifen und für die Westbank):

Getty Images

Gaza City

Westbank

Agence France-Presse (AFP)

Gaza City Clashes

Westbank

Associated Press (AP)

Gaza City Clashes

Westbank.

Sobald man durch diese Datenbanken blättert, merkt man an sich selbst, wie der eigene Blick selektiv wird. Manche Bilder triggern einen derart, dass man sie vergrößert, andere huschen schlicht am Auge vorbei. Zugleich bekommt man nach einer gewissen Zeit einen Blick für Muster und Inszenierungen, ist überrascht, wie viele Fotos auf uralten Bildkonstellationen wie der Pieta, der Kreuzigung, aber auch auf dem Goldenen Schnitt basieren. Das ist hochspannend, ein Untersuchungsfeld für sich. Und so lässt sich erkennen, dass man aufgrund eines Erwartungshorizontes die Bilder bewertet und auswählt.

Jetzt, im September 2022, vergleiche ich zum Beispiel die Bilder, die ich vom Konflikt im Gazastreifen finde, mit den Bildern, die mir tagtäglich über die Medien vom Angriffskrieg gegen die Ukraine übermittelt werden – es ist ein unwillkürlicher und willkürlicher Wahrnehmungsakt zugleich. Ich schärfe meine Sinne in Sachen Kriegsästhetik. Das klingt etwas pervers, ist es auch, aber die gesamte Wirklichkeit ist quasi pervertiert. Jemand wie ich, der sein ganzes Leben – anders als seine Eltern und Großeltern – im Frieden gelebt hat, muss die Bilder des Krieges erst lesen und bewerten lernen.

Handschriften

Man kann, wenn einem dann ein Foto aufgefallen ist, der Handschrift der Urheber:innen nachgehen. Ich wähle exemplarisch einen Fotografen, der in der Westbank arbeitet und dessen Bilder ich auch bei der progressiven israelischen Zeitung Haaretz gefunden habe: Jaafar Ashtiyeh. Ich weiß zunächst einmal gar nichts über den Fotografen, kann nur erkennen, dass seine Arbeiten bei Getty Images und AFP, nicht aber bei AP auftauchen (-> Getty Images und -> AFP). Und so kann ich mir durch Vergleich einen Eindruck vom Stil dieses Fotografen verschaffen. Dann bekomme ich heraus, dass er ein 54-jähriger palästinensischer Fotograf ist, der exklusiv für AFP arbeitet und 2017 einen Preis als Fotograf des Jahres vom arabischen Medienforum bekommen hat. Anlässlich dessen sagt er in einem Interview von Khaleej Times:

"In my 21 years as a photographer, I've put myself in danger and got injured more than 20 times. I want to bring to the world's attention the sufferings of the Palestinian people but more importantly I want to help to bring to an end the many years of conflict in my land and pray one day that we can achieve peace".[12]

Auch Fotos unterliegen einer Tendenz. In diesem Sinne wird auch der, der für eine Collage Fotos braucht, nicht zufällig irgendwelche Bilder herausgreifen, sondern bewusst jene wählen, die zu seiner intentio auctoris passen. Keinesfalls muss man sich die Bildauswahl so vorstellen, dass jemand sich nur der Bilderflut des Fernsehens oder der Social Media bedient und zufällig etwas herauspickt, er geht vielmehr gezielt vor. Schauen wir uns das nun exemplarisch genauer an.


Beispiel 1 – Die Adaption des Bildes „Kartoffelesser“ von Vincent van Gogh

 
Galerie-Simulation: Vorbild und Adaption im Vergleich

Mein erstes Beispiel ist die Appropriation des berühmten Frühwerks von Vincent van Gogh: „Die Kartoffelesser“ durch Mohammed al-Hawajri. Vorbild und Adaption trennen 127 Jahre – eine Zeit, in der extrem viel geschehen ist. Ein palästinensisches National-Bewusstsein gibt es 1885 natürlich noch nicht, das gesamte Palästina ist noch Teil des Osmanischen Reiches. Die Bilder trennen sozusagen Welten.

Meine imaginäre Galeriewand stellt die Bilder in ihren ungefähren Größen im Verhältnis zu einem durchschnittlich großen Betrachter zusammen. Der deutlichste Unterschied ist zunächst das Seitenverhältnis. Van Goghs Arbeit entspricht grob dem Format 3:2, Mohammed al-Hawajris Aneignung ist dagegen im Format 12:5 gestaltet. Das ist eine gravierende Abweichung zum ursprünglichen Format und damit ein erheblicher Eingriff. Erklären lässt sich das dadurch, dass al-Hawajri seine Vorlage buchstäblich auseinanderreißt und in die Mitte neue Bildmotive einfügt.

Aber auch dann wird nicht einsichtig, warum die Adaption im Vergleich zum Vorbild so künstlich klein ausfällt (0,93 m² zu 0,39 m²). Da der das historische Bild adaptierende Künstler es in die Breite erweitert, wäre die Höhe ein Aspekt, an dem man sich orientieren kann. Dann hätte das neue Bild etwa 195 cm breit sein müssen und böte so die gleichen Einsichten, die auch die Vorlage bietet. Möglich wäre diese Bildgröße jederzeit gewesen, denn die Vorlage ist ja digital, und lässt sich (mit Einschränkungen) hochskalieren.

Die zweite Abweichung ist die unterschiedliche Materialität der Bilder. Mohammed al-Hawajris Arbeiten sind als Gallery-Prints gestaltet, haben also eine absolut glatte Oberfläche. Das verändert den Blick auf die Werke. Denn bei Vincent van Gogh bleibt der Blick des Betrachters des Öfteren an der Materialität des Bildes hängen, an dem groben Pinselstrich, dem pastosen Farbauftrag. Das ist es ja, was Vincent van Goghs Bilder zu so eigentümlichen Objekten macht, so dass man oft schon am Pinselstrich die Urheberschaft erkennt.

Bei Mohammed al Hawajri liegt ein Digital Print vor. Wie der Künstler schreibt, wurde diese Form gewählt, weil im Gaza-Streifen künstlerische Materialien nicht so leicht zugänglich sind, also Materialknappheit herrscht, und zudem das Ergebnis schnell und einfach weltweit als digitale Datei verschickt und vor Ort dann als Digitalprint realisiert werden kann. Aber auch dann muss der Künstler – wie jeder Hobbyfotograf weiß, der ab und an seine Digitalbilder großformatig reproduzieren lässt – sich für eine bestimmte Ausgabeform entscheiden. Diese könnte durchaus eine Fotoleinwand auf Keilrahmen sein, die der Collage eine geradezu traditionelle Struktur gäbe, oder aber eben ein Gallery-Print, der eine glatte Oberfläche erzeugt. Mohammed al Hawajri scheint Wert darauf zu legen, dass seine Digital-Prints auf glatten Oberflächen präsentiert werden, er orientiert sich also an den Fotos.

