Wie in einem Spiegel
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Mal so richtig auskotzenTaylor Swifts Video zu „Anti-Hero“Andreas Mertin Als ich das sah, habe ich zunächst einmal überlegt, ob es wohl ein entsprechendes (sich erbrechendes) Motiv in der europäischen Kunstgeschichte gibt und wenn ja, ab wann. Die ziemlich umfassende Sammlung des Rijksmuseums Amsterdam zeigt mir, dass schon ziemlich früh in der Geschichte der Grafik entsprechende Motive auftauchen, zumindest aus dem Anfang des 16. Jahrhunderts konnte ich derartige Bilder finden einige ziemlich derb und ziemlich direkt alle Körperausscheidungen betreffend (hier eine Zusammenstellung). Ich habe einmal den 1633 von Jan van de Velde (II) geschaffenen „Brakende bedelaar“ herausgegriffen. Das hier gespiegelt dargestellte Bild entspricht in etwa dem, was auch in dem Musikvideo von Taylor Swift zu sehen ist. Allerdings beschränkt sich die Bildende Kunst lange Zeit entsprechend damaligen Rollenklischees auf Männer, die sich nach reichlichem Alkoholkonsum erbrechen, erst sehr viel später und dann in anderen Kontexten tauchen auch Frauen auf derartigen Bildern auf. Ob es ein Akt der Emanzipation ist, auch sich erbrechende Frauen darzustellen, kann Mann sich zumindest fragen. Der Text von Anti-HeroEs ist das Schöne am Internet, dass unmittelbar nach Erscheinen eines Stücks einer prominenten Künstlerin die Liedtexte sofort publiziert und einer Fan-Exegese unterzogen werden. In aller Regel findet man die besten Analysen dabei auf Genius.com, einer Liedtext-Plattform, die sich auf derartige crowdbasierte Untersuchungen spezialisiert hat. Man kann dort seine eigenen Notizen eintragen oder die Erkenntnisse der Schwarmintelligenz studieren. So auch hier zum Liedtext[1] von Taylor Swift. Das ist auch deshalb hilfreich, weil man ja nicht automatisch dem popkulturellen Universum von Taylor Swift angehört (der Verfasser jedenfalls nicht) und deshalb auch nicht in der Lage ist, alle textuellen Anspielungen auf vorherige Lieder zu erkennen und zu entschlüsseln. Das können Fans[2] besser. Und es hat mich beeindruckt, wie dicht verwoben der Text des Liedes „Anti-Hero“ mit dem bisherigen Oeuvre von Taylor Swift ist. So gibt es in der ersten Zeile laut Fans Bezüge zu den Songs „Archer“, „Tolerate it“ und zu „Nothing News“: 2019 Archer I never grew up, it’s getting so old Und das ist erst die erste Zeile des Liedtextes! Und es setzt sich in den weiteren Zeilen fort und ist eng verwoben mit der Biographie der heute 32-jährigen Taylor Swift sagen die Fans, und es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln. Als Autor eines katoptrischen Magazins interessiert mich natürlich die Textzeile Ich werde direkt in die Sonne starren / Aber nie in den Spiegel Und höchst weise merken die Fans dazu an:
Alles Weitere können Sie bei Genius nachschlagen. Der Videoclip Taylor Swift Anti-Hero (5:09)Die Medien fassen den neuen Clip so zusammen: „Taylor Swift trifft sich selbst zum Besäufnis, kotzt sich dann ordentlich aus und besucht am Ende die eigene Trauerfeier.“ Aber das wird der Komplexität des Clips dann doch nicht ganz gerecht. Das unter der Eigen-Regie von Swift entstandene Video ist geradezu symboldidaktisch aufgebaut, angereichert mit vielen bedeutungsvollen Anspielungen und Querverweisen. Beim Intro sitzt die Künstlerin mit dem Rücken zu den Betrachter:innen, dann frontal vor der Kamera und bekennt: I have this thing where I get older, but just never wiser. Und dann: Midnights become my afternoons. Dabei schaut sie vor sich auf den Tisch, auf dem ein Teller liegt, der so garniert ist, dass zwei Spiegeleier, zwei Stück Speck und ein Fragment von Brokkoli ein clowneskes Smiley-Gesicht ergeben. Als die Künstlerin jedoch ein Spiegelei anschneidet, quillt irgendeine undefinierbare lila-bläuliche Flüssigkeit aus dem Eidotter, irgendetwas Merkwürdiges, was dort auf keinen Fall