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Magazin für Theologie und Ästhetik


Die Hure Babylon

Die apokalyptischen Motive eines weltweit grassierenden Antiamerikanismus

von Richard Herzinger

Die Feststellung des deutschen Bundeskanzlers Gerhard Schröder, der terroristische Angriff auf die USA sei eine Kriegserklärung an die ganze zivilisierte Welt, ist keine leere Phrase. Die unvorstellbare Enthemmung, mit der die Attentäter mordeten und zerstörten, hat im Westen eine Erschütterung metaphysischen Ausmaßes bewirkt. Was, fragt man sich fassungslos, treibt Menschen dazu, mit einer solch grenzenlosen Verachtung für individuelles Leben Tausende Unbeteiligte bedenkenlos in den Tod zu reißen? Zu welch noch entsetzlicheren Untaten die Organisatoren dieses namenlosen Verbrechens fähig sind, lässt sich allein daran ermessen, dass sie für ihre Aktion an die zwei Dutzend ihrer Aktivisten als williges Kanonenfutter "verbrauchten".

Diese Vernichtungsorgie inszenierten die Terroristen nicht, um irgendein strategisch nachvollziehbares kriegerisches Ziel zu erreichen, sondern ausschließlich, um einen rein symbolischen Sieg zu erringen. Ihre ganze mörderische Energie richtete sich darauf, ein Bild zu erzeugen, das sich für immer in das kollektive Gedächtnis der Menschheit einbrennen sollte. Nicht von ungefähr kulminierte der Angriff in der Zerstörung des World Trade Center: Der Einsturz der riesigen Türme, die wie kein anderes Wahrzeichen für die fortschrittsorientierte, säkulare Lebensart der westlichen Welt standen, ruft im hoch entwickelten Westen archaische Muster apokalyptischer Endzeiterwartung wach. Dieser Effekt war von den Massenmördern zweifellos kalkuliert: Die Ungeheuerlichkeit - und die Anonymität - ihrer Tat lässt sie wie Sendboten einer unmenschlichen, überirdischen Gewalt erscheinen.

Apokalyptische Imago

Mehr denn je ist nun die Diskussion darüber entbrannt, ob der islamistische Extremismus in der Denkwelt des Islam selbst angelegt sei. So unsinnig es wäre, den Islam im Ganzen für eine solch exorbitante verbrecherische Energie verantwortlich zu machen, so wenig lässt sich doch bestreiten, dass die apokalyptische Vernichtungswut in Teilen der islamischen Welt derzeit den günstigsten Nährboden findet. Umso wichtiger ist es aber, sich zu vergegenwärtigen, dass die apokalyptische Imago in allen Kulturen eine bedeutende Rolle spielt. Die apokalyptische Bestrafungs- und Reinigungsphantasie ist namentlich dem abendländischen zivilisatorischen Bewusstsein von Anfang an eingeschrieben wie ein düsterer Subtext. Indem ihn die Attentäter wachriefen, wühlten sie Tiefenschichten des Selbstzweifels der westlichen Zivilisation auf und zielten auf eine Schwächung ihres Selbstbehauptungswillens.

Vordergründig galt der Angriff auf die USA der wirtschaftlichen und politischen Vorherrschaft der Führungsmacht der westlichen Welt und damit dem modernen Zivilisationstypus offener Gesellschaften. Doch dahinter verbirgt sich eine noch größere Dimension der Herausforderung. Indem er sich exemplarisch gegen die große Stadt und grundsätzlich gegen die Legitimität irdischen Rechts richtete, zielte der Angriff auf die Idee der Zivilisation schlechthin, wie sie uns aus uralten Mythen und religiösen Überlieferungen entgegentritt. Zivilisation beginnt, wenn die Menschen aus den engen Banden der Bluts- und Stammesgemeinschaft heraustreten und ihrem Zusammenleben eine abstrakte rechtliche Form geben. Davon erzählt etwa Aischylos in seinen "Eumeniden": Die Einsetzung des Areopags als oberste Gerichtsinstanz beendet den verheerenden Kreislauf der Blutrache und begründet die Herrschaft des Gesetzes als Fundament der Polis. Davon erzählt in anderer Weise auch das Alte Testament: Die Übergabe der göttlichen Gesetzestafeln an das auserwählte Volk verwandelt die jüdische Stammesgemeinschaft in die Vorhut einer einzigen Menschheit, die auf universelle Werte verpflichtet ist. Eben dieses Ziel einer universalistischen Zivilisation verfolgt auch der Islam.

