Das Theomag bloggt (wieder)

Was ich noch zu sagen hätte

Andreas Mertin

Seit Mitte Oktober 2022 hat das Magazin tà katoptrizómena wieder ein Blog unter dem Titel „Das Theomag bloggt“ (www.theomagblog.de). In alter Tradition fassen wir in jedem neuen Heft des Magazins die wichtigsten Blog-Beiträge der letzten zwei Monate zum Nachlesen zusammen. Gleichzeitig bietet der Blog den Leser:innen die Möglichkeit, uns bei der Arbeit über die Schulter zu schauen, denn wir werden laufend Erkenntnisse aus der aktuellen Arbeit im Blog publizieren. Sie müssen also nicht zwei Monate warten, um die Themen des nächsten Heftes kennenzulernen.


14.10.2022 - Was ist mehr wert? Natur oder Kultur?

„Was ist mehr wert, Kunst oder Leben?“ fragte eine Klima-Aktivistin, die heute symbolisch ein Bild von Vincent van Gogh mit Tomatensoße übergoss.

Ehrlich gesagt, muss ich da nicht lange überlegen. Wer die Kultur gegen die Natur ausspielt, dürfte auch nicht viel Vertrauen in Sachen Natur verdienen. Es ist pubertär, die Werte anzugreifen, die man nicht versteht. Grundsätzlich gehört beides aber ganz unterschiedlichen Lebensbereichen an.

Ich verweise ja an dieser Stelle immer gerne auf eine der schönen Geschichten von Bertolt Brecht über Herrn Keuner:

„Herr Keuner sah irgendwo einen alten Stuhl von großer Schönheit der Arbeit und kaufte ihn. Er sagte: Ich hoffe auf manches zu kommen, wenn ich nachdenke, wie ein Leben eingerichtet sein müsste, in dem ein solcher Stuhl wie der da gar nicht auffiele oder ein Genuss an ihm nichts Schimpfliches noch Auszeichnendes hätte.“

Das ist es, was Kunst und Kultur leisten: uns einen Eindruck davon zu geben, wie ein Leben aussehen würde, das vom Zwang entbunden wäre.

In der Sache aber ähnelt die Geste der Klimaaktivisten aber eher jener des Bankräubers, der seine Waffe auf einen Unschuldigen richtet und dann laut schreit: „Geld oder Leben“ und davon überzeugt ist, dass dem so bedrohten das Leben wichtiger ist, während ihm, dem Räuber das Leben des Anderen gar nichts wert ist und das Geld, das er haben will, um so mehr.

Letztlich ist aber selbst die Formel „Kunst oder Leben“ falsch, denn faktisch entbehrt das so bezeichnete „Leben“ jeglicher näheren Bestimmung: eigentlich meint es: „Kunst oder Überleben“ – denn nur so bekommt die Formel einen Sinn. Im besten Fall ist gemeint, wenn das Überleben nicht mehr garantiert ist, mache auch die Kunst keinen Sinn mehr. Umgekehrt wird ein Sinn daraus. Und wir wissen aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts, dass die, die sagten „Kunst oder Leben“ den so Erpressten später beides nahmen. Man sollte sich deshalb auf diese Alternative nicht einlassen. Am Ende werden sie nicht nur die Kunst symbolisch angreifen, sondern auch Menschen – und irgendwann werden sie Ernst machen und auch die Kunst und die Menschen direkt angreifen. Die Geschichte der RAF ist ein sinnfälliges Beispiel dafür.


16.10.2022 - #mahsaamini


16.10.2022 – Fundstück aus der aktuellen Arbeit I

Das ist ein Detail aus einem Biedermeierbild, das eigentlich die Geschichte vom armen Lazarus und dem reichen Prasser zum Thema hat. Ich beschäftige mich im Augenblick damit, weil es um die Frage geht, wie Reichtum heute visuell zum Ausdruck kommt. Dabei war ein Bild vorgegeben, bei dem das nebenstehende Detail fast unsichtbar das rahmende Geschehen abbildete. Im Zentrum des Bildes fand man dagegen die biblische Geschichte des armen Lazarus, die in das 19. Jahrhundert verlegt wurde. Das Ende der Geschichte (Lazarus im Himmel und der Prasser in der Hölle) wurde auf diesem Bild nicht dargestellt – dafür gab es dann ein anderes Bild, ein Gegenstück.

Am linken Bildrand fügt der Künstler also das rechte Bilddetail ein, das sich aus der Zeitgeschichte erklärt (Kammermohren waren seit dem 18. Jahrhundert bei den Herrschenden beliebt), aber heute angesichts der Debatten über Kolonialismus und europäischen Reichtum einen anderen Fokus bekommt. Wer generiert den Reichtum des Reichen? Über den Kammermohr lerne ich dabei bei der wikipedia:

Der prächtig ausstaffierte und livrierte Kammermohr diente Herrschern, kirchlichen Würdenträgern oder wohlhabenden Kaufleuten als exotisches Prestigeobjekt und Statussymbol. Er sollte den Reichtum und Luxus des eigenen Hauses zur Schau stellen und fungierte darüber hinaus in vielen Fällen als Gesellschafter oder Privatlehrer. Vor allem versinnbildlichte der Kammerdiener aber die weltweiten Fernhandels- und Machtbeziehungen seines Eigentümers. Offiziell kannte das Heilige Römische Reich den Rechtsstatus des Sklaven nicht, weshalb der Historiker Michael Zeuske die Kammermohren als „Sklaven ohne Sklaverei“ bezeichnet.

Und das wird dann auf dem Bild dargestellt und ruft bei mir Assoziationen zu Thorstein Veblens „Theorie der müßigen klasse“ oder auch Pierre Bourdieus „Die feinen Unterschiede“ hervor: Individueller Reichtum artikuliert sich als ostentative Geste auf Kosten der Ausgebeuteten und Unterdrückten.