etwas zu suchen hat. When my depression works the graveyard shift, all of the people I've ghosted stand there in the room. Die Künstlerin blickt dementsprechend irritiert hin und her und wendet schließlich den Blick nach links, der dort auf eine plötzlich aufgetauchte skurrile Figur mit Hut, Sonnenbrille, aber übergezogener Decke trifft, eher einer Horrorshow als einer klassischen vorabendlichen Kindersendung entsprungen. Ich musste erst nachdenken und nachfragen, aber dann bin ich auf eine mögliche implizite Anspielung gestoßen: Cousin Itt aus der Addams Family. Dazu passt, dass Cousin Itt ein beliebtes Kostüm insbesondere auf amerikanischen Halloween-Partys ist. Das, also die Elementarängste, die in uns stecken und die auf bestimmten Erinnerungen beruhen, ist das Thema, um das es hier geht. Taylor Swift wendet sich ab und versteckt sich in ihrer Wohnung, die sich aber mit weiteren Monstern füllt. Sie ruft voller Panik um Hilfe und rennt zur Tür und trifft dort: auf sich selbst als Alter Ego, als Hero des eigenen Ichs. Und dann kommt es zu dem schon angesprochenen Besäufnis mit sich selbst mit klarem Schnaps, wobei sie in zwei unterschiedlichen Typen auftritt: der introvertierten, schüchternen, zurückhaltenden Taylor, die wir aus der Eingangsszene kennen, und der extrovertierten wilden Taylor, die ihr Alter Ego darstellt. Die eine spielt Gitarre, die andere zerschlägt sie im Stil der Rock ’n’ Roll-Heroen. Die eine ist Lehrerin der harten Realitäten des Lebens (Jeder wird dich betrügen), die andere ihre ist ihre gelehrige Schülerin. Die Dinge spitzen sich zu, Taylor Swift passt einfach nicht mehr in diese Welt[3]: Sometimes, I feel like everybody is a sexy baby / And I'm a monster on the hill / Too big to hang out, slowly lurching toward your favorite city / Pierced through the heart, but never killed. Dazu krabbelt sie durch eine Wohnung, die für Menschen anderer Größenordnung gemacht ist. Ein Anwesender schießt panisch einen Pfeil auf sie ab, der sie in die Schulter trifft, worauf sie bläulich-lilafarben blutet: Pierced through the heart, but never killed. (Wobei das Herz nun wirklich woanders sitzt.) Sie zieht dann mit einem Ruck die Tischdecke vom Tisch, worauf die Zimmerbewohner fliehen. Flehentlich bittet sie mit einem Sticker, den sie über ihre Wunde klebt: VOTE FOR ME / FOR EVERYTHING. Schließlich bedient Taylor Swift sich am Mahl der geflohenen Zimmerbewohner, welches sich freilich als zu unterdimensioniert erweist. Sie wirkt hier eher wie der Man Mountain aus Jonathan Swifts „Reise nach Liliput“, dem ersten Teil von „Gullivers Reisen“: And I'm a monster on the hill. Auch dort wird ja mit Pfeilen auf die große Figur geschossen. Im Video geht es dann weiter zurück zum Alter Ego, die beiden tanzen durch die Wohnung und fangen an, sich Glas für Glas hochprozentig zu besaufen. Bis es dann zur besagten Kotz-Szene kommt, die aber nichts anderes besagt als: Taylor Swift kotzt sich an wenn auch nur mit einer bläulichen Flüssigkeit. Dann kommen einige der schwächeren, klischeebeladenen Szenen die Videos, die Frau die sich bei der Gewichtskontrolle selbst über die Schulter schaut oder das Spiegelbild im Bad begutachtet. Etwas zu viel Anleihen bei den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts, als die Lenor-Frau noch von ihrem Reinheitsgewissen eingeholt wurde. Ob das 50 Jahre später immer noch so ist? Mag sein, aber man sollte es doch der Zeit angemessener visuell umsetzen. Der zweite Teil des ClipsSchnitt, 2:13 des Clips sind vorbei, nun sind wir urplötzlich bei Taylor Swifts Beerdigung. Nein, sie hat sich nicht zu Tode gesoffen, vielmehr ist auch das nur eine ihrer Entfremdungsimaginationen von ihrer Lebenswelt. Was, wenn die Kinder sich am offenen Sarg streiten? Eigentlich bekäme man davon nichts mit, in einem Alptraum aber dann doch. Und Taylor Swift bekommt es mit, sie hat sich im Sarg versteckt.
