Lektüren IAus der BücherweltAndreas Mertin |
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Ein wunderschönes Buch liegt auf meinem Schreibtisch, nahezu 500 Seiten stark im Quartformat und gebunden in rotes Leinen. Vor 250 Jahren erschien der erste Band der berühmten Man könnte und sollte dieses schöne Buch in die eigene Bibliothek legen und jeden Tag eine neue Seite aufschlagen, um der sich durchsetzenden und sich verändernden Ordnung des Wissens und der Diskurse seit 250 Jahren nachzugehen. Erfahren würde man so zum Beispiel etwas über
Den gerade aufgezählten Artikeln wurden - und das macht dieses Buch noch lesenswerter als es an sich schon ist - "Ausblicke ins 21. Jahrhundert" heutiger "wilder Denker" beigefügt, die kommentierend aufnehmen, was die Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts beschrieben haben und die es nun um eigene Perspektiven ergänzen. An Artikeln wie dem historischen von Voltaire und dem aktuellen von Jan und Aleida Assmann über Geschichte wird so auf faszinierende Weise auch etwas von der Differenz des Denkens deutlich, das sich an der veränderten Bedeutung der Erzählung (récit) festmacht: "Unser moderner Begriff von Geschichte war Voltaire noch vollkommen fremd. Er beruht auf einer Fusion von Darstellung und Geschehen und bezieht sich sowohl auf die Berichterstattung vergangener Ereignisse als auch auf die Ereignisse selbst. Für Voltaire dagegen ist Geschichte ausschließlich der Bericht, die Kunde, das Wissen von Vergangenheit, nicht die zugrundeliegenden Geschehnisse, er definiert Geschichte als Erzählung." Oder nehmen wir den heiter-bissig-ironischen Artikel von Jaucort über den Heiligen Stuhl, dem ein ebensolcher von Luigi Malerba beigesellt ist. Malerba vergisst nicht darauf hinzuweisen, dass die Kirche jahrzehntelang versucht hat, die Encyclopédie zu verbieten bzw. der Zensur zu unterwerfen. Seinen Artikel beginnt er jedoch mit einer Anekdote, um dann aber schnell auf den kulturellen Clash der Gegenwart einzugehen: "Als Papst Johannes Paul der II. im Jahr 1994 den Sudan besuchte, erbat und erhielt der berühmte islamische Ideologe Hassan El Turabi eine Einladung zu einer Privataudienz. Erst etliche Jahre später erfuhr man, dass Hassan El Turabi während dieses Gesprächs versucht hatte, den römischen Papst zum islamischen Glauben zu bekehren ... Wenn ich mir nun die Aufgabe stellte, den dem Papst gewidmeten und vom unermüdlichen Chevalier de Jaucourt verfassten Artikel in der großen Encyclopédie auf den neuesten Stand zu bringen, dann dürfte ich das Problem der Moslems in Europa gewiss nicht vernachlässigen. Die paradoxalen und katastrophalen Hypothesen in dem kurzen Lexikonartikel ('wenn Rom zerstört würde oder der Ketzerei verfiele') müssten heute korrigiert werden, und die Hypothese Nummer eins würde lauten: 'wenn Rom islamisch würde'". Ergänzt werden die Artikel durch eine Fülle eingeschobener sachbezogener Zitate aus Literatur, Philosophie und Politik, die ihrerseits noch einmal eine wahre Fundgrube an Reflexionsmaterial darstellen. ***"Die Welt der Encyclopédie" kann uneingeschränkt empfohlen werden, es ist eine lohnende Investition in ein bibliophiles Buch, in ein bedeutsames zeitgeschichtliches Dokument und es ist tatsächlich zugleich, wie Hans Magnus Enzensberger dem Leser verspricht, ein "Handgepäck für das dritte Jahrtausend".
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