![]() Wie in einem Spiegel
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Von Mänteln, Pazifisten und unerbetenen HeilungenVom Hl. Martin lernenAndreas Mertin Sascha Flüchter hat auf zeitzeichen.net einen schönen Text über den Hl. Martin geschrieben. Er trägt den Titel „Halber Mantel, volle Solidarität. Martin teilte nicht seinen Wohlstand, sondern die Armut mit dem Bettler“.
Ich möchte an dieser Stelle nur einige Details ergänzen, die sich aus der Lektüre der Legenda aurea aus der Mitte des 13. Jahrhunderts und ihren Visualisierungen ergeben. Das Buch zeigt uns die Wirkungsgeschichte der Ursprungserzählungen, sie ist eine fantasiereiche Kompilation diverser Quellen, die von Jacobus di Voragine zusammengestellt wurde. Es war das visuell wirkungsreichste Buch des Mittelalters und hat die christliche Ikonographie stark beeinflusst. In Deutschland ist die verbreitetste Ausgabe die mit der Übersetzung von Richard Benz (Voragine, Jacobus de (2007): Die Legenda aurea. Das Leben der Heiligen. Übersetzt von Richard Benz: Gütersloher Verlagshaus). Es gibt aber auch Auswahlausgaben bei Reclam (Jacobus (2016): Legenda aurea. Lateinisch/deutsch. Hg. von Rainer Nickel. Stuttgart: Reclam. Reclams Universal-Bibliothek, Bd. Nr. 8464.) oder im Manesse-Verlag (Voragine, Jacobus de (2006): Legenda aurea: Manesse Verlag.) Vorab
Der geteilte Mantel
Im lateinischen Ursprungstext der Legenda aurea steht nichts von einem reitenden Martin, da passiert (transiens) Martin nur das Tor von Amiens, wobei die Mehrzahl der Illustratoren davon ausgeht, dass er auf einem Pferd die Stadt Amiens verlässt. Der zentrale Punkt dieser kunstvoll aufgebauten Erzählung ist zunächst, dass der Bettler nackt (nudum) ist und das in der Winterzeit des Jahres 334. Selbst wenn es in Amiens im Nordwesten Frankreichs etwas wärmer ist als in den meisten Gegenden Deutschlands, dürfte es für einen Unbekleideten ziemlich kalt gewesen sein. Es geht in der Geschichte nicht vorrangig um die Armut des Bettlers, sondern ganz konkret um seine fehlende Kleidung. Der junge Martin begreift die Begegnung sofort im Licht des Verses 36 aus der Weltgerichtsrede Jesu in Matthäus 25: „Ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben“. Als Taufbewerber kennt er den biblischen Text natürlich und appliziert ihn auf die Situation: „Da verstand Martinus, dass von ihm dem Armen sollte Hilfe kommen“, denn in dem Armen verkörpert sich nach der Narratio des Christentums Jesus Christus selbst. In einer Welt, die noch voller Zeichen und Wunder steckt, weil sie noch nicht entzaubert, noch nicht entmythologisiert war, ist die Begegnung mit einem nackten Bettler nicht einfach ein alltägliches Ereignis (was es im 4. Jahrhundert ganz sicher war), sondern immer auch ein göttlich determiniertes und religiös zu deutendes Geschehen. Nur so erklärt sich die Formulierung „Da verstand Martinus“ er versteht, indem er appliziert.
Die verschenkte TunikaDass Martin auch mehr machen kann, als den Mantel nur zu teilen, wird aus einer anderen Erzählung der Martins-Legenden deutlich. Denn nachdem Martin Bischof geworden war, folgte ihm, als er an einem Festtag zur Messe in die Kirche ging, ein Armer, der wie der Bettler in der Erzählung zuvor ebenfalls nackt war. Und auch hier hätte der Bischof natürlich einfach seinen Mantel (bzw. seine Tunika) teilen können. Das macht er aber nicht, weil er inzwischen über andere Mittel verfügt, er ist ja Bischof:
Das ist eine durch und durch witzig konstruierte Situation. Der durch seine Gabe kleider-arm gewordene Bischof ist nun selbst der Kleiderspende bedürftig. Laut Erzählung verfügt Martin zunächst über zwei Kleidungsstücke: den bischöflichen Mantel und darunter seine Tunika. Letztere gibt er dem nackten Bettler, aber nun entsteht ein neues Problem: ohne Tunika kann er keinen Gottesdienst halten. Er wird selbst zum Bedürftigen.