Ebenfalls auf den ersten Blick auffällig ist die leicht unterschiedliche Helligkeit der beiden Bilder. Für die folgende Bearbeitung habe ich van Goghs Werk auch zum besseren Verstehen aufgehellt, so wie es auch der palästinensische Künstler in seiner Adaption getan hat. In der Galerie-Ansicht oben sehen Sie die Dunkelheit des Ursprungsbildes, noch viel stärker können Sie beim online-Auftritt des Amsterdamer van Gogh-Museums (hier) die wahren Lichtverhältnisse erkennen. Es ist ein durch und durch dunkles Bild, das deshalb die zeitgenössischen Betrachter auch verstört hat. Würde man die wahren Lichtverhältnisse verwenden, wäre das Bild für den propagandistischen Gebrauch ungeeignet, weil man sich fragen würde, was man überhaupt noch auf dem Bild sieht – und daran kann niemand Interesse haben, der politische Botschaften verbreiten will.

Damit zusammenhängend ergibt sich ein weiterer Unterschied, nämlich, dass die Licht- und Schattenbeziehungen in der Adaption verunklart sind. Während es bei van Gogh einsichtig ist, dass allein die Deckenlampe spärlich den Raum erhellt, wird in der Adaption nicht deutlich, woher die Figuren im Vordergrund eigentlich ihr Licht bekommen. Man müsste schon eine weitere Lichtquelle im Bereich des Betrachters voraussetzen, um solche Lichtverhältnisse zu erzielen. Der normalen Wahrnehmung entspricht das nicht, denn eigentlich müsste das grelle Licht durch die zerbombte Hauswand alles überstrahlen. Es kann natürlich sein, dass dem Künstler Lichtverhältnisse schlicht egal sind, aber manchmal setzt er eben doch Schattenbildungen ein.

Vincent van Goghs Kartoffelesser

Betrachten wir nun näher das Original, also die Vorlage. In der Frühphase seines Schaffens war Vincent van Gogh von Jean François Millet beeinflusst. Das Bild „Kartoffelesser“ aus dem Jahr 1885 zeugt davon. Es gibt mehrere Versionen des Bildes, die für die spätere Collage genutzte ist die des van-Gogh-Museums in Amsterdam.


Vincent van Gogh, Die Kartoffelesser, 1885 (zur besseren Erkennbarkeit aufgehellt)

Wir blicken auf fünf Personen in einer abendlich dunklen und nur spärlich durch eine Petroleumlampe erleuchtete Kammer, offenbar zwei Männer und drei Frauen. Drei der gezeigten Personen scheinen sich auf das im Titel bereits benannte Kartoffelessen zu konzentrieren, die anderen beiden wenden sich trotz der abendlichen Stunde (die Uhr zeigt 19 Uhr an) dem Kaffee zu, wegen der hohen Preise für echten Kaffee vermutlich eher nur ein Chicorée-Aufguss, der dann ja auch koffeinfrei wäre. Man hat festgestellt, dass die Kaffee-Szene eine spätere Einfügung durch van Gogh ist, weil er die rechte Frau so weit von der Speise platziert hatte, dass ihre Hände die Kartoffeln nicht mehr erreicht hätten.

Neben der Uhr an der Wand hängt ein kleines Bild, das sich bei näherer Betrachtung als (gespiegelte[13]) Kreuzigung mit Maria und Johannes unter dem Kreuz erweist, ähnlich wie die (hier gespiegelte) Kreuzigung des oberrheinischen Meisters um 1517 in der Kunsthalle Karlsruhe.[14]

Zwischen den am Tisch Versammelten gibt es offenbar keine direkte Blickkommunikation, jedes Mal blickt ein Partner auf den anderen, der aber den Blick nicht erwidert. Dennoch gibt es eine Art stummes Einverständnis. Die dargestellte Jahreszeit dürfte der Winter sein, die Figuren tragen selbst in der Wohnstube noch wärmende Kleidung und Kopfbedeckung.[15] Es sind raue Verhältnisse. Die Kartoffeln stammen aus er Ernte des vergangenen Jahres.

Während der Konzeption und der Fertigstellung des Gemäldes gibt es eine intensive Kommunikation mit van Goghs Bruder Theo, die Auskunft gibt über die Intentionen der Bildkonzeption:

Ich habe mich nämlich sehr bemüht, den Betrachter auf den Gedanken zu bringen, dass diese Leutchen, die bei ihrer Lampe Kartoffeln essen, mit denselben Händen, die in die Schüssel langen, auch selber die Erde umgegraben haben; das Bild spricht also von ihrer Hände Arbeit und davon, dass sie ihr Essen ehrlich verdient haben. Ich habe gewollt, dass es an eine ganz andere Lebensweise gemahnt als die unsere, die der Gebildeten. Ich möchte denn auch durchaus nicht, dass jeder es gleich schön oder gut fände.

Und so war es auch, das Bild stieß auf Ablehnung, zu wenig reichte es an die Arbeiten von Millet heran, zu wenig gelang van Gogh eine realistische Darstellung der Figuren, manches erinnerte doch an Karikaturen oder an puppenhafte Inszenierungen. Dennoch – und darin wurde van Goghs Selbsteinschätzung bestätigt – wurde das Bild ikonisch, wie auch das berühmte Paar Schuhe[16] ging es in die Kunstgeschichte ein.

Auch wenn das zentrale Thema dieses Artikels der latente Antisemitismus einer späteren Bearbeitung des Bildes von van Gogh ist, scheint es mir wichtig, auf den humanen Gehalt des Bildes hinzuweisen, um zu zeigen, wie zerstörerisch Mohammed al-Hawajri damit umgeht. Die einzelnen Figuren sind mit besonderer Sympathie skizziert.[17] Vincent schreibt an seinen Bruder Theo van Gogh: „Bauern sind eine Welt für sich, in mancher Hinsicht besser als die zivilisierte Welt“. Es geht ihm um Authentizität, nicht unbedingt um eine Utopie, eher eine Erinnerung an zwar raues, aber nicht entfremdetes Leben. So empfindet es zumindest van Gogh.

Die rechte Figur, die alte Frau, die den Kaffee eingießt, macht mit dem ausgestreckten Zeigefinger ihrer linken Hand scheinbar eine zeichenhafte Geste Richtung Boden. Dafür hat van Gogh sie etwas vom Tisch abgerückt und in einen 45° Winkel zu diesem versetzt. Es könnte eine unwillkürliche Geste sein, auffällig ist aber der pointiert ausgestreckte Zeigefinger. Dagegen ist die hintere, gedrungene kleine Figur zurückhaltender skizziert, auch sie hat etwas zu große Hände, ist aber ansonsten nicht auffällig. Beide bekommen dann in der Adaption eine besondere Rolle.

