Was heißt denn hier: „theologisieren“?

Zehn Notizen zu einer nahezu unbekannten Tätigkeit

Andreas Mertin

Notiz 1 – Die Landschaften der Theologie

Als Wolfgang Vögele nach unserem Magazinheft über theologische Biographien vor zwei Jahren in der Redaktionssitzung vorschlug, in der Folge auch ein Heft zu machen, in dem wir darlegen, was uns theologisch bewegt, welche Theologien uns wichtig sind, habe ich sofort zugestimmt, wohl wissend, wie schwer es (mir) fällt, darüber Auskunft zu geben, was einen als Theologen oder zumindest als gelegentlich mit Theologie Befassten bewegt und perspektiviert.

Es meint eben nicht das, was vor einigen Jahren ein ZEIT-Artikel über das heutige Regietheater schrieb: Statt Noten zu lesen, philosophierte man über Gott, Welt, Geschichte, Politik.[1] Das ist ein depotenzierter Begriff des Nachdenkens über Religion und Theologie, in dem das Wort „philosophieren“ nicht einmal die Qualität von „nachdenken“ erreicht. Sich zu einer Theologie zu bekennen, sich für eine bestimmte theologische Richtung zu entscheiden, hat – wie Karl Barth 1934 schrieb – auch etwas mit Landschaftskunde zu tun, ja mit der Erkundung vieler Landschaften, bei der man sich am Ende für eine bestimmte Region und Kultur als persönliche Theologie oder zumindest als theologische Richtung entscheidet. Karl Barth hat in seiner Schrift „Offenbarung, Kirche. Theologie“ zunächst von der „Schönheit“ dieser Wissenschaft geschrieben, von dem, was sie vor allen anderen Wissenschaften auszeichnet:

Unter allen Wissenschaften ist die Theologie die schönste, die den Kopf und das Herz am reichsten bewegende, am nächsten kommend der menschlichen Wirklichkeit und den klarsten Ausblick gebend auf die Wahrheit, nach der alle Wissenschaft fragt, am nächsten kommend dem, was der ehrwürdige und tiefsinnige Name einer „Fakultät“ besagen will, eine Landschaft mit fernsten und doch immer noch hellen Perspektiven wie die von Umbrien oder Toskana und ein Kunstwerk, so wohl überlegt und so bizarr wie der Dom von Köln oder Mailand. Arme Theologen und arme Zeiten in der Theologie, die das etwa noch nicht gemerkt haben sollten![2]

Damit ist aber auch schon das Problem benannt. Wie kann man Landschaften und Architekturen miteinander vergleichen? Wie den Kölner Dom mit einer alten Zisterzienserkirche in Frankreich oder gar einer Stabkirche in Skandinavien? Sie alle haben ihren ganz eigenen Reiz und ihre Schönheit, selbst wenn sie schon zu Ruinen geworden sind. Aber irgendwann fühlt man sich in einer dieser Landschaften, in einer dieser oft komplexen oder überraschend einfachen Architekturen zu Hause. Diese Beheimatung kann breit und weit sein (Religion, Christentum) oder enger (reformierte Theologie). Und wie die Orte, an denen man immer wieder Urlaub macht, verändern sich auch die Theologien im Laufe eines Lebens, man kommt zu neuen Einsichten und erweitert seinen Horizont. Und manchmal wird ein anderer Ort zum bevorzugten Ziel.

Das andere, was es so schwierig macht, über dieses Thema zu schreiben, ist die Tatsache, dass Theologie nicht immer eine blühende Landschaft ist, sondern allzu oft eine karge Steppe, ein unzugänglicher Sumpf, in dem man versinken kann, oder ein wüstes Land. So schreibt Barth:

Aber unter allen Wissenschaften ist die Theologie auch die schwierigste und gefährlichste, diejenige, bei der man am ehesten in der Verzweiflung oder, was fast noch schlimmer ist: im Übermut endigen, diejenige, die, zerflatternd oder verkalkend, am schlimmsten von allen zu ihrer eigenen Karikatur werden kann. Gibt es eine Wissenschaft, die so ungeheuerlich und die so langweilig werden könnte wie die Theologie? Das wäre kein Theologe, der vor ihren Abgründen noch nie erschrocken wäre oder der vor ihnen zu erschrecken aufgehört hätte. [3]

