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Magazin für Theologie und Ästhetik


Äußerung

Zur Katastrophe am 11. September 2001 in New York

Frauke A. Kurbacher

Überhaupt etwas, überhaupt noch etwas über die Ereignisse des 11. Septembers 2001 in New York zu sagen, scheint allein schon eine kaum zu überwindende Schwierigkeit, und dies aus mehreren Gründen: Gleichsam zugeschüttet nach all den Berichten und Informationen, Kommentaren und Mutmaßungen scheinen die Medien, allen voran das Fernsehen, in gewisser Weise eine Bewusstlosigkeit geradezu bedient zu haben, und wie nach allem persönlichen Elend, das jede Katastrophe immer bedeutet, fragt sich auch hier, wie überhaupt noch etwas gesagt werden kann, nach all dem ... . Von innen heraus, als Zeitzeugin vor Ort, scheint der Abstand zu gering, die zeitliche Distanz keineswegs ausreichend um sprechen zu können, als außenstehende Europäerin hingegen erscheint eine Stellungnahme geradezu anmaßend; und doch stellt sich mir diese Frage, die mich auch schon zuvor philosophisch beschäftigt hat, ohne dass ich ihren Sinn und ihre Notwendigkeit hinreichend begründen könnte, auch jetzt: 'Wie sprechen?', denn, was ich äußern kann, geschieht nicht als Historikerin, Psychologin oder Politikwissenschaftlerin und hätte damit zumindest eine äußerliche allgemeine Berechtigung; ich kann nur sehr individuelle Eindrücke und Gedanken wiedergeben, wie sie sich mir in und seit diesen Tagen aufgedrängt haben. Und gleichsam stecken doch in diesem individuellen Erleben signifikante Momente, die sich mit einem kulturellen gemeinschaftlichen Bewusstsein verbinden.

Schwer ist die total grelle, hellgraue innere Leere zu beschreiben, die zugleich gepaart mit einem Strudel von eigenen und fremden Erinnerungen, den Zustand des allgemeinen Schocks für mich in diesen ersten Tagen ausmachte. Am Vorabend des 11. noch hatte mir ein jamaikanischer Taxifahrer seine Meinung zu totalitären Systemen und persönlicher Hybris in drei Sätzen auseinandergesetzt: "Hitler- so etwas geht doch nicht, Weltherrschaft geht einfach nicht. Das sieht man doch schon in der Bibel, Babylon, das da mit diesen riesigen Häusern und Türmen. So etwas geht nicht, das muss fallen". Mir, als gerade Angereister, war schon da die eigenartige von ihm aber unbedachte Parallelität seiner Aussagen mit der äußeren Gestalt der vertikalen Schönheit New Yorks bei unserer Fahrt aufgefallen, nun, einen Tag darauf gingen mir diese Sätze angesichts des Geschehenen nicht mehr aus dem Kopf, genauso wenig wie der Gedanke, dass der Staub, durch den sich alle, und ich mich mit ihnen, bewegte, Menschenasche ist. All dies gepaart mit Bildern vom zweiten Weltkrieg, den ich selbst ja nur aus zweiter und dritter Hand kenne, und der doch so präsent ist, Golfkrieg, Balkankrieg, alles rattert durch das Bewusstsein, ein Bericht über Japan und die Zerstörung der in Flammen aufgegangenen Hauptstadt 1945, den ich eine Woche zuvor in Tokio gelesen hatte, Jugendliche in Tunesien, die von mir im Frühjahr angesichts der Palästinafrage die Stellung Deutschlands zu Israel erklärt haben wollten, dies alles zusammen mit Bildern einer TV-Dokumentation über das historische New York: ein brennendes Hochhaus zu Beginn des Jahrhunderts, aus dem in ihrer Verzweiflung Näherinnen sprangen, und nun so Ähnliches wieder, nicht als Bild, aber als fassungslose Realität.

