01. Oktober 2022

Liebe Leserinnen und Leser,

endlich ist jene documenta fifteen vorbei, die einem kunstinteressierten Menschen so viel Schmerzen bereitet hat, wie schon lange kein Ereignis mehr in der Geschichte der zeitgenössischen Kunst. Vielleicht muss man zurückgehen bis in das Jahr 1989, als Andres Serrano sein Kunstwerk Immersion (Piss Christ) ausstellte. Nach öffentlichen Protesten gegen die Ausstellung (u.a. durch Erzbischof George Pell und die beiden Senatoren Al D’Amato und Jesse Helms), die insbesondere auf die Bezuschussung der Ausstellung mit öffentlichen Mitteln durch die National Endowment for the Arts (NEA) zielten, wurde die Einstellung der Finanzierung der NEA diskutiert. Geld aus öffentlicher Hand dürfe nicht für Ausstellungen ausgegeben werden, die Objekte zeigten, die Christen weltweit beleidigen. In der Folge wurde eine angekündigte Ausstellung mit Werken von Robert Mapplethorpe von der Corcoran Gallery abgesagt, weil man Angst vor dem Ende der öffentlichen Förderung hatte. Für diesen Schritt entschuldigte man sich bereits kurze Zeit später. Die Direktorin der Gallery sagt: „Die Corcoran Gallery of Art hat sich bei dem Versuch, die Kontroverse um die NEA-Finanzierung zu entschärfen, indem sie sich selbst aus dem politischen Rampenlicht zurückzog, stattdessen in den Mittelpunkt der Kontroverse gestellt. Durch den Rückzug aus der Mapplethorpe-Ausstellung haben wir, das Kuratorium und der Direktor, versehentlich viele Mitglieder der Kunstgemeinschaft beleidigt, was wir zutiefst bedauern. Unser Kurs für die Zukunft wird sein, Kunst, Künstler und Meinungsfreiheit zu unterstützen.“ Man muss das im Hinterkopf haben, wenn in Deutschland so vehement von konservativen Kreisen (nicht im politischen, sondern im kulturpolitischen Sinn) das Ende der Förderung der documenta oder auch Strukturveränderungen der Ausstellung gefordert werden. Die internationale Kunstgemeinschaft kennt derartige Versuche überall in der Welt und so wie die Diskussion in Deutschland abgelaufen ist, bilden wir da leider keine rühmliche Ausnahme. Sollten die Kurator:innen der documenta fifteen ihre zuletzt ausgesprochene Drohung wahrmachen, ihr Lumbung-Prinzip künftig weltweit als Gegen-documenta zu veranstalten, kann diese sich wohl nicht mehr Weltkunstausstellung nennen.

Und so wird auch diese Ausgabe des Magazins für Theologie und Ästhetik sich noch einmal mit der documenta fifteen beschäftigen. Denn zum einen gab es ja wirklich viel an der Ausstellung und ihren Kurator:innen zu kritisieren. Für eine Weltkunstausstellung reichte das nicht – zu unprofessionell, zu undurchdacht, zu wenig strukturiert. Das, was vollmundig angekündigt wurde – das kollektive Arbeiten, die Engführung von Kunst und Politik, die Verschmelzung von Ethik und Ästhetik – wurde eben nicht so umgesetzt, dass man als langjähriger Besucher der documenta-Ausstellungen davon überzeugt worden wäre. Es gab ohne Zweifel genug zu sehen, aber wenn einmal Konflikte auftraten, dann wurden sie nicht gemeinschaftlich gelöst. Zum anderen haben es die Kritiker:innen der documenta den Verantwortlichen aber auch schwer gemacht. Gleich zu Anfang waren die rassistischen Töne nicht zu überhören, wurde in einem unerträglichen paternalistischen Ton über die Künstler:innen und Kurator:innen aus dem globalen Süden hergezogen. Bevor man überhaupt nur ein Kunstwerk gesehen hatte, wurde aufgrund von Haltungen und Meinungen die documenta fifteen in Bausch und Bogen verdammt. Dass sich die Kurator:innen davon verletzt fühlten und sich in der Folge einem offenen Gespräch verweigerten, ist nachvollziehbar. Es ist verständlich, aber es hilft der Sache nicht, wenn die Sache „die Kunst, die Künstler:innen und die Kunstfreiheit“ sind. Als wäre die Welt mit Klimakrise, Pandemie und Krieg nicht schon genug gebeutelt, wurde ein Nebenkriegsschauplatz eröffnet, bei dem alle Kombatanten nur allzu selbstgerecht aufeinander einprügelten.