Al-Hawajris Farmerfamilie

Vielleicht ist es ganz hilfreich, sich zunächst den historischen Kontext des betrachteten Bildes zu vergegenwärtigen, also insbesondere den Gesamtzyklus und die Ereignisse der Entstehungszeit.

Der Zyklus, zu dem das Bild gehört, trägt den durchaus zu problematisierenden Titel „Guernica – Gaza 2010 – 2013“ und stellt so eine Beziehung zwischen den nationalsozialistischen Angriffen auf die kleine baskische Stadt Gernika 1937 und den Reaktionen Israels auf die Raketenangriffe aus dem Gazastreifen her. Das zugrundeliegende Mem lautet: So wie die Nationalsozialisten sich zu Gernika verhielten, so verhält sich Israel zum Gazastreifen bzw. Gaza-Stadt. Nach den Beispielen der IHRA-Definition für Antisemitismus wäre das ein klares Beispiel für israelbezogenen Antisemitismus. Veröffentlicht hat der Künstler die Bilder in Gaza laut Katalog mit Unterstützung des Danish Centre for Culture and Development in Palestine.

Im zeitlichen Kontext des Titels (2010-2013) macht es eigentlich nur Sinn, wenn sich das Bild auf die „Operation Gegossenes Blei“ im Jahreswechsel 2008/2009 bezieht, denn die nächste größere israelische „Operation Wolkensäule“ fand erst Ende 2012 im Gazastreifen statt. Zu diesem Zeitpunkt ist der Zyklus laut Katalog bereits fertiggestellt und die Kommentare zu den Bildern sind schon geschrieben.[18] Das deckt sich mit späteren Erklärungen des Künstlers, er sei durch die „Operation Gegossenes Blei“ politisiert worden. 2017 erklärt “This Week in Palestine” Hawajri zum Künstler des Monats und schreibt dazu:

Whereas Al Hawajri early in his career tried to separate his art from politics, his approach changed in the wake of the Israeli attack in 2008–2009. He explains, “My innermost feelings deeply affected my artwork and express my repulsion to that ugly attack. Ironically, this took place while I was in exile in Paris. … In “Guernica” (2013), supported by the Danish Centre for Culture and Development in Palestine, Al Hawajri represented paintings by Picasso, Dali, Van Gogh, Chagall, and others, superimposing via Photoshop photographs of contemporary Gaza’s environment and recent violent events to explore the condition of war and anxiety.[19]

Ob der Umgang mit der europäischen Kunstgeschichte tatsächlich dazu dient, die Bedingungen des Gaza-Krieges und der dadurch ausgelösten Angst zu untersuchen, oder doch nicht vielmehr dazu, Entsetzen bei europäischen Betrachter:innen zu erzeugen, wäre noch zu fragen. Letzteres scheint mir wahrscheinlicher, der propagandistische Aspekt überwiegt den heuristischen. Deutlich ist wohl, dass Al Hawajris Arbeiten unmittelbar politischen Zwecken dienen sollen. Die Frage ist nun, mit welchen Mitteln das geschieht und auf welche Stereotypen der Künstler dabei zurückgreift. Belässt er es dabei, alte europäische Kunst mit Fotos der Folgen der Operation Gegossenes Blei zu kontrastieren, oder geht er in seiner Kunst einen Schritt weiter?

Gegenüber seinem Vorbild von Vincent van Gogh hat Mohammed al-Hawajri die Szene dramatisch verändert, er hat in einem gewissen Sinn keinen Stein auf dem anderen gelassen. Zunächst einmal reißt er die Kartoffelesser einfach auseinander, die Inszenierungen am linken und rechten Rand behält er weitgehend bei (auf einzelne Detailveränderungen komme ich gleich noch zu sprechen), dafür öffnet sich jetzt in der Mitte ein breiter Freiraum. Dort, wo eben noch die Hauswand war, hat offenbar – das müssen die Betrachter:innen annehmen – eine israelische Bombe die Hauswand abgerissen und zwar so, dass man nun einen unmittelbaren Blick auf die Ereignisse in der gegenüberliegende Stadtkulisse hat, während hoch in der Luft eine F16I des israelischen Militärs abdreht. Das ist ein verbreitetes Motiv bei den Pressefotos aus dem Gazastreifen, die Suggestion der Familie, die gerade noch am Tisch sitzt und dann scheinbar vom Bombardement überrascht wird.

Die Betrachter:innen begreifen: ein militärischer Angriff der IAF[20] hat mehrere Häuser getroffen und dabei auch die Hauswand des Hauses, in dem von Goghs Kartoffelesser saßen, zerstört. Davon ist nun auch einer der Beteiligten im Bild betroffen – jener, der seine Kaffeeschale erhoben hatte, um sich von der rechten Frau nachschenken zu lassen. Wir sehen ihn am unteren Bildrand quer auf dem gelängten Esstisch liegen. Ob er tot ist oder nur verwundet, lässt sich schwer entscheiden, seine Augen sind noch geöffnet, sein linker Arm ist erhoben, der ausgestreckte Zeigefinger seiner Hand deutet auf irgendein imaginäres Geschehen im Raum.

Extrem auffällig ist die so entstandene Körpergröße des Mannes. Vergleicht man ihn mit dem Körper der rechts neben ihm sitzenden Frau und legt bei dieser eine Normgröße zugrunde, dann müsste er fast 260 cm groß sein. Das ist grotesk – zumal er im Original von Vincent van Gogh nicht besonders auffällig in der Größe war. Er ist dort eher ein Pykniker bzw. endomorph geprägt. Die Gründe, ihn so groß zu präsentieren, können eigentlich nicht künstlerischer Art sein (dafür gibt es wenig Anlass), sondern nur ideologischer Art (er soll eine politische Botschaft transportieren). Was heißt das? Gibt es einen bisher nicht wahrgenommenen Subtext, der es erzwingt, dass die verletzte bzw. getötete Person derart grotesk über die ganze Breite des Bildes gestreckt wird? Und inwiefern wird durch diese groteske Streckung der Figur die Aussage des gesamten Bildes verändert – geradezu dramatisch verändert?

Der Schritt zum Antisemitismus – Oder: die Juden als Christusmörder

Eine gewisse Zeit habe ich gedacht, das Bild von al-Hawajri sei israelkritisch bzw. antizionistisch, es sei ein Bild, das aus subjektiver und parteiischer Perspektive Zeugnis vom Bombardement der Häuser durch die IAF ablegt. Kunstwerke dürfen ja parteiisch sein, das ist ihr Recht. Sie sind keine Pressefotografien. Auch Picassos „Massaker in Korea“ ist ja ein höchst parteiisches Bild, das die realen Verhältnisse keinesfalls einfängt, wohl aber reale Ereignisse aufgreift. In diesem Sinne hatte auch Meron Mendel, der Leiter des Anne-Frank-Hauses, zu Beginn der documenta davon gesprochen, dass man die Arbeiten von Mohammed Al-Hawajri nicht als antisemitisch deuten müsse, sondern sie als künstlerische Reflexion subjektiver Erfahrungen im Gaza-Streifen und in Gaza-Stadt deuten könne. Dem hatte ich mich seinerzeit auch angeschlossen.

