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Magazin für Theologie und Ästhetik


Sinnmaschinen-Gedanken

Eine Erwiderung

Jörg Herrmann


Hamburg/Berlin, 29.10.2001




Lieber Andreas,

hier ein paar erste Zeilen zu Deiner Rezension meiner Arbeit, die ich inzwischen - wie Du Dir denken kannst - mit größtem Interesse gelesen habe. Es sind erste, ungeordnete Zeilen, weil ich im Moment aus Zeitgründen nicht so ausführlich antworten kann, wie ich gerne würde, aber die Frische meines ersten Eindruckes von Deinem Text auch nicht allzu sehr verblassen lassen wollte.

Zunächst einmal bin ich beeindruckt von der Gründlichkeit Deiner Auseinandersetzung und sehe darin auch eine Würdigung meines Versuches. Wie kritisch diese insbesondere im Blick auf den ersten Teil des Buches ausfällt, hat mich dann doch ein wenig überrascht, gerade auch, weil ich unser Gespräch über diesen Abschnitt in Hagen noch in Erinnerung habe und Deine Kommentierung vor diesem Hintergrund doch erheblich an kritischer Brisanz gewonnen hat.

Aber der Reihe nach. Mit Zustimmung habe ich Deine Vorbemerkung gelesen, die Gegenstände und Begrifflichkeiten meiner Arbeit seien in der heutigen Diskussion prinzipiell umstritten und die Arbeit könne darum nicht mehr als ein Vorschlag in einem kontroversen Feld sein. Indeed.

Nun gleich zur natürlichen Theologie, diesem zwischen uns vielleicht strittigsten Thema. Mir leuchtet an Deiner Kritik nicht ein, warum Du meine Bezugnahme auf den Begriff der natürlichen Theologie so einseitig als Apologie gegenüber dem Kinopublikum deutest. Mir geht es vor allem darum, deutlich zu machen, dass heutige theologische Kulturhermeneutik an das Motiv der doppelten Lektüre im Buch der Schrift und im Buch der Natur anknüpft und diese doppelte Lektüre im Grunde fortsetzt, indem das liber naturae durch die Kultur ersetzt wird. Das Interesse, sich bewusst ins Verhältnis zu setzen zum Denken und zur Kultur der Zeit - das wurde in den einschlägigen Texten als das Anliegen der alten natürlichen Theologie identifiziert - ist geblieben, auch das Interesse an wechselseitiger Erschließung kultureller Kontexte durch die Praxis der doppelten Lektüre, an Plausibilisierung durch das Gespräch, das Gemeinsamkeiten und Differenzen thematisiert. Letztlich geht es dann darum, das Kino auf seine religiösen Dimensionen hin zu untersuchen und die Kirche auf die filmischen Transformationsgestalten, Umformungen und Verarbeitungen ihrer Religionskultur hinzuweisen. Ob es dann Offenbarungen in der Kultur gibt, die die Bibel nicht zu bieten hat, ist zunächst zweitrangig. Es gilt dabei ja auch der Zirkel, dass - wie schon in der altprotestantischen Orthodoxie - der aus dem Kontext der traditionellen Religionskultur heraus gebildete Begriff von Offenbarung bzw. Religion die Optik ist, mit der im Buch der Natur bzw. Kultur gelesen wird. Die Gotteserkenntnis aufgrund der Schrift war schon zu Zeiten der alten natürlichen Theologie die orientierende und höherwertige Perspektive. Diese vormals von der revelatio spezialis eingenommene Position ist bei mir durch einen funktionalen Religionsbegriff ersetzt, der Aufbau des Vorgehens - von der Theologie zur Kultur - ist jedoch geblieben.