Mit ähnlicher Fassungslosigkeit bin ich mit der Realität amerikanischen Fernsehens konfrontiert worden, dessen weitgehend ungebrochene Regierungskonformität mich so irritiert hat wie das Fehlen von Weltnachrichten. Nun ist New York nicht Amerika, und Amerika nicht die Vereinigten Staaten und das Fernsehen nicht die U.S.A., aber wenn nicht von einer völligen gesellschaftlichen allgemeinen Schizophrenie ausgegangen werden soll, dann kann zumindest davon angenommen werden, dass über das Fernsehen doch etwas Signifikantes transportiert wird. Susan Sontag hatte in einem Kommentar in der New York Times kurz nach dem Geschehen kritisch bemerkt, dass sie in den letzten Tagen so viel über die Stärke Amerikas gehört habe, gerade aber die aktuellen Ereignisse zeigten, dass Amerika mehr sein müsse als stark.

Diese Bemerkung reflektierte treffend den neuralgischen Punkt eines hermetischen amerikanischen Selbstverständnisses und Auftretens. Zwar habe ich ein Verständnis für das Entstehen einer solchen Hermetik in einem solch' großen Land und inmitten einer Bevölkerung gewonnen, die relativ sicher sein kann, dass an vielen mehr oder wenigen abwegigen Winkeln der Welt die eigene Sprache gesprochen wird, und sich bereits ein großer Teil der Wissenschaft in vielen Fachgebieten nurmehr so verständigt, aber gerade ob der geographischen Größe, des kulturellen weltweiten Einflusses, wie der politischen Macht der Vereinigten Staaten hat mich genau dies geschreckt.

Europa scheint mir wesentlich geprägt durch nicht eingeebnete Diversität; nun kann sich gerade New York als kultureller 'Rainbow' verstehen, in dem es ein buntes Nebeneinander gibt, aber nicht von ungefähr galt lange die Vorstellung des Schmelztiegels, des 'Melting Pot' der Kulturen, und darin ist ein wenig mehr des imperialistischen, westlichen Zugs eingefangen, der mir auch in den Medien für ein Selbstverständnis der Vereinigten Staaten so spürbar schien. Als Europäerin kam mir Amerika vor, wie ein Land ohne Nachbarn, nie hätte ich geglaubt, mich in New York wie am letzten Ende der Welt angelangt zu fühlen. Die U.S.A. sind mir ein Land ohne Bild von der Welt, ohne dieses jedoch, und ohne die erlebte und gelebte Diversität derselben erstarren und entleeren sich alle hehren und gerade in diesen Tagen so oft bemühten Werte westlicher Kultur wie Freiheit oder Menschenwürde, die doch nur als verschiedene, konkrete und praktizierte den ihnen zugesprochenen Wert einzulösen vermögen, nicht aber unter Inanspruchnahme alleinigen Besitzes festgeklopft werden dürfen. Die theoretische Leerformel der aufgeklärten westlichen Hemisphäre von Freiheit ist eben darum Variable und ohne vorgeschriebenen Inhalt, damit sie verschiedentlich gefüllt werden und damit auch weiter über sie diskutiert und gestritten werden kann. Sie bleibt geknüpft an die Arbeit der Kritik, die aber hat keinen guten Stand in einer Gesellschaft, die sie nicht als solche positiv wertend anerkennt. Andernfalls gilt jede Verschiedenheit und kritische Äußerung als staatsgefährdend, und Begriffe wie Freiheit stehen noch als entleerte jeder Änderung eines für alle als verbindlich angesehenen Lebensstils monumental entgegen. Diese Äußerungen sind mitnichten als Rechtfertigungen für Terrorismus oder religiösen Fanatismus zu verstehen, für die es keine Rechtfertigung geben kann. Meine Überlegungen berühren vielmehr eine Schwäche der U.S.A., die grausam krass durch die Ereignisse im September hervorgebrochen wurde, und die wir teilen, wo wir dem amerikanischen 'Way of Life' als einzig maßgebend für das Selbstverständnis westlicher Welt unbedacht und unkritisch folgen. Diese Schwäche besteht in einer Verkennung des allgemeinen Rechts auf (auch öffentliche) Selbstkritik und der konstitutiven Notwendigkeit einer solchen, wenn die Errungenschaften westlichen Selbstverständnisses: Freiheit, Menschenwürde, Toleranz und Kritik selbst nicht wieder in Inhaltsleere und Unmündigkeit erstarren sollen.