Dann aber entdeckte ich ein Detail auf der Kartoffelesser-Adaption von Mohammed Al Hawajri, welches ich bis dahin schlicht übersehen hatte (ohne mir heute noch erklären zu können, warum eigentlich. Wollte ich es nicht sehen?)

Und dieses Detail sind die nackten Füße auf dem Tisch, genau an der Stelle, wo vorher die Schale mit den Kartoffeln stand. Ich musste zweimal hinblicken, schwenkte dann den Blick nach rechts und sah, dass sie tatsächlich zu der Figur gehörten, die ursprünglich auf der anderen Seite des Tisches gesessen hatte und nun horizontal auf dem Tisch lag, weil sie bei der Sprengung der Hauswand verletzt oder getötet worden war. Sie ist – wie bereits erwähnt – das zentrale zu beklagende Opfer auf dem Bild. Während aber die Figur selbst auf dem Ursprungsbild vorhanden war, nur eben an einer anderen Stelle, sind die nackten Füße eine explizite Zufügung durch den palästinensischen Künstler. Sie sind deshalb als Marker im Bild zu verstehen. Und in diesem Falle halte ich sie für einen Marker des dezidierten Antisemitismus‘, indem sie das Bild in einen historischen Kontext einordnen, der extrem aufgeladen ist.

Zunächst einmal: was bringen dem Künstler die nackten Füße im Bild – sie sind eigentlich durch nichts erzwungen? Und vor allem: was ändern sie? Sein Bild erzählt ja ein Sequel zu van Goghs Bilderzählung: die beieinandersitzenden Kartoffelesser werden von kriegerischen Ereignissen überrascht, eine Bombe reißt die Hauswand ein und verletzt / tötet einen Hausbewohner. Aber wie erklärt es sich dann, dass das Einzige, was die Detonation am Körper des Opfers bewirkt, die Entfernung seiner beiden Schuhe ist? Das ist doch absurd! Man kann sich vieles vorstellen – das aber nicht. Die nackten Füße können also nicht durch die Detonation erklärt werden, sie müssen im Blick auf die Betrachter:innen und ihre intentio lectoris eine Leerstelle bzw. einen Code darstellen, mit dessen Hilfe dem Bild eine bestimmte Bedeutung zugewiesen wird.

Ich meine nun zeigen zu können, dass auf bestimmte kunsthistorische Werke angespielt wird, was dann einen spezifischen Deutungskontext erzeugt. Etwa Hans Holbeins (hier zur besseren Vergleichbarkeit gespiegelte) Bild mit dem getöteten und verwesenden Christus im Grab.

Ist es denkbar, dass Mohammed Al-Hawajri ganz bewusst eine Christusadaption eingebaut hat, um damit Assoziationen an die „Christusmörder“ zu wecken? Das Mem würde dann lauten: So wie Christus durch die Juden starb, so sterben auch die Palästinenser durch die Israelis? Und das wäre eine analoge Konstruktion zu dem Mem, das durch den Guernica-Gaza-Titel des gesamten Bilderzyklus‘ konstruiert wird: So wie die Nationalsozialisten sich zu Guernica verhielten, so verhält sich Israel zum Gazastreifen bzw. Gaza-Stadt.

Das würde auch den grotesk verzerrten Finger erklären, den Mohammed Al-Hawajri von der Kaffee-Frau auf den Verletzten bzw. Toten transplantiert hat. Er wäre eine direkte Reminiszenz an Holbeins Bild, auf dem Christus ja den Zeigefinger analog ausstreckt. Ist es wirklich denkbar, dass sich das so im Kopf des Künstlers abgespielt hat? Immerhin handelt es sich ja um einen Dreischritt: die Figur auf den Tisch packen und extrem dehnen, die Hand der Frau ausschneiden und der Figur, die in der Vorlage ja keine linke Hand hat, anpassen. Wenn das beabsichtigt ist, wäre es infam.

Gibt es weitere Indizien im Bild, die meinen Verdacht erhärten? Ja, die gibt es, dazu müssen wir nur auf die rechte Seite des Bildes schauen. Und dann erkennen wir, dass der Künstler die Frau rechts aus van Goghs Vorlage bewusst so umgestaltet hat, dass aus ihr eine klassische Pieta wird. Dazu musste er ihre linke Hand, die ja eigentlich mit dem Zeigefinger auf den Boden zeigt, während die anderen Finger gebeugt sind, amputieren und durch eine (wiederum grotesk vergrößerte) Hand ersetzen, bei der alle Finger ausgestreckt sind, um den Kopf des Getöteten zu umfassen. Und dementsprechend musste bei der rechten Hand die Teekanne entfernt werden, so dass sich eine offene Armbewegung ergibt. Und nun schaut die Frau auch nicht mehr ins Leere, sondern direkt auf das Opfer vor ihr. Ja, Mohammed Al-Hawajri hat aus der van Gogh‘schen Kaffeetrinkerin eine Pieta geformt.

Wenn das aber so ist, wofür einiges spricht, dann fragt man sich sofort, welche Funktion die anderen drei Figuren auf der linken Seite des Bildes in der Neukonzeption bekommen. Und schlagartig wird einem klar, dass wir es hier tatsächlich mit einer Beweinung zu tun haben.

Die Beweinung Christi ist eine Figurenkonstellation, die den normalerweise fast unbekleideten Christus liegend darstellt, seine Mutter Maria als Trauernde hervorhebt (Pieta) und einige Figuren beistellt, die die Trauerklage teilen. Genau das ist es, was wir hier vor uns haben.

Und schließlich könnten sich die grotesken Verzerrungen im Bild – die Figur, die Hände, der Tisch – als gar nicht so subtile Anspielung auf die „Operation gegossenes Blei“ erklären. Und so ergibt das Ganze Sinn, freilich keinen guten. Es ist ja das eine, unter Rückgriff auf ein bedeutendes Werk von Vincent van Gogh das Leiden des palästinensischen Volkes zu vergegenwärtigen, indem die Kartoffelesser mit der Lebenssituation der Palästinenser in Gaza-Stadt verglichen und in Verbindung gebracht werden. Das ist durchaus legitim, ein zu akzeptierendes künstlerisches Mittel, seine Sicht der Welt einsichtig zu machen. Etwas völlig anderes ist es, diese Erfahrungen mit einer visuellen Assoziation zu verknüpfen, die das heutige Israel mit der antisemitischen Erzählung von den Christusmördern in Verbindung bringt. Genau das macht Mohammed Al-Hawajri und exakt an dieser Stelle wird von ihm die Schwelle zum Antisemitismus überschritten. Ihm muss klar sein, dass unter Bezug auf diesen Vorwurf Millionen Juden ermordet wurden. Wenn man den Vorwurf wiederholt, eignet man ihn sich an. Das macht es unmöglich, dass ein derartiges Werk auf einer Weltkunstausstellung gezeigt wird. Das habe ich am Anfang nicht erkannt, weil ich die Codes und Leerstellen dieses Bildes nicht gesehen habe. Das war ein Fehler.