Solche Träume möchte man nun wirklich nicht haben, aber solche Rache-Fantasien auch nicht: Sie vererbt ihr ganzes Vermögen (geschätzt auf 340 Million $) ihren drei Katzen Meredith Grey Swift, Olivia Benson Swift und Benjamin Button Swift, das Strandhaus soll zu einem Sanktuarium für Katzen werden. Und dann gibt es noch: 13 Cent für jedes Kind. Da hätte sie doch wenigstens einen Querverweis auf 50 Cent einbauen können. Zumindest gibt es diese drei Katzen tatsächlich, wie die Fan-Seite von Taylor Swift mitteilt. Nun beginnen die Kinder und ihre Partner sich zu streiten und bezichtigen sich gegenseitig des Mordes an Taylor Swift. Das ist eine etwas (zu) lange Spielszene. Ehrlich gesagt ist mir an dieser Stelle Taylor Swifts Traum etwas zu detailliert, zu wenig ausdrucksstark und vor allem zu wortreich. Da wäre weniger mehr gewesen. Der SchlussAber Gott sei Dank wacht sie irgendwann auf und stößt nun als wiederauferstandene Taylor auf ihre beiden versöhnten Alter Egos auf dem Dach eines Hauses. Im Vergleich zu denen erweist sie sich allerdings wieder als ein Monster on the Hill, also eine Dimension größer, weshalb für sie die Probleme ihrer kleineren Vorgängerinnen nur ein kleiner bitterer Trank sind. Aber wir ahnen es schon: das wird nicht die letzte Depression gewesen sein. [Fortsetzung folgt.] Wie so immer bei diesen Appetizern der Kulturindustrie bleiben viele Fragen offen: was quoll da eigentlich bläulich-lilafarben aus dem Eidotter? Und warum blutet Taylor Swift nicht rot wie wir alle, wenn wir mit Pfeil und Bogen angeschossen werden, sondern bläulich-lilafarben? Hat Taylor Swift ein Problem mit dieser Farbe? Wenn das Alter Ego nur die lebenszugewandte vitale Taylor ist, welchen Charakter repräsentiert dann die dritte auferstandene Taylor? Und schließlich die Frage, die offenbar alle nach der Betrachtung dieses Videos interessiert. Denn wenn ich auf der Google-Suche heute Abend bloß anfange zu tippen „hat taylor …“, ergänzt Google tatsächlich sofort vollautomatisch „… swift kinder“. Woran ich sofort erkenne, dass ich genauso beschränkt bin wie alle. Trotzdem. Ein gutes Video, aber auch ein verbesserungsfähiges Video. Wie bei fast allen von Künstler:innen selbstgefertigten Videos bin ich der Meinung, ein externer Regisseur, eine externe Regisseurin wäre besser gewesen, sie hätten vermutlich unerbittlicher die Schwachstellen des Videos bereinigt. Dennoch, als Selbstbefragung ist es gut gemacht. Billie Eilish Alpträume finde ich weiterhin besser, aber Taylor Swift hat aufgeholt. Anmerkungen[1] [Verse 1] I have this thing where I get older, but just never wiser / Midnights become my afternoons / When my depression works the graveyard shift, all of the people / I've ghosted stand there in the room [2] Im Internet gibt es interessante Diskussionen darüber, wie wohl die weibliche Form von „Fan“ aussehen müsste. Das ist nicht uninteressant. Behelfsformen wie „weiblicher Fan“ finde ich problematisch, Anhängerin scheint mir aber vom Gefühl her etwas anderes zu sein als ein Fan. Bis zu einer besseren Lösung bleibe ich beim einfachen „Fan“. [3] Bei der Herstellung ist Taylor Swift ein kleiner Fehler unterlaufen. Im Video bekommt die linke Wand eine Brechung nach links, um im Hintergrund Taylor Swift groß erscheinen zu lassen. In mittelalterlichen Gemälden von Giotto wäre das Absicht gewesen, hier aber nicht. |
Artikelnachweis: https://www.theomag.de/140/am772.htm |