Auf meinen vielen Fahrten durch die Welt habe ich nicht selten dieses namenlose Gefühl davon gehabt, wie es ist, aus einem Land zu kommen, von dem ich nicht einfach Lieder singen oder mit unreflektierten Stolz erzählen kann, aber hier in den Staaten angekommen, habe ich vielleicht zum ersten Mal mit solcher Kraft etwas Wertvolles an diesem gebrochenem Verhältnis zum eigenen Land gespürt, von dem ich weiß, vor welchem traurigen, und zunächst auch unfreiwilligen Hintergrund diese Wertschätzung des Kritischen gewachsen ist, und von dem ich auch weiß, dass gerade diese Gebrochenheit wiederum aktuell erhebliche Probleme für viele Landsleute bedeutet. Und doch kam mir gerade dieses gespaltene Verhältnis, dieses Angehaltensein zur Reflexion auch als Chance vor.

Jacques Derrida hält mit Recht an dem französischen Begriff für 'Globalisierung' fest: in 'Mondialisation', in einem 'Welt-Weit Werden' ist ein Stück von dem thematisiert, woran es mir gerade in Amerika und zuweilen auch hier fehlt, es erinnert mich an etwas, das auch Hannah Arendt in ihrem Denken maßgeblich wichtig war: Weltlichkeit. Weltlichkeit weist freundlich auf das Beziehungsgefüge, in das ein einzelner Mensch in seine Gemeinschaft, Gemeinschaften in ein Land und dieses in die Welt eingefügt ist. Damit ist Weltlichkeit etwas genuin Soziales und Politisches.

Die einzige politische und ökonomische Weltgroßmacht U.S.A., die nach dem Umbruch der ehemals sozialistischen Länder existiert, trägt in diesem Sinn Verantwortung für die Welt, die anders als bloße weltweite Militäreinsätze zu begreifen wäre: als Weltlichkeit, die ein Bewusstsein für das Andere und die Anderen im Dialog entwickelt und selber im kritischen Austausch und Reflex lernt. Der gesamten westlichen Welt kann, glaube ich, eine relativ große, umfassende Ignoranz für den Osten bescheinigt werden, in Deutschland beginnt der bekanntlich vor der eigenen Haustür. Ohne Reflexion und konkrete Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbstverständnis, ohne ein Einlassen in dialogisches Differenzdenken bleibt sie wohl weiterhin geschlossen. Die europäische Aufklärung kennt das Problem gut, und seine Lösungen überhaupt nicht, wie zum Beispiel über Menschenrechte mit Menschen zu diskutieren ist, die dieselben oder Prinzipien der Freiheit und der Kritik nicht anerkennen. Wie aber verstehe ich Aufklärung im Hinblick auf Amerika? Die Arbeit der Kritik hat kein Ende, fraglich aber ist, ob sie mancherorts begonnen hat oder überhaupt beginnen kann.

Julia Kristeva hat in ihren Untersuchungen zu Hannah Arendt den Wert der Narration des gelebten Lebens des Einzelnen herausgearbeitet. Und hierin findet alle Skepsis vielleicht doch so etwas wie Hoffnung, denn ebenso unvergessen wie der beschriebene reale wie mediale Schock werden mir die freundliche Vernünftigkeit, der zupackende Pragmatismus und die tiefe menschliche Anteilnahme so vieler einzelner zutiefst am Frieden interessierter Bewohner New Yorks bleiben, so sehr, dass sie mir sprechend für die Haltung der Einwohner New Yorks überhaupt geworden sind.

(Die Autorin des Textes war am 10. September zwecks eines Stipendiums für philosophische Studien in New York eingereist, das sie am 1. November aufgrund der weltpolitischen Situation vorzeitig wieder verließ.)


© Frauke A. Kurbacher 2001
Magazin für Theologie und Ästhetik 14/2001
https://www.theomag.de/14/fk2.htm