Beispiel 2 – Die Adaption des Bildes „Saturn frisst seine Kinder“ von Goya


Galerie-Simulation: Vorbild und Adaption im Vergleich

Auch bei meinem zweiten Beispiel, das mein Urteil über die Bilder von Mohammed Al-Hawajri veränderte, trennen bald 200 Jahre das künstlerische Vorbild von seiner künstlerischen Adaption. Das Vorbild entstand vermutlich in einer subjektiv extrem zugespitzten Situation eines Künstlers, der seinen Hörsinn verloren hatte und mit der gesamten Welt haderte, insbesondere aber mit den Autoritäten und Institutionen. Das Bild stammt von Francisco de Goya, es ist sehr eindringlich, geradezu ikonisch, wer es jemals gesehen hat (es hängt heute im Prado in Madrid), vergisst es nie wieder.

Die Adaption durch den palästinensischen Künstler allegorisiert das Bild politisch, in dem es zeitgenössische Fotoelemente aus dem Nahost-Konflikt einfügt und die Vorlage so in den weiteren Kontext einer regionalen Kontroverse stellt.

Auch hier ist allein schon vom Format her ein großer Unterschied wahrzunehmen. Goyas Vorlage ist ein klares Hochformat, Mohammed Al-Hawajris Adaption ist ein kleiner Tondo mit 60 cm Durchmesser. Skaliert man das Tondo auf die gleiche Bildhöhe, erkennt man die Probleme, vor denen die Adaption in Form eines Tondo steht. Will man Saturn mittig platzieren, entstehen riesige dunkle Farbräume, die aber kaum gefüllt werden können, ohne den Effekt der Vorlage zu zerstören. Also muss man Ergänzungen eintragen, um die Bildbalance zu erhalten.

Der Mythos

Vielleicht ist es am Sinnvollsten, erst einmal die zugrundeliegende Mythologie kennenzulernen, bevor man sich Goyas Darstellung widmet. Der Mythos, auf den Goya sich in seiner Darstellung bezieht, ist Teil der römischen Mythologie über Saturn. Die Erzählung geht auf die altgriechische Mythologie zu Kronos zurück, der dem römischen Saturn entspricht. Ich zitiere hier einmal ausführlicher aus Wilhelm Vollmers „Wörterbuch der Mythologie“ in der Ausgabe von 1874.[21]

Kronos, der Sohn des Uranus und der Gäa, war unter den Titanen der Listigste. Seine Mutter hatte die Centimanen und Cyclopen geboren, welche ihrer furchtbaren Gestalt und Stärke wegen von Uranus in die Unterwelt gesperrt worden waren; dieses hatte die Mutter sehr erzürnt, und sie tat den Jüngsten ihrer Kinder den Vorschlag, ihre Brüder an dem Vater zu rächen, wovor sie alle zurückschauderten; nur S. tat, was sie gewünscht: mit einem scharfen Messer versehen, verbarg er sich bei seiner Mutter, und als Uranus in der Nacht zu der Gattin kam, entmannte ihn S. und warf nach vollbrachter Tat die Werkzeuge auf die Erde herab, wodurch dieselbe befruchtet wurde. Der Uranide vermählte sich dann mit seiner Schwester, der Titanide Rhea, und aus dieser Ehe entspross das ganze, die Welt beherrschende Göttergeschlecht: Pluto, Vesta, Ceres, Neptun, Juno und Jupiter.
Kronos wusste aus einer Prophezeiung seiner Eltern, dass er durch eines seiner Kinder vom Thron gestoßen werden würde; um dieses zu verhüten, fraß er alle seine Kinder gleich nach der Geburt, bis auf Jupiter, an dessen Stelle Rhea ihm einen in Windeln eingehüllten Stein gab. Der jüngste Sohn, auf diese Weise gerettet, wuchs schnell, schon in einem Jahre, zu außerordentlicher Größe und Stärke heran, und erhielt von der Metis (Klugheit) ein Brechmittel, welches er dem Kronos gab, worauf dieser alle die verschlungenen Kinder samt dem Stein wieder auswarf. Den Stein legte Jupiter zum Andenken an seine wunderbare Errettung am Fuß des Parnassus nieder, verband sich mit seinen Brüdern und Schwestern zum Sturz des Kronos, tat ihm, wie dieser seinem Vater getan hatte, und strebte nach der Herrschaft …[22]

Unschwer erkennt man eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Märchen vom Wolf und den sieben Geißlein, nur dass es hier nicht um die Gegenwelt (den Wolf) geht, sondern um Familienverhältnisse. Deutlich ist aber, dass man sagen muss, dass Kronos / Saturn seine Kinder nicht frisst, sondern sie (wie der Wolf im Märchen) verschlingt, sonst könnten sie später nicht lebendig ausgespuckt werden. Kunstgeschichtlich hat das Motiv einen deutlichen Schwerpunkt im 16. und 17. Jahrhundert im Zusammenhang mit den Darstellungen von Planeten und Sternzeichen.

Francisco Goya: Saturn verschlingt seine Kinder, 1821-23

Goyas traditionell unter dem Titel „Saturn frisst seine Kinder“ erörtertes Bild stammt aus einer Serie von Arbeiten, die üblicherweise als seine „Pinturas negras“ (Schwarze Bilder) bezeichnet werden und 14 Artefakte umfasst. Sie stellen intensive, eindringliche Themen dar, die sowohl seine Angst vor dem Wahnsinn als auch seine düstere Sicht auf die Menschheit widerspiegeln. Diese Arbeiten hat Goya zwischen 1819 und 1823 direkt auf die Wände seines Hauses gemalt. Nach seinem Tod wurden sie auf Leinwand übertragen und befinden sich nun im Prado in Madrid. Das Saturn-Bild wurde von Goya zusammen mit fünf weiteren Bildern im Speisesaal gemalt.[23] 

Goya stellt uns auf seinem Wandbild eine große Figur vor Augen, die im Begriff ist, eine deutlich kleinere Figur zu verspeisen. Der Kopf der kleinen Figur und ihr rechter Arm wurden schon gefressen, und nun beißt die größere Figur in den linken Arm seines Opfers. Die Szene taucht aus tiefer Dunkelheit empor, der Mund der Figur ist weit geöffnet, die Augen quellen hervor und betonen den Eindruck des Wahnsinns. Seine Helligkeit bekommt das Bild vom weißen Fleisch des Opfers, seinem roten Blut und den weißen Knöcheln der größeren Figur, der seine Finger bestialisch in den Rücken des kleinen Körpers gräbt.