16.10.2022 – Fundstück aus der aktuellen Arbeit II

Das Bilddetail stammt aus einem Kunstwerk, das die Altersarmut eines Ehepaares thematisiert und zugleich zeigt, wie die begüterten Kinder sich weigern, ihre Eltern zu unterstützen. Wenn man sich das Detail genau anschaut, dann ist die alte betrübte Frau derartig geschwächt, dass sie ihren linken Arm, dessen Hand die Tränen wegwischt, mit der rechten Hand stützen muss.

Altersarmut spielt durch die Geschichte der Menschheit hindurch eine wichtige rolle für die Ethik, die eine Horde, eine Gruppe oder eine Gesellschaft entwickelt. Im biblischen Gebot, das wir wahrscheinlich in der Formulierung „Du sollst Vater und Mutter ehren“ gelernt habe, spielt in der ursprünglichen Formulierung die Altersarmut eine zentrale Rolle. Anders als es das bürgerliche 19. Jahrhundert mit seinem verschnöselten Begriff der Ehre meinte, geht es gar nicht um „Ehre“, sondern um „kabod“, Schwere und Gewichtigkeit. Salopp könnte man formulieren: „Du sollst Vater und Mutter fetthalten“. Das war in Zeiten, in denen es keine Sozialgesetzgebung gab, ein zentrales ethisches Moment. Die Eltern, die weder durch Jagd noch Verdienst sich noch ernähren konnten, nicht verhungern zu lassen. Früher war das intuitiv einsichtig, heute, genauer seit 1980 wird es als Abstraktum gesellschaftspolitisch unter dem Stichwort „Altersarmut“ diskutiert:


17.10.2022 – Fundstück aus der aktuellen Arbeit III

Das Bilddetail stammt aus einem Kunstwerk vom beginnenden 16. Jahrhundert, in dem ein Geldwechsler bei der Arbeit gezeigt wird. Hier sehen wir die fromme Frau des Geldwechslers, die versucht, die Arbeit ihres Mannes mit den Bestimmungen des Glaubens in Übereinstimmung zu bringen. Aber auch in ihre eigene Welt der Religion dringt der Alltag bereits ein: rechts hinter ihr der Lärm der Straße, links vor ihr der Hohlspiegel, der ein Zimmerfenster mit Ausblick spiegelt.


20.10.2022 – Fundstück aus der aktuellen Arbeit IV

Günther Anders macht sich 1954 vor einem Besuch der nord- und mittelitalienischen Kunststädte Gedanken darüber, was Kunst eigentlich für die Menschen bedeutet und in welchem Verhältnis sie zur Geschichte steht. Dabei nutzt er eine interessante Metapher, die von der Raupe, die davon befreit wurde, Schmetterling zu werden.

Es sei „wie die Geschlechterfolge jener isländischen Schmetterlinge, denen es nur in seltensten Fällen erlaubt ist, wirklich Schmetterlinge zu werden, weil sie, gehetzt durch die Kürze des Sommers, schon als Raupen gezwungen waren, Reproduktionsfähigkeit zu entwickeln, sodass sie sich nun als Geschlechterfolge von Raupen entwickeln, die von ihren «Überraupen» = dem Schmetterlingsdasein vielleicht gar nichts mehr wissen. Geschieht es nun aber, dass eine dieser Raupen durch eine besondere Gunst doch das Schmetterlingsdasein erreicht, dann steht sie «quer zur Geschichte» der Raupen.

Und er fährt fort:

„Einerseits ist der Schmetterling allen Raupen voraus, da er das erreicht hat, was sie «noch nicht» sind; andererseits aber ist er, da er einer Raupengeneration angehört hatte, die bereits weitergezeugt hat, überholt durch ein neues Raupengeschlecht. Dieses Zugleich von «voraus» und «überholt» scheint auf den ersten Blick etwas höchst Sonderbares; nirgends finden wir die Erscheinung beschrieben. Aber in Wirklichkeit ist uns das Phänomen durchaus vertraut. Und zwar eben durch die großen Kunstwerke. Denn sie sind das, was «quersteht» in unserer Geschichte.“

Das finde ich einen interessanten Gedanken, eine übrigens von Günther Anders eigens erfundene Metapher, denn den isländischen Schmetterling gibt es wohl gar nicht, aber als Metapher gibt sie eine sich zunehmend durchsetzende Entwicklung wieder, die Einstellung, dass wir der Kunst nicht (mehr) bedürfen.


21.10.2022 – Fundstück aus der aktuellen Arbeit V

In einem Bild von Joseph Danhauser, das als Gegenstück zu seinem Werk zum Thema „Armer Lazarus“ entworfen wurde, sieht man Lazarus zusammen mit einem Kammermohr (siehe Fundstück I) in der Armenküche eines Klosters. Es findet sozusagen eine Verbrüderung zwischen dem schwarzen Bedienten und Lazarus statt. Da Lazarus einer der wenigen Menschen ist, der jetzt schon im Paradies ist, ist diese Gleichstellung mit dem Kammermohr bemerkenswert.

Aber heutigen Betrachtern würde es schwerfallen, in dem Bild überhaupt eine Variante der Geschichte vom reichen Prasser und dem armen Lazarus zu erkennen. Ohne Hilfestellungen und direkte Hinweise funktioniert das nicht mehr. Zumal der Künstler das Bild angereichert hat und es offenbar mit anderen biblischen Texten vermischt hat. Ich meine, Anspielungen auf die Fußwaschung nach dem Johannes-Evangelium erkennen zu können und darüber hinaus auch konkrete Anspielungen auf das Mahl der Emmaus-Jünger mit Jesus nach der Auferstehung (Da wurden ihnen die Augen aufgetan). Und schließlich findet sich im Hintergrund – einem Kreuzgang eines Klosters – eine Anspielung auf Jesu Weltgerichtsrede, denn hinter dem Paar mit dem reichen Prasser sehen wir einen Opferstock, der in der Kirche traditionell der Geldsammlung für die Armenspeisung dient. Also ein überaus dicht codiertes Bild.