Dass die von mir zum Schluss herausgestellten drei Themen keine Erfindung des Kinos sind, ist mir, wie Du ja auch bemerkst, klar, allerdings wird man nicht sagen können, dass die Art, wie diese Thematiken im Kino zur Darstellung kommen, schon längst in der jüdisch-christlichen Tradition oder später in der Romantik genau so präsent war. Die Fragen eines vom technischen Fortschritt spezifisch bestimmten Naturverhältnisses wie sie etwa in "Jurassic Park" und "Titanic" enthalten sind, waren mit Sicherheit so noch nicht in der Romantik präsent - geschweige denn in der biblischen Tradition. Auch generell war Natur ein in der jüdisch-christlichen Tradition eher marginalisiertes Thema.

Was die Begrifflichkeiten angeht, so kann ich Deiner Kritik mittlerweile nur zustimmen. Eine stärkere Berücksichtigung von Eco und der Semiotik hätte der Arbeit sicher gut getan. Auch mit dem Einwand, ein funktionaler Religionsbegriff produziere die implizite Religion des Kino allererst, rennst Du offene Türen ein. Natürlich, das ist doch immer so: was als Religion interpretiert wird, hängt von dem Begriff ab, den man davon hat. Den Begriff der Religionsanalogie finde ich in diesem Zusammenhang inzwischen auch nicht mehr so passend. Ausdifferenzierung scheint mir angemessen, auch Umformung.

Deine Ausführungen zum Wort-Bild-Komplex finde ich hingegen wieder überspitzt, wenn nicht spitzfindig. Mit Herms kann man natürlich argumentieren, aber Du wirst dennoch im Ernst nicht abstreiten, dass das Visuelle im Kino eine wesentliche Rolle spielt und dass gerade im Protestantismus Sinnlichkeit und Visualität weniger Bedeutung haben, dass da also schon von einer Akzentuierung gesprochen werden kann, die sich mit einem gewissen Recht durch die Unterscheidung von Wort und Bild charakterisieren lässt.

Was die Rezeption angeht, so stimme ich Dir in Deiner Zitation Luhmanns (hinsichtlich der Bedeutung der re-description) zu, dennoch möchte ich daran festhalten, dass die traditionelle Religionskultur im Unterschied zum Kino normative Geltungsansprüche enthält - wie sie sich in Kanonbildung, Katechismen, Dogmatiken und Credos ausdrücken. Auch der Verbindlichkeitsanspruch des Gottesdienstes scheint mir außer Fragen zu stehen. Sicher, das Kino will überwältigen, das populäre zumal, aber eben ohne Konsequenzen im Blick auf Alltag und Lebensführung zu beanspruchen. Darum aber geht es dem Gottesdienst (siehe auch die Einleitung im Evangelischen Gottesdienstbuch): er will über die Stunde hinaus das Leben bestimmen.

Schön, dass Du meine Analysen ganz passabel findest! Hinsichtlich der Ergebnisse ist die Formulierung, der Stellenwert expliziter Christlichkeit im Film entspreche seiner gegenwartskulturellen Marginalität, zugegebenermaßen unpräzise. Dass Du das Kino auf "nur eine Nach-Erzählung" herunterschrauben willst, scheint mir zu hart geurteilt. Gerade im Visuellen gibt es doch Neues zu vermerken: Wo hat man solche Saurierbilder, Raumschiffe und Liebesdramatik unter extremen Verhältnissen (Titanic) schon vorher gesehen? Da zeigt sich vielleicht, dass die Kinoerfahrung doch nicht in allgemeinen Formulierungen aufgeht. Deine an Luhmann anschließende Bemerkung über die Transformation des Erhabenen in genießerischen Sensualismus erscheint mir hingegen interessant und plausibel. Auch die kritische Frage nach dem außertheologischen Interesse an einer theologisch orientierten Analyse des Kinos. Ich erhalte seit der Publikation der Arbeit Einladungen von Pfarrkonventen und kirchlichen Institutionen, nicht aber von Filmhochschulen, Kinos und anderen filmkulturellen Institutionen.