Der Ort aber, an dem die Zivilisation lebendige Form annimmt, ist die Stadt. Dort treffen Fremde unterschiedlicher Abstammung aufeinander und müssen kulturelle Regelwerke schaffen, die von allen respektiert werden können. Aus den komplexen, arbeitsteiligen Beziehungen, die hier entstehen, entwickelt sich der Markt und die Geldwirtschaft. In allen Kulturen ist die Stadt Kern und Motor zivilisatorischer Entwicklung - gerade darum aber steht sie von Anfang an auch unter einem Generalverdacht. Ist ihre Existenz nicht ein unerhörter Bruch mit der natürlich vorbestimmten Lebensweise der Menschen? Reißt sie ihn nicht aus der symbiotischen Einheit der Gemeinschaft mit ihrem angestammten Boden, ist Haltlosigkeit und Ausschweifung nicht die unausweichliche Folge dieser Entwurzelung? Kurz, ist sie nicht Ausdruck und Nährboden einer ungeheuren Hybris, einer gotteslästerlichen Auflehnung gegen die ursprüngliche und ewige Ordnung der Welt? In der jüdisch-christlichen Überlieferung erscheint die Gründung der ersten Stadt gar als indirekte Folge des Verbrechens. Kain, der Brudermörder, wird von Gott dazu verurteilt, "unstet und flüchtig" durch die Welt zu ziehen; so wird er zum ersten Nomaden und schließlich zum Stadtgründer.

Aus den Städten entwickeln sich Metropolen und schließlich jene "Riesenstädte" der Hochzivilisation, die Oswald Spengler in seinem "Untergang des Abendlandes" bezichtigte, sie saugten dem umliegenden Land seine natürliche Lebenskraft aus. Die große Stadt ist schon von alters her die bevorzugte Zielscheibe apokalyptischer Untergangsphantasien. Sodom und Gomorrha übereignet Gott wegen ihrer Ausschweifungen dem Feuertod. Das biblische Urbild der sündigen Stadt ist aber Babylon, das sein Selbstbewusstsein durch den Bau eines Turms manifestiert, "dessen Spitze bis an den Himmel reiche". Von dieser Demonstration menschlichen Erfindungsgeistes sah sich der Herr in seiner Autorität bedroht, weswegen er die Sprache der Babylonier verwirrte und sie in alle Länder zerstreute, so "dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen".

Die Apokalyptik prophezeit ein bevorstehendes, endzeitliches göttliches Strafgericht, in dessen Verlauf die Toten auferstehen, die Ungerechten zu Höllenqualen verurteilt und die Gerechten zur Seligkeit erhöht werden. Mit der Offenbarung des Johannes im Neuen Testament beginnt die Instrumentalisierung apokalyptischer Phantasien für realgeschichtliche Zwecke. Mit der "großen Hure" Babylon, deren Lasterhaftigkeit Johannes in grellsten Farben brandmarkt und deren Vernichtung dem Anbruch des Reichs Gottes vorangehen soll, ist eigentlich Rom gemeint, das Herz des heidnischen Imperiums, von dem die Welt befreit werden müsse.

Johannes redet freilich noch in poetischen Gleichnissen, und das grausame Weltgericht bleibt noch allein dem Allmächtigen vorbehalten. Gleichwohl dient die Erwartung des erlösenden Weltenendes im Mittelalter - ob in den Kreuzzügen oder bei den Judenverfolgungen - als Rechtfertigung für Massenmord und als Anreiz zum eigenen Opfertod. Seine schlimmste Durchschlagskraft entfaltet die politische Funktionalisierung des apokalyptischen Bewusstseins aber, als sich politische Ideologen dazu ermächtigen, die Weltenreinigung selbst durchzuführen, und sich dabei moderner Technologie und einer zynischen instrumentellen Rationalität bedienen können. Hitlers Wahnbild vom "Tausendjährigen Reich" schöpfte ebenso aus apokalyptischen Motiven wie das Pathos der russischen Revolution - etwa, wenn Majakowski sie mit den Worten besang: "Wie einer zweiten Sintflut Verheerung / Waschen wir wieder die Städte der Welt."