21.10.2022 – Dass der Mensch nicht lebt vom Brot allein

Heute bekam ich wieder einen dieser Briefe, die sich angesichts der kommenden Weihnachtszeit häufen, und die die Adressaten um Spenden angehen für Benachteiligte in der ganzen Welt. Heutzutage sind diese Briefe immer gefüllt mit Geschichten von ganz schrecklichen Lebensverhältnissen bestimmter in der Regel mit konkreten Namen bezeichneter Menschen. Der Appell an das Mitleid ist eine feste Größe dieser Schreiben.

Aber darüber will ich gar nichts Negatives sagen, die Arbeit vieler dieser Initiativen ist gut und unterstützenswert. Nur ihr Marketing lässt manchmal zu wünschen übrig. Die Christoffel Blindenmission ist schon früher durch merkwürdiges Werben aufgefallen. Im Interesse der Sache – dem Einwerben von Spenden – ist jedes Argument recht. Dieses Mal war es der Briefumschlag, der mich störte:

Ist es wirklich notwendig, zur Generierung von Spenden für die Notleidenden der Welt, den Hunger gegen das Wissen auszuspielen? Ich glaube nicht. Das Argument lautet, die Kinder seien zu hungrig, um zu lernen. Das mag ja sein, aber dann muss man doch nicht das Wissen durchstreichen. Ich weiß, es geht in der Werbung um den ‚gesunden Biss‘, das zur Formel verknappte Argument. Aber in diesem Fall nervt mich das.

Und dann sind wir im Deutschen hungrig nach Bildung und durstig nach Wissen, so jedenfalls legen es die im Duden belegten Substantive Wissensdurst und Bildungshunger nahe. Nur wären das nicht mehr so schöne Slogans gewesen.

In der Regel werden so auf Briefen entweder nicht entwertete Briefmarken oder falsche Adressen durchgestrichen. Wissen ist hier unzustellbar soll gesagt werden, weil das Geld für das Essen fehlt. Dagegen würde ich dann doch mit dem alten und neuen Testament daran festhalten, dass der Mensch nicht lebt vom Brot allein.


22.10.2022 – Und sein Hund lief hinterher

Und schon wieder erreicht mich ein Bettelbrief, dieses Mal von der Initiative „Vier Pfoten“. Der Streuner namens Puca steht exemplarisch für alle Tiere der Welt, die der menschlichen Hilfe bedürftig sind und deshalb wird eine Spende erbeten. Und sozusagen vorausgreifend wird ein Dankeschön für die kommende Spende beigelegt – eine Einkaufstasche.

Ich war mir nicht sicher, wo der Zusammenhang zwischen Tierhilfe und Einkaufstasche liegt, bis ich mich an Darstellungen aus der Kunstgeschichte erinnerte, die sich dem Buch Tobit widmeten und den Erzengel Raphael zusammen mit Tobias und seinem Hund zeigten. Das sind Darstellungen, bei denen Tobias einen Fisch an Stelle einer Einkaufstasche trägt. Und das macht es ja nicht unplausibel, hier einen Zusammenhang zu sehen. Tierhilfe mit Hilfe von Einkaufstaschen. Allerdings musste im Fall des Tobias der Fisch geopfert werden, um dem Vater zu helfen, der zu erblinden drohte. Aber zumindest der Hund scheint überlebt zu haben. Die Tasche jedenfalls, die mir „Vier Pfoten“ proleptisch schenkt, ist praktisch. Das hat mich überzeugt. Und sie kommt sogar ohne die heute anscheinend obligaten Aufschriften und Logos aus. Das zumindest sollte eine Spende wert sein.


24.10.2022 – Taylor Swift erbricht sich …

… und alle schauen hin. Wer hätte das gedacht – das Erbrechen als Show-Akt. Gerade ist Taylor Swifts Musikvideo zu ihrem neuen Stück „Ant-Hero“ erschienen und die Fans sind amüsiert-schockiert.

Als kunsthistorisch interessierter Mensch möchte ich nun weniger über die sicher beeindruckende intertextuelle Verwobenheit ihres Textes zu ihrem bisherigen Oeuvre wissen (das interessiert vor allem die Fans), als vielmehr die Bezüge zur kunst-geschichtlichen Tradition.

Gibt es eine Kunstgeschichte des Erbrechens habe ich mich gefragt. Und tatsächlich werde ich im Amsterdamer Rijksmuseum fündig. Die ersten Grafiken zum Thema „Erbrechen“ beginnen dort um das Jahr 1524. Als ich sie gesehen habe, war ich froh, dass Taylor Swift sich in ihrem Clip auf das Erbrechen beschränkt hat. Das Mittelalter und die frühe Neuzeit waren da weniger zimperlich (hier eine Zusammenstellung in meinem Rijks-Studio). Zumindest habe ich dabei ein Bild gefunden, das der Szene bei Swift ähnlich ist. Es ist von Jan van Velde II. (1593-1641) und stammt aus dem Jahr 1633. Bei Taylor Swift sieht der gleiche Vorgang etwas dezenter und weniger direkt aus, aber unangenehmer fürs Ego, da sie ja sich selbst ankotzt.