Es ist ein überaus verstörendes Bild, das man nicht einfach so „ästhetisch“ goutieren kann. Es fordert in seiner Monstrosität die Betrachter:innen heraus, die zugleich wissen, dass das Bild im Vergleich zur Wirklichkeit, zu dem, was Menschen anderen Mensche antun, durchaus zutreffend ist. Nur dass wir das in der Regel nur Erzählungen vermittelt bekommen und es uns hier vor Augen geführt wird. lupus est homo homini, non homo, quom qualis sit non novit schreibt Maccius Plautus: Ein Wolf ist der Mensch dem Menschen, kein Mensch, solange er nicht weiß, welcher Art der andere ist. Und in dieser Hinsicht könnte das schwarze Bild von Francisco Goya ein Programmbild sein.

Bereits einige Jahre zuvor hatte Francisco Goya eine Kreidezeichnung mit demselben Motiv gemalt, nur dass es nicht ganz so verstörend aussah. Wir sehen auf der Zeichnung eine bessere Anbindung an die römische Mythologie, insofern Saturn nicht nur ein, sondern mehrere Kinder zu verschlingen beginnt.

Über die zutreffende Interpretation der Saturnbilder gibt es eine kontroverse Debatte. Fraglich ist zum einen, ob das Wandgemälde tatsächlich Saturn darstellt, oder ob hier nicht weitergehende Aussagen über den Krieg, der alles verschlingt, oder über das Verhältnis von Jungen und Alten getroffen werden. Das muss im Detail bedacht werden, die Spielräume der Interpretation sind groß.

Zwischenfrage zum Thema

Was aber wäre, wenn Goyas Bild gar nicht das zeigt, was der später von Kunsthistorikern hinzugefügte Titel „Saturn frisst seine Kinder“ behauptet? Wir neigen ja dazu, genau das in den Bildern zu sehen, was auf dem kleinen Schild neben dem Werk steht und vergessen oft dabei, dass derartige Titel oft erst sekundär mit den Objekten verbunden wurden. Das ist auch hier der Fall, da Goya ja nie daran gedacht hat, das Bild in die Öffentlichkeit zu bringen oder zu verkaufen, sondern es im privaten Wohnhaus einfach an die Wand malte. Befreien wir uns also einmal von der Vorstellung, es handele sich um den seine eigenen Kinder im Interesse des Machterhalts verschlingenden Saturn: welche Bilddeutung käme noch in Frage? Eine erste Möglichkeit wäre, dass Goya hier symbolisch auf den militaristischen Staat zielt, der seine eigenen Landeskinder im Krieg opfert, sie verschlingt. Das ist eine für die damalige Verfassung Goyas nicht unplausible Deutung.

Eine weitere Möglichkeit wäre, dass es sich bereits bei Goyas Wandbild um ein antisemitisches Werk handelt: wir sehen einen Juden, der ein (christliches) Kind verspeist. Das würde zu den mittelalterlichen Kindermordlegenden passen und ist auch kunstgeschichtlich überliefert, etwa beim sog. Kindlifresserbrunnen vom Anfang des 16. Jahrhunderts in Bern.[24] Es wäre zumindest kein undenkbares Motiv. Aber auch diese antisemitischen Motive leben davon, dass sie mit dem Mythos des Saturn verbunden bleiben. Was gegen die Deutung als antijudaistisches Werk spricht, ist der Tatbestand, dass sich Goya seit den Caprichos (1793-99) insbesondere den marginalisierten, unterdrückten Gruppen der Gesellschaft zugewandt hat und die Arbeit der Inquisition zutiefst ablehnt. Warum sollte er bei Juden anders denken?  

Der renommierte Kunsthistoriker Fred Licht hat daher in seinem Buch über Goya und die Kunst der Moderne vorgeschlagen, darüber nachzudenken, ob es sich nicht auch um ein radikal anti-antisemitisches Werk handeln könne:

Licht offers the alternative explanation that the painting is an inversion of antisemitic artistic depictions of Jewish figures eating children, a reference to the alleged blood libel. In this way, the larger figure represents the fears of Jews manifesting in real violence against them, as "real bestiality is born of imagined bestiality," although he concedes this is impossible to prove and, like the Saturn interpretation, demonstrates the varied intent of Goya in the composition.[25]

Dann wäre Goyas Arbeit das zentrale Programmbild zu unserem Thema: wie antisemitische Bilder reale Gewalt gegen Juden auslösen können. Aber das ist leider nur eine hoffnungsvolle Interpretation, die Wirklichkeit der Bildrezeption dürfte eine andere sein.

Mohammed Al-Hawajri, The Governor Devouring his son, 2012

Mohammed al-Hawajri greift die schwarze Wandmalerei von Francisco de Goya auf und transformiert eine digitale Reproduktion des Bildes mit Photoshop in eine, wie er schreibt, zeitgenössische Form, die sich auf den Konflikt in Israel / Palästina bezieht.[26] Nun ist, wie bei allen anderen Kunstwerken, die Mohammed Al-Hawajri der europäischen Kunstgeschichte entnimmt und transformiert, der Weg von einem Kunstwerk vom Beginn des 19. Jahrhunderts zu den Konflikten in Palästina und Israel seit der Mitte des 20. Jahrhunderts ziemlich weit. Um also zeitgenössisch zu werden, muss der Künstler identifizierbares Material aus den Konflikten in Israel/Palästina irgendwie in seine Vorlage einbauen. In diesem Fall „schiebt“ er die ursprüngliche Darstellung in den Hintergrund (sie ist der konnotative Background) und überlagert sie mit einem weiteren Geschehen im Vordergrund. Dadurch werden zwar einige Teile der Vorlage überdeckt, aber diese bleibt weiterhin gut erkennbar.

Das eingeschobene Foto ist nicht überaus deutlich. Wenn ich es recht sehe, zeigt es uns, wie drei (vermutlich israelische) Soldaten oder Polizisten eine (vermutlich palästinensische) Frau mit Hidschab entkleiden (oder doch so bedrängen, dass ihr die Kleidung verrutscht und ihr BH sichtbar wird), sie verprügeln und sie sogar mit Füßen treten, während ein vierter Vertreter der Ordnungsmacht völlig unbeteiligt danebensteht und sich von der Szene abdreht (oder auch mit seinen Vorgesetzten telefoniert).