Auf dem Fresko, das Simone Martini zwischen 1312 und 1317 für die Martinskapelle in der Unterkirche der Basilika San Francesco in Assisi geschaffen hat, sehen wir, wie bei der Elevation der Hostie die Unterarme des Bischofs entblößt werden woraufhin schnell zwei Engel herbeifliegen und Martins Unterarme mit Gold bedecken der Anstand und der Respekt gegenüber Gott bleiben auf diese Weise gewahrt. Soweit zum Dress-Code für Bischöfe. Diese Erzählung war zumindest im 14. Jahrhundert den Christen so wichtig, dass sie sie in den Bilderzyklus in der Martinskapelle in Assisi aufnahmen. Ein Bekleidungswunder nach einer Kleiderspende. Unerbetene Heilungen oder: Vom Betteln als BerufDie folgende Geschichte, die ganz am Ende der Erzählungen der Legenda aurea zum Heiligen Martin von Tours steht, gehört ehrlich gesagt zu meinen Lieblingsgeschichten aus dem Buch. Sie lautet so:
Und sie starben arm und elendig könnte der Text noch hinzufügen. Da ist auch viel von den Debatten um die Sozialgesetzgebung unserer Zeit drin enthalten. Wir haben als Gesellschaft konkrete Vorstellungen davon, wie sich Marginalisierte zu verhalten haben. Und wir verdächtigen sie, sich in ihrer scheinbaren Armut gut eingerichtet zu haben und von ihrer Situation zu profitieren und sei es durch Betteln. Dagegen hat sich das Christentum immer gewandt. In einer christlichen Stadt sollte kein Bettler sein das hatte schon Karlstadt 1522 gepredigt. Man kann das doppelt auslegen: Entweder niemand soll betteln müssen oder niemand soll betteln dürfen. Durch Letzteres wird man das Problem der Armut aber nicht los. Sollen sie doch arbeiten sagt die CSU, wohl wissend, dass ein guter Teil dieser Bedürftigen das gar nicht kann. Dafür stehen der Blinde und der Lahme symbolisch in dieser Geschichte. Gott gewährt den Menschen Gutes selbst gegen ihren Willen da spricht mehr der sich über die Bettler ärgernde Bürger als der um das Seelenheil besorgte Christ. Das Gute, das Gott da gewährt, ist ja, dass der Bürger sich nicht mehr um die Bedürftigen kümmern muss. Der Pazifist oder: Wie begegnet man einem Angriffskrieg?Eine andere Geschichte vom Hl. Martin wird seltener erzählt, vielleicht weil das darin verkündete Gottvertrauen uns suspekt geworden ist, vielleicht aber auch, weil das Christentum inzwischen auch seinen Frieden gemacht hat mit dem Militär und dem militärischen Engagement der Gemeindemitglieder. Martin kommt aus einer Familie, die beim Militär arbeitet, sein Vater ist Soldat und auch Martin soll deshalb die Militärlaufbahn einschlagen. Aber die Bekehrung zum Christentum macht einen Strich durch diese Planungen. Und dann kommt auch noch ein Krieg den neuen Überzeugungen des jungen Martin in die Quere und zwingt ihn zur Entscheidung:
Man meint beinahe, in dieser Geschichte das Raunen aus den heftigen Debatten um die christliche Haltung und Beteiligung am Verteidigungskrieg der Ukraine mitzulesen. „Es fielen Barbaren in der Ukraine ein“ das lesen wir jeden Tag. Und auch, dass viel Geld aufgewendet werden muss zur Verteidigung gegen die Barbaren. „Martinus jedoch, der nicht mehr Kriegsdienst leisten wollte, lehnte das Geld ab und sagte zum Kaiser: ‚Ich bin ein Soldat Christi, mir ist es nicht erlaubt zu kämpfen.‘“ Das ist in Deutschland nicht nur strittig, sondern wird vehement abgelehnt. Christen dürfen, müssen, sollen kämpfen, um die Barbaren abzuwehren. Martin sieht das nicht so. Er will keinen „Kriegsdienst“ mehr leisten. Würde ein junger Ukrainer sich so verhalten, würde er bestraft. Denn niemand nähme ihm die religiöse Begründung ab, sondern würde unterstelle, ihm fehle der Mut zur „Vaterlandsverteidigung“. Und Martin verweist in seiner Antwort darauf, dass Pazifismus nicht bedeutet, nichts zu tun, sondern aktiv aber eben ohne Waffen für den Frieden einzutreten. Heute würde der Heilige Martin von Tours für diese Haltung schnell als „isolierter radikaler Pazifist“ abgetan, die „beati pacifici“ gelten in der Kirche nicht mehr viel. So aber erweist sich eine Erzählung vom Handeln des jungen Martin doch noch als eine mit radikaler gesellschaftlicher Sprengkraft, weit entfernt von den Martinsumzügen dieser Tage. |
Artikelnachweis: https://www.theomag.de/140/am775.htm |