26.10.2022 – Die feinen Unterschiede

Es ist nun doch etwas anderes, ob ein indonesisches Kunstkollektiv ein antisemitisches Kunstwerk früherer Zeiten zeigt oder eine bio-deutsche Kirchengemeinde. Die einen werden gezwungen, ihr Kunstwerk abzuhängen, weil kein Kommentar das Schmähwerk in seinem beleidigenden Charakter mindern kann, die anderen verweisen stolz darauf, dass Kunstwerk und Kommentar eben zu ihrer Geschichte, ihrer Identität gehören. Und da haben sie Recht. Bis heute gehört der Antisemitismus zur deutschen Identität. Wenn das angesichts öffentlicher Debatten etwas heikel wird, stellen wir einen Kommentar daneben, mit dem wir uns von dem Antisemitismus im Bild distanzieren, lassen es dann aber wohlgemut als Kunstwerk hängen. Als ob ein Kommentar die Wirkmacht von Bildern brechen könne. Da sollte man aus der Kirchengeschichte etwas mehr gelernt haben. Die Wittenberger behaupten, sie hätten aus der Geschichte gelernt und gerade deshalb wollten sie die antisemitische Schmähplastik nicht entfernen, sondern direkt vor Ort kontextualisieren. Offen gesagt: ich glaube ihnen nicht. Ich halte ihre Kontextualisierung für ein Lippenbekenntnis, das folgenlos bleibt.

Ich hatte schon in der letzten Ausgabe des Magazins für Theologie und Ästhetik auf das Abendmahlsbild in der gleichen Wittenberger Stadtkirche verwiesen, auf dem Judas in herabsetzender Weise dargestellt ist. Die Wittenberger Kirche erweist sich – durchaus in der Tradition Martin Luthers – als Sammelstelle antijüdische Visualisierungen. Und sie hat ein gutes Gewissen dabei, weil sie sich ja vom Antisemitismus distanziert. Sie sagen: Wir haben nichts gegen Juden, aber Antijudaismus gehört zu unserer Geschichte und das wollen wir zeigen.

Die documenta fifteen stellt uns ganz konkret die Frage: können wir noch Abendmahl feiern unter einem Bild, das Juden herabsetzt? Geht das nach der Kriteriologie, die wir in Kassel zur Anwendung gebracht haben? Ich könnte es nicht. Jeder Gottesdienst in der Wittenberger Stadtkirche vor dem Altarwerk von Lukas Cranach ist Gotteslästerung, weil es nicht möglich ist, im liturgischen Vollzug zwischen dem kulturgeschichtlichen Werk, vor dem man feiert, und dem liturgischen Bild, das zum Ritus gehört (es ist schließlich ein Altarbild) zu unterscheiden.

Natürlich kann man, wie das einige jüdische Kommentatoren vorgeschlagen haben, die Wittenberger Stadtkirche musealisieren und den Wittenberger Antijudaismus zum Schaustück am historischen Ort machen. Nur fragt sich, wie eine christliche Gemeinde damit umgeht, dass sie nun nicht mehr Gottesdienst feiert, sondern Kulturgeschichte vergegenwärtigt. Darin sehe ich ein religiöses Problem.


27.10.2022 – Pierre Soulages

Jürgen Taube hat in der F.A.Z. den einzig richtigen Titel für den Nachruf auf den verstorbenen Künstler Pierre Soulages gewählt: „Und Finsternis lag auf der Tiefe“. Dieses Zitat aus Genesis 1,2 beschreibt wie kaum ein anderes die Herausforderung, vor der jeder Künstler steht. Die leere Leinwand, die uns weiß erscheint, ist für den Künstler / die Künstlerin jene Finsternis, über die der Geist schwebt und die gestaltet werden muss. Und das ist ein hartes Ringen, von dem einmal William Kentridge in seinen Harvard Lectures Auskunft gegeben hat. Wie kann es gelingen dem Hang zur Figuration, zur Illustration, zum Abbild von etwas zu entgehen? Zu verhindern, etwas abzubilden, was es schon gegeben hat, eine Welt zu schaffen, die es schon gibt.

Pierre Soulages, am 24. Dezember 1919 in Rodez geboren, ist am 25. Oktober 2022 in Nimes gestorben. Sein gesamtes Werk zeichnet sich dadurch aus, gerade nicht etwas abbilden zu wollen, keine Darstellungen von etwas, sondern autonome Werke, die für sich stehen, eine eigene Welt, ein eigener Kosmos, Werke am Rande des Verstummens. Schwarze Löcher, die alles in sich aufnehmen, was es gibt, dunkel, schwarz und dennoch „jenseits von Schwarz“, leuchtend und die Welt reflektierend. Und auch in einer Kirche hat Soulages gearbeitet, in der Abbatiale Sainte-Foy de Conqueshat hat er einen ganz eigenen Kosmos geschaffen, abhängig vom Licht, von dem dann die folgenden Verse des ersten Kapitels der Genesis schreiben.


30.10.2022 – Fundstück aus der aktuellen Arbeit VI

Dieses Bild fand ich im Grafikbestand des Amsterdamer Rijksmuseums. Es stammt von dem in der Schweiz geborenen, dann aber in Frankreich lebenden Künstler Charles-Joseph Traviès (1804-1859). Er illustriert ein Zitat des französischen Schriftstellers Jean de La Bruyère (1645-1696), der festhält, dass es kein Werk der Kunst gibt, das noch Bestand hätte, wenn es sich der Kritik der Zensoren unterwerfen würde, denn diese entfernten alles aus dem Werk, was ihnen nicht passt, was anstößig sei.

Das Bild zeigt nun ganz viele Leute, die mit sehr unterschiedlichen Ansätzen versuchen, ein Buch nicht nur zu durchstöbern, sondern es auch zu zensieren: indem sie es schwärzen oder beschneiden, unleserlich machen oder auch zerstören, indem sie es verbrennen.