Die Fotovorlage für dieses Detail habe ich nicht finden können, vielleicht ist das Foto selbst auch noch einmal mit Photoshop bearbeitet. Damit will ich nicht sagen, dass die Szene nicht so oder so ähnlich stattgefunden hat, ich halte das sogar für wahrscheinlich. Nur erfährt man über den tatsächlichen Kontext nichts, man wird der moralischen Anmutung ausgesetzt, dass Ordnungskräfte eine wehrlose Frau angehen und soll das verurteilen.

Was zumindest auf den ersten Blick schwierig erscheint ist die Konstellation des Fotos mit dem Kunstwerk von Goya. Was ist der sachliche Zusammenhang? Gibt es auf der inhaltlichen Ebene eine Verbindung von Polizeigewalt zur mythologischen Erzählung? Was bedingt bzw. erzwingt es, den ja doch eigentlich stellaren Familienkonflikt (Saturn gegen Pluto, Vesta, Ceres, Neptun, Juno und Jupiter) mit den Bildern der Polizeiaktion zusammenzubringen?

Nun hatten wir schon gesehen, dass in der Interpretation des Bildes von Goya auch diskutiert wurde, ob es sich nicht um ein Symbolbild für den militaristisch aufgeladenen Staat handelt, der seine Landeskinder im Krieg verheizt. Aber wenn man dieses auf die Adaption übertragen würde, dann wäre Saturn ja mit dem Staat Israel zu identifizieren, der seine eigenen Landeskinder (dann aber wohl nicht die Palästinenser) verschlingt. Es ist ja nicht wie beim Märchen vom Wolf mit den sieben Geißlein, bei dem der Aggressor das Fremde verspeist, sondern beim Mythos des Saturn geht es um einen Konflikt im Familienverband. Und auch die Soldaten bzw. Ordnungskräfte können aus dem gleichen Grund nicht mit Saturn und die Palästinenserin nicht mit Jupiter assoziiert werden. Die Beziehung zwischen Vorlage und Adaption kann also nicht die der Analogie sein, oder es wäre eine schiefe Analogie.


Der Schritt zum Antisemitismus – Oder: die Juden als Kindermörder

Was wäre eine alternative Deutung? Wenn man die Vorlage, wie oben ja schon erörtert, von der engen Bindung an die römische Mythologie löst, und ihr Konnotationen beilegt, die sich im Mittelalter aufgrund der Verknüpfung von Saturn und Schabbat ergeben haben, dann kommt man der Lösung vielleicht näher. Mir scheint, dass man das Bild noch einmal genauer unter diesem Gesichtspunkt befragen muss.

Die Frage ist, ob wir wirklich schon alle Codes im Bild von Mohammed Al-Hawajri erfasst haben? Könnte der Künstler noch andere Assoziationen aufrufen, die uns vielleicht nicht bewusst oder nicht mehr präsent sind? Der Mythos des Saturn erzählt ja, dass dieser zunächst seinen Vater überwältigt und kastriert habe und dann seine Kinder gefressen habe. Nur Jupiter entkam ihm und konnte ihn später stürzen. Da Schabbat und der sog. Dies Saturnus auf den gleichen Tag fielen, wurden sie bereits in antiker Zeit häufig gleichgesetzt. Ist es denkbar, dass der Künstler auf diese Gleichsetzung anspielt und sie allegorisch im Blick auf Israel deutet? In direkter Übertragung macht es – wie gesagt – wenig Sinn, denn dann müsste das palästinensische Volk mit Uranos assoziiert werden, der nun von Saturn = Israel bedroht und kastriert wird und vor Angst, seine Macht zu verlieren, seine eigenen Kinder verspeist. Daraus wird keine stimmige Erzählung, die sich in die palästinensische Narratio einordnen lässt.

Tatsächlich zeigt ein Blick in die Bildgeschichte des ausgehenden Mittelalters wie auch in die propalästinensische Propaganda des beginnenden 21. Jahrhunderts, dass das Motiv vom Saturn, der seine Kinder verschlingt, ein fester antisemitischer Code, eine Chiffre für geteilten Antisemitismus ist. Das Bildgedächtnis der Antisemiten reicht tief ins europäische Mittelalter und versucht diese Bilder in der Gegenwart zu re-aktualisieren.

In der Kritik am Staat Israel und seinen Aktionen reicht daher eine knappe Anspielung auf Goyas Werk, um „den Juden“ oder einem Vertreter „der Juden“ wie Ariel Scharon, Mord an Kindern zu unterstellen.

2003, also knapp 10 Jahre vor den Arbeiten von Mohammed Al-Hawajri erscheint in Großbritannien folgende Karikatur und wird dann auch noch – man kann sich das eigentlich gar nicht vorstellen – zum politischen Cartoon des Jahres gewählt:

Sharon opens his mouth wide for eating a Palestinian child. The additional images around him may be meant to emphasize Sharon’s alleged violent character. Text: “What’s wrong... You never seen a politician kissing babies before? / Vote Likud...” (The Independent, Dave Brown, January 2003) First prize-winner of the Cartoon of the Year in the UK.

Es ist offensichtlich, dass wir hier eine direkte Adaption von Goyas „Saturn verschlingt seine Kinder“ vor uns haben. Sie ist so gesehen eine feste Chiffre im antisemitisch aufgeladenen anti-israelischen Propagandakrieg.

Und sie kann anknüpfen an Bilder des Mittelalters, die scheinbar den römischen Mythos bloß aufgreifen, ihn aber in Wirklichkeit in eine judenhassende Variante transformieren. Auf einem Holzschnitt in einem Almanach des Nürnberger Druckers Peter Wagner 1492 geschieht das so, dass die zentrale Figur des Saturn durch Ausstattung (Hut, Ring) als Jude gekennzeichnet wird. Durch diese Kennzeichnung tritt das Motiv „Ein Jude verschlingt Kinder“ in den Vordergrund.

Ordnet man Mohammed Al-Hawajris Adaption von Goyas “Saturn verschlingt seine Kinder“ in diese Linie ein, muss man sagen, dass man sie zumindest von antisemitischen Konnotationen nicht freisprechen kann. Aber, seien wir ehrlich, in Wirklichkeit wird die antisemitische Karte hier ziemlich direkt gespielt – man muss nur genau hinschauen.