Die geschlossenen ideologischen Weltanschauungssysteme sind zerbröckelt, der apokalyptische Furor aber sucht sich neue Ausdrucksformen. Und in seinem Fadenkreuz bleibt vor allem die Stadt. Pol Pot begann seine mörderische Umerziehungsaktion gegen ein ganzes Volk mit der Entvölkerung der "dekadenten" Großstädte. In ähnlicher Weise praktizieren heute die Taliban in Afghanistan die Verwirklichung einer radikalen antizivilisatorischen Utopie: Das ist eine Welt ohne Bewegungsfreiheit für das Individuum - und in erster Linie ohne Rechte für die Frauen -, eine Welt ohne Musik, Luxus und Lachen, kurz: eine Welt ohne Städte. Die Mörder von New York und Washington sind nicht der bewaffnete Arm des Islam, sondern dieses Programms einer letztmöglichen Rücknahme menschlicher Zivilisationsentwicklung - Boten einer Gegenwelt, die den Tod anbetet. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts hat Amerika mit seinen Megastädten die projektive Rolle der Weltmetropole des Bösen, den Part der "Hure Babylon" zugeschoben bekommen. Und in diesem paranoiden Gemälde nimmt wiederum New York eine Sonderstellung ein. New York, als das Weltzentrum nicht nur der internationalen Geldwirtschaft, sondern auch der Völker- und Rassenvermischung und einer lasziven intellektuellen Kultur, wird nicht nur von apokalyptischen Zivilisationskritikern unterschiedlichster Couleur in aller Welt, sondern auch von Teilen der amerikanischen Gesellschaft selbst als frevlerischer Fremdkörper und als Brutstätte kosmopolitischer Zersetzung bodenständiger Traditionen wahrgenommen. Ironischerweise treibt das apokalyptische - in diesem Fall christlich-fundamentalistische - Sektierertum in den Vereinigten Staaten selbst schauerliche Blüten. Viele der zum Teil gewaltbereiten Apokalyptiker sind davon überzeugt, dass die Vereinigten Staaten ein von "den Juden" und der Uno besetztes Land seien - deren Zentrale bekanntlich in New York steht.

Antiamerikanische Internationale

Der islamistische Extremismus treibt den Amerikahass derzeit auf die mörderische Spitze, doch sein Feindbild knüpft nahtlos an feststehende Vorurteile einer ideologisch und religiös breit gefächerten antiamerikanischen Internationale an. Es wäre falsch und demagogisch, jede radikale Amerikakritik mit den Perversionen des Terrorismus in Verbindung zu bringen. Doch auch in unseren Breitengraden wird bei der Verdammung der USA zu oft und zu bedenkenlos auf Klischees aus dem Bilderarsenal apokalyptischer Zivilisationskritik zurückgegriffen. All das schien nach dem Attentat freilich für einen Augenblick wie weggewischt. Dass sich Amerika plötzlich als verletzbares Opfer zeigte: Das ließ sich nicht mit einem Weltbild vereinbaren, in dem die USA die Rolle des Hauptverantwortlichen für alles Unglück auf dem Planeten spielen. Selbst rüdeste Amerikakritiker konnten sich einen Moment lang des Eindrucks nicht erwehren, dass der Terror ebenso uns und unserer eigenen freiheitlichen Lebensweise gegolten hat. Doch bald sind die Gefühle der Anteilnahme am Leid der Opfer und des Entsetzens über die wahnwitzige Kaltblütigkeit der Mörder der Furcht gewichen, von einer zu äußerster Wut gereizten Supermacht in einen Konflikt hineingezogen zu werden, bei dem man selbst Schaden nehmen könnte.

In Deutschland haben sich die Solidaritätskundgebungen für die amerikanischen Freunde unmerklich in Bittbekundungen an die amerikanische Regierung verwandelt, sie möge bei ihrem Gegenangriff doch um Gottes willen Vernunft und Augenmass bewahren und die Verbrecher nicht noch zu weiteren Untaten provozieren. Die ständige Wiederholung dieser Mahnung auf den Strassen, in Fernseh-Talkshows und in den Kirchen impliziert, dass man der US-Regierung zutraut, sie könne darauf aus sein, wahllos mindestens ebenso viele unschuldige Zivilisten umzubringen wie die Massenmörder von New York und Washington. Das lähmende Entsetzen über die neue Dimension des Terrors wird betäubt, indem man der US-Außenpolitik ihre tatsächlichen oder vermeintlichen Verbrechen und Versäumnisse der vergangenen Jahrzehnte vorrechnet und nach verborgenen politischen Motiven der Terroristen sucht - und den unfassbaren Mordtaten so indirekt doch noch einen rationalen Sinn zuschreiben kann.