Heutzutage ist die Kritik an der Kunst natürlich sowohl subtiler wie auch grobmaschiger. Es geht nicht mehr um das direkte staatliche Verbieten, nicht mehr um Zensur oder Vorzensur als solche, sonder um scheinbar berechtigte konkurrierende Interessen. Heute würden die Zensoren einen problematischen Punkt im Werk suchen, einen Satz, eine These, ein Sprachbild und dann würde die Kritik zuschlagen, so dass vom ursprünglichen Werk kaum etwas übrigbliebe. Und wie auf dem Bild von Traviès dargestellt, machen dies nicht individuelle Kritiker:innen, sondern Netzwerke, die sich koordiniert der Zerstörung oder Verhinderung von Kunst widmen. Das macht dieses Bild von Traviès heute wieder so aktuell.


31.10.2022 – Jesus in der israelischen Kunst

Dietrich Neuhaus, unser früherer Mitherausgeber, machte mich darauf aufmerksam, dass es 2016/17 im Israel-Museum eine Ausstellung gegeben hat, die sich mit „Jesus“ in der jüdischen Kunst beschäftigt. Diese Ausstellung ist in großen Teilen weiterhin online zugänglich und ist auch sehr gut kommentiert. Zu finden ist sie unter dieser Adresse. Die Ausstellung trägt den Titel „Behold the Man. Jesus in Israeli Art“. Ausgestellt wird natürlich einiges von Marc Chagall, das ist unvermeidlich, aber auch Werke von Maurycy Gottlieb, E. M. Lilien, Reuven Rubin, Igael Tumarkin, Moshe Gershuni, Motti Mizrachi, Menashe Kadishman, Michal Na’aman, Adi Nes und Sigalit Landau. Letztere kennen die Leser:innen des Magazins für Theologie und Ästhetik, weil ein werk von ihr Teil der documenta-Begleitausstellung von 2012 war und seinerzeit von Karin Wendt im Magazin vorgestellt wurde (Embodying Art. Sigalit Landau).

Natürlich ist man bei derartigen Ausstellungen weitgehend auf figurative Kunst verwiesen. Das ist ihr elementarer Nachteil. Nur wenige Arbeiten können sich davon lösen. Jenen großen Zyklus, den man sich in der Ausstellung gewünscht hätte, findet man dort leider nicht: Barnett Newmans „The Stations of the Cross – Lema Sabachthani“.


Quelle: Datei:National Gallery of Art - Barnett Newman - The Stations of the Cross - Lema Sabachthani
(5946553792).jpg -
https://de.wikipedia.org

Dafür finden sich viele andere interessante und nachdenkenswerte Arbeiten. Eine davon will ich kurz vorstellen, weil ich den Künstler bisher nicht kannte und er als dezidiert zionistischer Künstler einen spezifischen Gebrauch vom Jesus-Thema macht: Ephraim Moses Lilien (1874–1925).

Das Israel-Museum schreibt zur Vorstellung des Künstlers und des ausgestellten Werkes mit dem Titel "Passover":

Es war Ephraim Moses Lilien (1874–1925), der in die traditionelle jüdische Gesellschaft hineingeboren wurde und als Künstler in den kulturellen Zentren Mitteleuropas auftauchte, der die visuelle Darstellung des Zionismus in seinen frühen Jahren prägte. Als einzigartige Verschmelzung von Erotik und Fantasie des Jugendstils (Art Nouveau) mit frühem zionistischem Pathos und Idealismus gelang es Liliens Kunst, jüdische und christliche Symbole, Orientalismus und Einflüsse aus dem alten Ägypten und Assyrien zu kombinieren. Dieser eklektische Ost-West-Stil, der als Judenstil bezeichnet wird, wurde zu seinem persönlichen Markenzeichen. Liliens nationaljüdische Kunst schwingt auf subtile Weise mit der christlichen Idee mit, dass die Rückkehr der Juden nach Zion eine Vorbedingung für das Zweite Kommen war, was viele Christen dazu veranlasste, den Zionismus mit der Erlösung in Einklang zu bringen. Ohne Jesus darzustellen, umfassen seine Illustrationen Dornenkronen, Kreuzigungen und mit Maria verbundene Ikonographien. Diese Motive sind von zionistischer Bedeutung durchdrungen, ob sie nun als Zeichen für jüdisches Leiden in der Diaspora dienen oder eine stolze Entschlossenheit verkünden, eine nationale Wiederauferstehung im Land Israel zu erreichen.

Und das macht das Bild tatsächlich zu einem überaus herausfordernden Bild, das einen nicht kalt lässt, sondern zur je eigenen Stellungnahme nötigt. Das finde ich gut.


02.11.2022 – Ikonoklasmus kann emanzipatorisch sein

Der hannoversche Landesbischof Ralf Meister hat sich für die Entfernung und Zerstörung der "Judensau" an der Fassade der evangelischen Stadtkirche Wittenberg ausgesprochen. "Man sollte sie nicht nur entfernen, sondern radikal vernichten, zerstören und kaputt machen", sagte Meister am Sonntagabend in der Marktkirche in Hannover. Dies sei der richtige Umgang mit einer fehlgeleiteten, vernichtenden Ästhetik.