‚Wie erkennt man, dass dieses Kunstwerk antisemitisch ist?‘

Am Anfang dieses Artikels schrieb ich, dass ich Auskunft geben wollte von einem Lernprozess, den ich selbst durchlaufen habe und in Folge dessen ich meine Meinung über einen Künstler und seine Bilder modifiziert habe. Am Anfang dieses Lernprozesses stand die Begegnung mit den Kunstwerken aufgrund von Pressemeldungen von Anfang Juni 2022, die die Arbeiten entweder als israelkritisch, antizionistisch oder eben als antisemitisch qualifizierten. Und damals dachte ich, es muss doch das Recht palästinensischer Künstler:innen sein, über ihre höchst subjektiven Erfahrungen in Gaza und im Westjordanland Auskunft zu geben. Das gehört zur demokratischen Kultur, das gehört zur Freiheit der Kunst. Das meine ich weiterhin. Ich sehe nun aber auch, dass einige palästinensische Künstler weitergehen, dass sie aus der Geschichte Codes aufgreifen, die zwingend als antisemitische gelesen werden müssen, und dass sie diese subtil in ihre Werke einbauen. Deshalb muss man ihre Werke nicht verbieten oder abhängen, wie manche das nun fordern, die nur in obrigkeitsstaatlichen Kategorien von Erlaubnis und Verbot denken können. Aber man muss es benennen, muss sagen und zeigen, was hier passiert und wie das geschieht. Man erkennt den Antisemitismus, wenn man sich die Werke genau anschaut, sie detailliert und sorgfältig in ihrer Bildsprache analysiert und zur Bildgeschichte des Antisemitismus in Beziehung setzt. Nur selten klebt das Etikett „antisemitisch“ direkt auf den Bildern – oft ist es nur ein Detail, eine Erinnerung, eine Anspielung, die den entsprechenden Kontext herstellt: ein Paar nackte Füße, die Krümmung eines Fingers, eine Christusadaption mit Pieta, die Gleichsetzung von Saturn und Judentum, die mittelalterlichen Legenden. Und dann wird es offensichtlich.

Anmerkungen

[1]    Vgl. u.a. Wiesemann, Falk (2005): Antijüdischer Nippes und populäre "Judenbilder". Die Sammlung Finkelstein. Essen: Klartext-Verl.

[2]    Evangelische Kirche im Rheinland: Der Jude als Verräter. Antijüdische Polemik und christliche Kunst: eine Arbeitshilfe zum Wittenberger "Reformationsaltar" von Lucas Cranach dem Älteren im Kontext des christlich-jüdischen Verhältnisses (2014?). Düsseldorf. [PDF]

[3]    Detmers: Antijüdische Motive Vgl. auch A. Detmers, Reformation und Judentum. Israel-Lehren und Einstellungen zum Judentum von Luther bis zum frühen Calvin, Stuttgart 2001, bes. 42-62.

[4]    Vgl. Verf. (2018): Dialektik der Aufklärung. Neue Nachrichten zum Gebrauch des Wortes „alttestamentarisch“. In: tà katoptrizómena - Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 20, H. 113. Online verfügbar unter https://www.theomag.de/113/am629.htm.

[5]    Man kann am lupenreinen Antisemiten Attila Hildmann sehr gut verfolgen, wie er anfangs Begriffe wie „Zionisten“ als Tarnbegriffe für seinen Antisemitismus nutzte. Als er dann in die Türkei flüchtete, war das nicht mehr notwendig und stante pede nutzte er wieder die klassische Antisemitensprache.

[7]    Mertin, Andreas (2022): Wenn Bilder töten | Wie wir mit der vergifteten Documenta fifteen umgehen sollten. Online verfügbar unter https://www.zeitzeichen.net/node/9857

[8]    https://de.wikipedia.org/wiki/Antideutsche
Das Bündnis gegen Antisemitismus Kassel, das ich dieser Richtung zuordne, definiert gleich schon vorab: There is no anti-zionism, without anti-semitism.

[9]    Der hessische Antisemitismusbeauftragte Uwe Becker kritisierte die Künstlerische Leitung der documenta scharf. "Wer die klare Feststellung des Expertengremiums der documenta einfach abtut und antisemitische und antizionistische Filme weiter zeigt, die noch dazu Israelhass und die Glorifizierung von Terrorismus legitimieren, der handelt selbst antisemitisch", sagte er laut Mitteilung. "Die Weigerung der documenta-Leitung, die Vorführung der antiisraelischen Propaganda-Filme zu stoppen, ist unerträglich und eine Schande." Nach Vorlage des Expertenurteils gebe es keine anderen Worte für dieses Vorgehen als vorsätzlich antisemitisches Handeln.

[10]   Vgl. Pfahl-Traughber, Armin (2007): Antisemitische und nicht-antisemitische Israel-Kritik. Eine Auseinandersetzung mit den Kriterien zur Unterscheidung. In: Aufklärung und Kritik (1), S. 49–58. Online verfügbar unter http://www.gkpn.de/Pfahl_Antisemitismus.pdf

[11]   Zur Problematik der fotografischen Berichterstattung vgl. diese gute Einschätzung von Richard C. Schneider in der FAZ im Jahr 2014: Gegen die Bilder ist unser Text machtlos.

[12]   Zit. nach facebook

[13]   Es wäre ungewöhnlich, wenn die blau gekleidete Maria rechts vom Kreuz und der rot gekleidete Johannes links von Kreuz stünde, zwar gibt es vereinzelt diese Konstellation, aber eher in der Grafik.

[15]   Die durchschnittliche Höchsttemperatur in Nuenen Mitte Februar ist 6°, die durchschnittliche Tiefsttemperatur ist 0°.

[16]   Vgl. Batchen, Geoffrey (Hg.) (2009): Van Goghs Schuhe. Ein Streitgespräch. Leipzig: Seemann Henschel.

[17]   Allerdings gibt es auch Darstellungen, die den humanen Impuls in der Arbeit „Die Kartoffelesser“ relativieren. Vgl. dazu https://taz.de/Natuerlich-ungepellt/!1603340/

[18]   Zumindest trägt der online-Katalog das Jahr 2012.

[22]   Vollmer, Wilhelm (1874): Wörterbuch der Mythologie, Stuttgart. Art. Saturnus

[23]   Eine Visualisierung findet sich hier: [Link] 

[25]   https://en.wikipedia.org/wiki/Saturn_Devouring_His_Son
Der Bezugstext von Fred Licht ist Goya: The Origins of the Modern Temper in Art, 1983

[26]   Auf seine Homepage schreibt der Künstler zum Zyklus: “These (art)works is meant to remodel art history and reintroduce it in a contemporary fashion so as to have it correspond to human development, its ideas and tools, themselves being easier and stronger to articulate given technological development. Accordingly, I decided to introduce some of the important (world) paintings by several of the celebrities who left us an artistic legacy without historical measure through their portrayal of scenes of violence in that humanity.  … Through these paintings I want to assert that it is the human who creates troubles and pains for himself through his eternal greed to achieve gains and for material wealth and political and social positions and many other worldly lust. Violence is an unacceptable part of the human psyche. The human is the beginning of the crime of killing. That crime is marked by the sons of Adam (Cain and Abel). In our turn, we inherited it through our modern singular or collective fashioning that extent to armies. Violence has no religion and is not limited to a particular geographic region. For its citizenship is the human heart wherever it exists.”

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/139/am766.htm
© Andreas Mertin, 2022