In der Rubrik VIEW versucht Andreas Mertin Lehren aus der documenta fifteen zu ziehen. Er formuliert eine Thesenreihe, in der er seine Besorgnis über eine Kulturpolitik Ausdruck verleiht, die die Kunst wieder unter ihre Fittiche zu bekommen sucht. In einem zweiten Text gibt er Auskunft über seinen Erkenntnisfortschritt bei der Beurteilung einiger Werke der documenta fifteen, die sich als problematischer erweisen, als es der erste Blick vermuten ließ: „Woran erkennt man, dass das Kunstwerk antisemitisch ist?“

In den CAUSERIEN setzt mit Andreas Mertin mit der Tatsache auseinander, dass einige der kirchlichen Kritiker der documenta fifteen die Objekte, über die sie urteilten, eingestandenermaßen gar nicht gesehen hatten. Das hält er für einen Skandal und meint, hier erkläre der religiöse Bock sich selbst zum Gärtner im Garten der Kunst, um diese abgrasen zu können.

Dieses Mal gibt es wieder die Rubrik CINEMA, in der sich Hans J. Wulff mit dem Thema Geld im Kinofilm auseinandersetzt. All das bewege sich zwischen Begehren und Belohnen.

Unter RE-VIEW finden die Leser:innen eine Rezension von Claudia D. Bergmann des Sammelbandes „The Language of Colour in the Bible“. Andreas Mertin stellt kurz das jüngst erschienene Buch „Zur Ethik der Appropriation“ vor und Michael Waltemathe fragt sich, welches Bild von New York wir eigentlich sehen wollen: die gentrifizierten Häuser der Vergangenheit oder das vielschichtige Bild der Gegenwart. Darüber hinaus stellen wir Bücher vor, die Autoren des Magazins in der Zwischenzeit publiziert haben bzw. die sich auf dem Tisch der Redaktion eingefunden haben.

Unter POST stellt Andreas Mertin ein paar statistische Werte zur Geschichte der documenta bereit: Was kostet eigentlich so eine Ausstellung, wie viel steuert die öffentliche Hand und wie viel die Besucher:innen bei und vor allem: wie viele Frauen stellen eigentlich auf der documenta aus.

Für dieses Heft wünschen wir eine erkenntnisreiche Lektüre!

Andreas Mertin, Wolfgang Vögele und Karin Wendt
sowie Jörg Herrmann und Horst Schwebel


Das kommende Heft 140, das zugleich den 25. Jahrgang des Magazins für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik eröffnet, wird eine Festschrift für unseren Mit-Herausgeber Wolfgang Vögele, der 2022 einen runden Geburtstag feierte.

Heft 140

FS Wolfgang Vögele

1.12.2022

2023

Heft 141

Welche Theologie?

1.02.2023

Heft 142

Playlist Art & Culture

1.04.2023

Heft 143

Verstehst Du das?

1.06.2023

Heft 144

Bilder zur Sprache bringen

1.08.2023

Heft 145

Kino

1.10.2023

Heft 146

---

1.12.2023

Leserinnen und Leser, die Beiträge zu einzelnen Heften einreichen wollen oder Vorschläge für Heftthemen haben, werden gebeten, sich mit der Redaktion in Verbindung zu setzen.



Übersicht aller bisher erschienenen Texte

Datei-Download

Als Textdatei nach Heften geordnet

magazin.pdf

Als Textdatei nach Autoren geordnet

autoren.pdf

Als BibTex - Datei

theomag.bib


Wer regelmäßig mit dem Bibliotheksprogramm Citavi 6 arbeitet (das viele Universitäten als Campuslizenz anbieten), kann von uns auch einfach einen Lesezugang zu unserer Online-Datenbank von Citavi bekommen. Dann können Sie alle Datensätze des Magazins online mit Ihrem Citavi -Programm aufrufen. Bitte schicken Sie dazu eine Mail an redaktion@theomag.de mit dem Stichwort "Citavi".