Ralf Meister hat recht. Anders als ich es noch 2016 meinte, als ich das Thema zum ersten Mal im Magazin für Theologie und Ästhetik erörterte, reicht es nicht, die schreckliche Plastik an der Wittenberger Stadtkirche nur zu ent­fernen und sie in ein Museum zu stellen. Sie muss zerstört werden. Das macht aber nur Sinn, wenn dieser ikonoklastische Akt, dieser Bildersturm, der er ja nun einmal ist, als solcher bewusst geschieht und auch im Bewusstsein gehalten wird. So wie der reformatorische und vor allem der reformierte Bildersturm sich im Bewusstsein erhalten hat (leider etwas anders, als es die Initiatoren beabsichtigt hatten). Wir müssen uns in ebenso symbolischen wie archaischen Gesten (und das ist ein solcher Bildersturm) von einer Ausdrucksform lösen, die böse bis in das letzte Element ist. Es geht dabei überhaupt nicht darum, den christlichen Antijudaismus und den protestantischen Antisemitismus aus dem Gedächtnis zu löschen, sondern ganz im Gegenteil, durch einen ikonoklastischen Akt im Gedächtnis zu verankern. Der byzantinische Bilderstreit, der reformatorische Bilderstreit sind Belege dafür, dass das gelingen kann. Die Konsensgesellschaft sucht nach moderaten Lösungen, die niemandem wehtun, aber letztlich die Beleidigten permanent weiter verletzen. Wenn wir die Skulptur in Wittenberg als wirkmächtig ansehen, dann müssen wir dem auch begegnen. Natürlich verhindert man keinen Antisemitismus, indem man eine antisemitische Skulptur zerstört. Aber man schafft einen ikonischen Akt, der zeigt, dass der Judenhass ein zu bekämpfendes Element unserer Gesellschaft ist. Und das erreicht man nicht, indem man freundlich oder meinetwegen auch betroffen mit einer Texttafel erklärt, wie es den bedauerlicherweise zu 6 Millionen toten Juden gekommen ist, wozu dieses Objekt seit 800 Jahren seinen Beitrag geleistet hat.

Für die Beibehaltung des Objekts spräche, wenn man der Meinung wäre, dass der Antijudaismus weiter tief in der lutherischen Kirche verwurzelt wäre, wenn also die Entfernung der Skulptur einen identitätspolitischen Schaden bei der Gemeinde anrichten würde. Manchmal habe ich das Gefühl, dass es genau darum geht: deutlich zu machen, dass die Abkehr vom Judentum zur eigenen Identität gehört. Und das nicht nur historisch.

Das andere ist, dass das Prozedere ja merkwürdig ist. Der Beleidigende entscheidet darüber, ob die Beleidigung an seinem Gebäude hängend bleibt, während nicht auf die beleidigten Juden in Deutschland (und das sind nicht irgendwelche Wissenschaftler in Israel) gehört wird.


03.11.2022 – Hugenottisches Stillleben

Hanno Rauterberg bespricht gerade emphatisch in der ZEIT eine Ausstellung im Pariser Louvre. Er stellt seine Besprechung unter den Titel „O heiliges Gemüse! Selbst der Spargel wird zum Zeichen der Transzendenz“. Die Pariser Ausstellung trägt den Titel "Les Choses – Une histoire de la nature morte" und ist bis zum 23. Januar zu sehen. Der Louvre schreibt zur Ausstellung:

Die von Laurence Bertrand Dorléac kuratierte Ausstellung Things schlägt eine neue Sichtweise auf ein Genre vor, das lange Zeit als untergeordnetes Genre angesehen wurde, dessen Name – „Stillleben“ – an sich schon faszinierend ist. Darstellungen von Dingen, die bis in prähistorische Zeiten zurückreichen, sind ein wunderbares Fenster in die Geschichte. Künstler waren die ersten, die die Dinge ernst nahmen, indem sie ihre Präsenz erkannten, sie mit Leben erfüllten, ihre Formen und Bedeutungen, ihre Kraft und ihren Charme verherrlichten. Sie haben die Fähigkeit von Objekten eingefangen, unsere Vorstellungskraft zu beflügeln – uns glauben, zweifeln, träumen oder handeln zu lassen. Die Ausstellung greift das Stillleben-Genre aus der Perspektive des andauernden Dialogs zwischen vergangenen und gegenwärtigen Künstlern auf. Es wirft ein neues Licht auf unsere Verbundenheit mit materiellen Dingen und deckt die Kunstgeschichte von prähistorischen Äxten bis zu Chardin, Manet und den Readymades von Marcel Duchamp ab.

Unter den gezeigten Artefakten ist nun auch eine Arbeit von Luise Moillon (1610-1696), die zu den berühmtesten französischen Stillleben-Malerinnen des 17. Jahrhunderts zählt und aus einer Familie hugenottischer Maler stammt.


04.11.2022 – Was bringt die Digitalisierung?

Es sind immer wieder kleine Puzzlesteine, die einen ins Nachdenken bringen. Nachdem Anne Gidion zur Bevollmächtigten der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union geworden war, beschrieb ein Kollege sie als „Lobbyistin der EKD“ bei der Bundesregierung und bei der EU. Das ist sie wohl nicht, denn sie leistet dort Seelsorge und bespricht mit den Regierungen und Verwaltungen die gemeinsam interessierenden Fragen. Allenfalls könnte man sie als EKD-Diplomatin bezeichnen, aber selbst das finde ich unangemessen. Das zweite, was der Kollege bemerkte, war, dass Anne Gidion zu wenig auf Twitter aktiv sei. Ist das das Kriterium für heutige Theolog:innen, dass sie auf dem Netzwerk aktiv sind, in dem massenwirksam gehetzt, gemobbt und gefaked wird? Ich hatte gedacht, 2022 wäre das Jahr, in dem die Menschen aus Twitter aussteigen, weil es mit dem Gewissen unvereinbar ist, dort vertreten zu sein. Twitter sei, so las man es gerade in der FAZ, ein „Laden, der zu nichts anderem da ist als zur suchterzeugenden Fabrikation, Vervielfältigung und Weiterverarbeitung finster-klebriger Erregungsschmiere.“ Nicht erst seit Elon Musks Übernahme der Firma und der öffentlichkeitswirksam vollzogenen Bewillkommnung des Antisemiten Kanye West sehe ich nicht, wie man Twitter-Engagement zum Kriterium für Theolog:innen machen kann.

Dann kam jene Studie, die feststellt, dass die christlichen Influencerinnen entgegen den vollmundigen Ankündigungen gerade keine Menschen außerhalb der kirchlichen Blase erreichen können, sondern im Wesentlichen die mit der Kirche Hochverbundenen. Und nun? Keine Rettung der Kirche durch Digitalisierung, sondern nur eine bessere Binnenbindung im Ghetto? Das hätte man erwarten können, nur würde man gerne wissen, was daraus nun folgt.