Doch was immer die US-Regierung jemals falsch gemacht haben mag - kann das in irgendeiner Weise die grenzenlose Enthemmung erklären, mit der apokalyptische Fanatiker sich selbst und ungezählte Unbeteiligte ihrem Hass auf die lebendige Welt opferten? Nein, das ist ebenso wenig möglich, wie Auschwitz aus den Demütigungen abzuleiten ist, die Deutschland in seiner Geschichte, von der napoleonischen Besetzung bis zum Versailler Vertrag, von Seiten des Westens erlitten hat.

Dass sich Amerika, das man eben deshalb bedenkenlos mit Vorwürfen jeder Art überschütten zu können glaubte, weil man es für unverletzlich hielt, im Angesicht des Terrors schwach und ratlos zeigte, verunsichert das Weltbild vieler Intellektueller diesseits und jenseits des Atlantiks. Deshalb versuchen sie, es so schnell wie möglich zu restabilisieren. Glaubt man zum Beispiel Susan Sontag, haben sich die Amerikaner das Unheil, das über sie gekommen ist, letztlich selbst zuzuschreiben: räche sich jetzt doch ihre Ignoranz gegenüber dem Elend der Welt. Deutsche "Islamexperten" schlagen dankbar in diese Kerbe und werden nicht müde, den "Dilettantismus" der amerikanischen Außenpolitik zu geißeln. Indem sie den Eindruck erwecken, durch eine bessere Politik könnten die USA für die Lösung noch der komplexesten Probleme auch in den entlegensten Weltregionen sorgen, reproduzieren sie eben jene Allmachtsphantasien, die sie den Amerikanern sonst bei jeder Gelegenheit vorhalten. In der Talkrunde rät ein anderer Islamkenner, die westlichen Gesellschaften sollten jetzt von ihrem übertriebenen Individualismus ablassen und vom Gemeinschaftssinn der muslimischen Welt lernen. In deutschen Feuilletons wird mittlerweile über die Frage reflektiert, ob der Bau von Hochhäusern in Zukunft moralisch und ökologisch noch zu verantworten sei. So wird aus dem monströsen Anschlag eine Art Menetekel, eine letzte Warnung, die uns zu zivilisatorischer Umkehr ruft. Manchem Linksliberalen scheinen jetzt plötzlich die kulturkonservativen Thesen von Botho Strauss einzuleuchten, der in seinem Pamphlet "Anschwellender Bocksgesang" der hybriden, sinnentleerten Konsum- und Spaßgesellschaft des Westens schon vor Jahren den selbstverdienten Untergang durch den Einbruch archaischer Gewalt geweissagt hatte.

Nein, Amerika darf eben einfach nicht Opfer sein, es muss indirekt wieder zum Täter erklärt werden. Denn diese Weltsicht hat, wie sich jetzt zeigt, für weite Teile der Öffentlichkeit eine unabdingbare orientierungsstiftende Funktion. Wenn man Amerika als Verantwortlichen ausgemacht hat, muss man sich nicht mehr so sehr vor den unabsehbaren und unabwägbaren Bedrohungen einer gewalttätigen Welt fürchten. Was immer dann passiert, man hat es ja eigentlich schon gewusst. Dass diese Glaubenssicherheit eine höchst trügerische ist, lässt sich freilich immer schwerer verdrängen. Die europäische Wahrnehmung, die gerade in jüngster Zeit eine zunehmende politische und kulturelle Entfernung von den Vereinigten Staaten zu registrieren glaubte, könnte durch den 11. September 2001 freilich nachhaltig verändert werden. Die traumatischen Schläge dieses Tages machten deutlich, wie groß die politische, wirtschaftliche und zivilisatorische Nähe zwischen Europa und Amerika in Wirklichkeit ist. Aber sie machen auch schockartig bewusst, dass es dem Westen unmöglich ist, sich vom Rest der Welt zu isolieren und dessen Probleme zu ignorieren. Diejenigen, die als Reaktion auf die jüngsten Ereignisse zur Abschottung aufrufen, sitzen einem verhängnisvollen Irrtum auf. Die tödliche Gefahr des apokalyptischen Zivilisationsmords kommt nicht von weit her. Sie geht nicht von einem exzentrischen Feind "da draußen" aus. Sie lauert im Inneren der einen Weltzivilisation. Das Amerika, das es jetzt gegen diese universelle Bedrohung zu verteidigen gilt, steht synonym für den Entwurf einer weltoffenen, freiheitlichen Gesellschaft.


© Richard Herzinger 2001
Magazin für Theologie und Ästhetik 14/2001
https://www.theomag.de/14/rh1.htm

 
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Richard Herzinger, Republik ohne Mitte. Ein politischer Essay, 2001