Dass Du die Inkohärenzen im Schlussteil als Ausdruck der Heterogenität und Unübersichtlichkeit der Situation deutest, finde ich natürlich sympathisch. Die Ausführungen über die Frage der humanitären Erzählung sind sehr interessant, darüber muß ich noch einmal länger nachdenken. Ein wenig glaube ich allerdings, diese Frage innerhalb meiner Arbeit mit dem gegenüber dem populären Kino kritischen Hinweis auf die an der memoria passionis orientierte Wahrnehmungsperspektive der christlichen Erzählkultur in dem von Dir intendierten Sinne schon angeschnitten zu haben. Einen Beitrag zum humanitären Erzählen würde das populäre Kino dann dort leisten, wo es die bisher zu wenig und gar nicht öffentlich wahrgenommene Passion von Menschen im Medium fiktionaler Unterhaltung öffentlich zur Darstellung bringt. Das wäre dann in der Tat ganz grob und strukturell gesehen eine Art Nacherzählung etwa der Geschichte vom barmherzigen Samariter, die jedoch in ihrer jeweiligen Konkretheit schon Neues zu bieten hätte. Man könnte an einen Film wie "Philadelphia" denken.

Dass die Kinobesucher laut Untersuchung keine Religion im Kino suchen, glaube ich sofort. Das tue ich ja auch nicht. Das Unterhaltungsinteresse steht im Vordergrund. Das habe ich im übrigen auch eingangs geschrieben. Aber die Sinnfragen schwingen eben mit, sind mit dem Spannenden unwillkürlich verknüpft, weil das Spannende oft zugleich existentiell ist und umgekehrt.

Bei dieser Gelegenheit gleich noch eine Bemerkung zu Deiner weiteren Bezugnahme auf die Filmförderungsstudie über das Kinobesucherpotential: Mein Untersuchungsgegenstand ist das Kino und der Film, in erster Linie der Film. Das heißt, dass auch die Spielfilmverbreitung durch das Fernsehen mitberücksichtigt werden muß. Weiterhin ist anzumerken, dass bei den von Dir aus der Filmförderungsstudie zitierten 37% tatsächlicher Kinobesucher die Gesamtbevölkerung ab dem 10. Lebensjahr zugrunde lag. Darin sind also auch die laut Demographie 1999 fast 46,9% über 40jährigen enthalten, die RentnerInnen inklusive. Wir wissen aber - und das sagt auch die Studie -, dass die intensivsten Kinogänger die 16- bis 29jährigen sind, dass der Kinobesuch hier seine Hochphase hat, dann abnimmt (Familiengründung, Beruf etc.) und insgesamt starken Schwankungen im Lebenslauf unterliegt. Unter den 16- bis 29jährigen rangiert der Kinobesuch nach meinen Informationen aber immer noch an erster Stelle der Freizeitbeschäftigungen. Man müsste einmal den Prozentsatz der Kinobesucher innerhalb dieser Altergruppe wissen. Er liegt weit über 37%, etwa zwischen 70% und 90%. Ich würde also vor dem Hintergrund dieser beiden Aspekte - der Fernsehpräsenz des Films und der biographischen Verteilung des Kinobesuchs - daran festhalten, dass der Film das zur Zeit am weitesten verbreitete und kulturell präsenteste Medium narrativer Lebensdeutung ist. Nebenbei ist auch zu sehen, dass der Film als Kino in derjenigen biographischen Phase am präsentesten ist, in der der mit vielfältigen Orientierungsproblemen verbundene Übergang in die Erwachsenenwelt und das Erwerbsleben zu bewältigen ist, man also davon ausgehen kann, dass die filmischen Anregungen für die Arbeit an der eigenen Identität mit besonderem Interesse aufgegriffen werden.

So weit für heute.

Herzlichen Gruß

      Jörg


© Jörg Herrmann 2001
Magazin für Theologie und Ästhetik 14/2001
https://www.theomag.de/14/jh4.htm