Und schließlich veröffentlichte der NRW-Philologenverband eine Studie, die sich mit der Digitalisierung in der Bildung beschäftigt und zu dem ernüchternden Ergebnis kommt, es handele sich im Wesentlichen um ein Top-Down-Unternehmen von fachfremden Interessenverbänden und wenig pädagogischer Substanz. Da klingelte es mir ein wenig in den Ohren. Hatte ich Analoges nicht vor Jahren zur Digitalisierung in der Kirche geschrieben? Eine Top-Down-Unternehmung von Digital-Enthusiasten mit wenig theologischer Substanz? Ich meine ja (hier und hier). Aber das stieß auf heftigen Protest. Inzwischen ist es stiller geworden an der Digitalisierungsfront, von den erhofften Erfolgen hört man nichts, es herrscht das von mir erwartete weiße Rauschen.


06.11.2022 - Schon wieder eine Bilderattacke

Schon wieder wurden zwei Kunstwerke attackiert, dieses Mal die beiden Darstellungen der Maya von Goya im Prado in Madrid. Allmählich werden die Attacken zu einem Who is Who der Kunstgeschichte. Mit den Inhalten der Bilder hat es nichts zu tun, bloß mit ihrer Prominenz.

Von Goya gibt es ja zum Anliegen der Letzten Generation durchaus passende Werke, etwa aus der schwarzen Serie „Saturn verschlingt seine Kinder“. Aber darum geht es wohl nicht. Es ist ein dummer Angriff auf die Kulturgeschichte der Menschen, ein Angriff, der die Kunstwerke nicht als Argumente im gesellschaftlichen Diskurs begreift, sondern als wohlfeile Ziele zur Erlangung öffentlicher Aufmerksamkeit.


08.11.2022 – „Beati pacifici“

Auf Zeitzeichen.net kommentiert Redakteur Philipp Gessler unter der Überschrift "Isolierter radikaler Pazifist" die Predigt und die späteren Synodenauftritte des Friedensbeauftragten der EKD, Landesbischof Friedrich Kramer, der für eine stärkere Beachtung pazifistischer Haltungen in den gegenwärtigen Krisen eintritt. Aber Gessler macht das nicht in einer Form, die Darstellung und Kommentar sauber trennt, sondern er nimmt bereits in der Beschreibung Wertungen vor.  

„Selig sind die Pazifisten, denn sie werden Gottes Kinder heißen.“ So übersetzt der Friedensbeauftragte des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Landesbischof Friedrich Kramer, eine zentrale Seligpreisung Jesu in der Bergpredigt. … Das kann man eine freie Interpretation nennen – oder Chuzpe. Denn Kramer stützt mit dieser theologisch ziemlich freihändigen Übersetzung seine Position in der Friedensfrage

Das suggeriert, es wäre sozusagen eine private Übersetzung des Landesbischofs. Dagegen, so betont Gessler später in seinem Kommentar, stünde in der griechischen Bibel etwas anderes, wie ja auch in der Lutherbibel erkenntlich sei: „Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen.“ Nun steht von Friedensstiftern auch nichts im griechischen Text, dort heißt es Μακάριοι οἱ εἰρηνοποιοί, was man dann wohl eher mit Friedensmacher oder für Freunde des heutigen Amerika auch schön westernmäßig mit Peacemaker übertragen könnte.

Und Frieden machen kann man mit vielen Mitteln – mit dem Colt, aber auch mit dem Pazifismus. Denn Kramer kann für seine Übersetzung, die keinesfalls eine freie, dreiste oder unangemessene Übersetzung ist – auf eine ältere christliche Tradition verweisen, älter zumindest als die Lutherbibel, nämlich die Übersetzung der Vulgata: „beati pacifici quoniam filii Dei vocabuntur“ heißt es dort. Und da haben wir die Pazifisten wieder mit im Boot. Von einer freihändigen oder gar dreisten Übersetzung (Chuzpe = jiddisch für „Frechheit, Anmaßung, Dreistigkeit, Unverschämtheit“) kann also keine Rede sein, es sei denn, man wollte den katholischen Glaubensgeschwistern auch noch schnell eins auswischen.

In der christlichen Übersetzungsgeschichte sind die Pacifici gut belegt. Noch im Wörterbuch der Gebrüder Grimm schwingt das nach. Dort wird als sprachlicher Bezug für friedfertig auf das lateinische pacificus verwiesen.

Den weiteren Tenor des Kommentars von Gessler würde ich als eine nur leicht getarnte Form der versuchten Gesinnungskontrolle bezeichnen, etwa wenn Kramer vorgeworfen wird, bei seiner Meinung zu bleiben. Dass Kramer damit in der Evangelischen Kirche allein stehe, wie der Text insinuiert, ist lächerlich. Er mag unter den Synodalen damit nicht auf Gegenliebe stoßen, die oft genug in der Synode auch Parteipositionen vertreten. Aber in der gesamten evange­li­schen Bevölkerung dürfte es wohl anders aussehen. Damit bekommt Kramer noch nicht Recht, aber er vertritt immerhin einen Teil des Protestantismus und vor allem auch jene friedens­orien­tierten Kirchen, die Kriegsbeteiligung grundsätzlich ausschließen. Und der Ökumenere­dak­teur Gessler sollte doch auch diese Kirchen aus dem protestantischen Ordo auf dem Schirm haben.


10.11.2022 - Déjà-vu

In der FAZ schreibt Konstantin Akinscha über die Absage der 9. Moskauer Kunstbiennale unter dem Titel „Szenografie der Gefühle“. Nun ist eine derartige staatliche Zensur-Maßnahme in Zeiten eines russischen Angriffs-Krieges vielleicht gar nicht so überraschend, interessanter sind da schon die Begründungen, die Akinscha erwähnt:

„Die Absage der Moskauer Biennale war kein Einzelfall. Die Behörden verboten Dutzende von Ausstellungen zeitgenössischer Kunst nach dem Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine. Außerdem führten sie ein neues Zensursystem ein. Früher beruhte die Ausstellungserlaubnis auf der Beurteilung der für diese ausgewählten Werke. Heute müssen die Organisatoren die schwarzen Listen mit unerwünschten Künstlern konsultieren, deren Werke unabhängig von ihrem Inhalt der Öffentlichkeit nicht vorgeführt werden dürfen.“

Und irgendwie hatte ich da ein Déjà-vu. Das hatte ich in diesem Jahr doch schon einmal gehört und gelesen? Kann es also wirklich sein, dass ein totalitäres System wie Russland einem demokratischen System wie der Bundesrepublik Deutschland strukturell doch ähnlicher ist, als man vermuten möchte - zumindest im Umgang mit Kunst-Ausstellungen? Denn das war es doch, was in den vergangenen zehn Monaten in Deutschland gefordert wurde: dass die Veranstalter und die sie fördernden staatlichen Institutionen nicht nur die für die Ausstellung ausgewählten Werke vorab kontrollieren sollten, sondern – und das ist hier viel gewichtiger – dass die Organisationen nach vorab aufgestellten Listen unerwünschter Künstler:innen und Kurator:innen entscheiden sollten, wer an Kulturveranstaltungen teilnehmen darf und wer nicht. Die Liste in Deutschland trug die Überschrift: Welche Haltung hat X zur Organisation BDS? Es scheint, als liege nur wenig zwischen dem russischen Zugriff auf die Kunst und der deutschen Infragestellung der Kunstfreiheit. Auch bei uns wird gegen alle grundgesetzlichen Bestimmungen gefordert, der Kunst Fesseln anzulegen. Nur das mit dem Verbieten klappt noch nicht so recht.


27.11.2022 – Erster Advent

 

Das Bild von Robert Campin stammt aus dem Jahr 1420, es ist vielleicht die Mitteltafel eines Triptychons und 61x63,7 cm groß. Die dargestellte Szene der Verkündigung spielt in einem bürgerlichen Wohnhaus und ist beziehungsreich ausgestaltet. Maria kniet demütig vor einer Bank auf dem Fliesenboden. Der Rand ihres Mantels ist mit einem Zitat aus dem Marienlied Salve Regina dekoriert. Die durchblätterten Bücher zeigen sie als Besitzerin göttlicher Weisheit. Die Bank ist mit Löwen verziert, so wie einst der Thron Salomos, der als Inbegriff der Weisheit galt. Die Glasmalereien der Fenster zeigen Propheten. Über dem Kamin hängt ein Christopherus-Bild.


28.11.2022 – Longtermism und Shorttermism

Ich lese gerade, aufmerksam geworden durch einen Artikel über die Extremisten der Aufklärung in der ZEIT, einen Artikel des Philosophen Émile P. Torres, den dieser vor einem Jahr im Aeon Magazine publiziert hat [Torres, Émile P. (2021): „Against longtermism“ In: Aeon Magazine, 19.10.2021]. Ich empfehle den Artikel zur Lektüre, denn er plausibilisiert viel von dem, was aktuell rund um Twitter, FTX und Letzter Generation vor sich geht. Die Gedankenwelt, die Torres da zusammengetragen hat und kritisch begutachtet, ist schon erschreckend. Grob gesprochen könnte man zwischen shorttermism und longtermism und dem, was dazwischen denkbar ist, unterscheiden. „shorttermism“ wäre dabei ein Denken, dass sich wenig um die Zukunft und das absehbare Leiden der Menschen kümmert, sondern dem Hier und Jetzt die Priorität einräumt. Demnach wäre eine Einschränkung heutiger Lebenswelten zugunsten künftiger Generationen nicht angebracht. „longtermism“ dagegen orientiert sich an extrem ausgreifenden Zukunftsperspektiven, die um die Perfektibilität des Menschen kreisen. Im Blick auf eine derartige ferne Zukunft eines im Weltraum reisenden perfekten Menschen wäre die Besinnung auf heutiges Leid oder das Leid der nächsten Generationen bedingt etwa durch den Klimawandel durchaus zu vernachlässigen. Denn letztlich kommt es nur darauf an, dass irgendwann ein optimierter Mensch alle Beschränkungen überwindet. Dafür kann man auch den Tod von 75% der Weltbevölkerung in Kauf nehmen. Langfristigkeit meint dann eben nicht die nächsten 2000 Jahre, sondern Millionen oder Milliarden Jahre. „If one takes a cosmic view of the situation, even a climate catastrophe that cuts the human population by 75 per cent for the next two millennia will, in the grand scheme of things, be nothing more than a small blip – the equivalent of a 90-year-old man having stubbed his toe when he was two.“ – „It might be ‘a giant massacre for man’, he adds, but so long as humanity bounces back to fulfil its potential, it will ultimately register as little more than ‘a small misstep for mankind’.” Es ist letztlich die Logik von Kriegsherren, die da durchschimmert, denen es egal ist, wie viele Menschen sie opfern, Hauptsache am Ende steht der Sieg. Und zu diesen Kriegsherren gehören Elon Musk oder auch ein Glücksritter wie Sam Bankman-Fried. Sie fördern die Philosophie des Longtermism mit Millionen US-Dollar. Einig sind sich Short-Termism- und Long-Termism-Anhänger darin, dass sie sich um die Klimakrise nicht zu sorgen brauchen, zumindest so lange nicht, wie ihre eigenen Konzepte nicht betroffen sind.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/140/theomagblog140.htm
© Andreas Mertin, 2022