Und das ist ja auch eine ganz reale Erfahrung, die jeder machen kann, der sich ab und an mit Theologie und Kirchen, nicht zuletzt mit den Verlautbarungen der Kirchenvertreter:innen und Theolog:innen auseinandersetzt. Aber so sehr ich persönlich die Übermütigen gelegentlich schätze, umso schlimmer finde ich die Verkalkenden und zu Karikaturen Erstarrten (die eigene Position eingeschlossen). Von Karl Barths Charakterisierungen der Gefahren der Theologie hätte ich vor allem die Langeweile betont, die von jenen ausgeht, die die Kirche nur verwalten oder ihren Untergang hinauszögern wollen. Auch das mag ästhetisch interessant sein, theologisch ist es das nicht. Was mich an den Verlautbarungen der Kirche und ihren Vertreter:innen oft langweilt, ist der stereotype Sprachgebrauch, das Betonen des Selbstverständlichen, das dann auch noch pathetisch wiederholt wird, das Ghettohafte, das gar nicht mehr erfasst, in welchem Verhältnis es zum Rest der Welt steht. Langweilig finde ich auch die Träumer:innen, die von einer digitalen Zukunft der Kirche fabulieren, weil es so offenkundig den Realitäten widerspricht. Aufregendes, Unerwartetes, Avantgardistisches gibt es in der Kirche selten. Das muss nicht an einzelnen Menschen liegen, die Wirklichkeit hat sich einfach geändert.

Drittens wird das Schreiben über Theologie heute dadurch erschwert, dass man manchmal das Gefühl hat, sich plötzlich in einem neuen theologischen Krieg zu befinden. So tun manche so, als sei die heutige theologische Landschaft wie Anfang des 20. Jahrhunderts oder auch 1934 als Kriegsschaupatz zu interpretieren, auf dem man sich auf Gedeih und Verderb (Anathema) bekämpfen müsse. Da wird dem theologischen Gegenüber schon mal das Christentum abgesprochen, da werden Vergleiche gezogen, die für eine kritische Auseinandersetzung nicht hilfreich sind.[4] Selbst wenn es – wie unterstellt wird – um die letzte Bedrohung der Menschheit, ja der Erde geht, wäre es angebracht, zumindest in der theologischen Rhetorik abzurüsten. Auch wenn es in 1. Tim 6, 12 heißt „Kämpfe den guten Kampf des Glaubens!“, heißt das nicht, dass man ad personam polemisiert statt Argumente auszutauschen. Aber schon ein Blick in den 1. Timotheusbrief zeigt uns, dass auch damals nicht nur mit leichten Waffen gekämpft wurde:

Es gibt aber einige, die etwas anderes lehren; sie halten sich nicht an die vernünftigen Worte Jesu, des Christos, unter dessen Weisung wir stehen, und an die rechte Lehre, die zu einem Gott ergebenen Leben passt. Diese sind aufgeblasen, verstehen überhaupt nichts, sondern kranken an spitzfindigen Kontroversen und Kampfdiskussionen, aus denen doch nur Neid, Zwietracht, Verleumdungen und schlimme Verdächtigungen entstehen.

Die Theologie wird nicht sinnvoller, wenn man aggressiv aufeinander losgeht und sich Lagerkämpfe liefert – und das Klimaproblem löst man so auch nicht. Am Ende, das zeigt die Geschichte der meisten Kriege, verlieren alle. Theologische Landschaften behalten ihren Reiz, wenn man sie nur vergleicht, nicht, wenn man sie zerstören will. Als einen solchen Akt der mutwilligen Zerstörung unterschiedlicher theologischer Landschaften verstehe ich die gegenwärtige Auseinandersetzung um die theologische Begründung eines klimagerechten Verhaltens der Menschheit.

Notiz 2 – Theologisieren oder Theologie betreiben?

Das Nächste, was mir bei der Vorbereitung und beim Schreiben dieses Artikels aufgefallen ist, ist, dass wir im Deutschen (oder vielleicht auch nur ich beim Formulieren) ein Pro­blem mit dem Wort theologisieren haben. Es geht uns nicht so leicht über die Lippen, während wir, so mein Eindruck, das Wort philosophieren eher selbstverständlich verwenden. Philosoph:innen und anderen Denker:innen gestehen wir zu, dass sie philosophieren (also ihrem Beruf nachgehen), Analoges geschieht bei Theolog:innen selten: Sie theologisieren nicht, sie deuten etwas theologisch, sie betreiben Theologie, sie legen die Bibel aus – oder eben nicht. Das heißt: Theologisieren ist nur scheinbar ein geläufiges Wort unserer Sprache. Ob meine spontane Vermutung zutrifft, habe ich dann mit dem NGram-Viewer von Google überprüft, der die Verwendung eines Wortes im erfassten Buchbestand seit 1800 beschreibt:

Es zeigt sich, dass theologisieren seit 1945 zwar durchgehend in Gebrauch ist, aber von bestimmten Konjunkturen abhängt.[5] Nun sagt der Blick auf ein einzelnes Wort noch nicht viel aus, man muss es mit anderen Wörtern vergleichen, um seine Relevanz zu erkennen.

Und hier zeigt sich ein ganz anderes Bild. Vergleicht man nämlich das Wort theologisieren mit dem Wort philosophieren im Hinblick auf deren Häufigkeit in der deutschen Sprache, so stellt man fest, dass man in den letzten 200 Jahren nur selten von theologisieren, aber sehr viel häufiger von philosophieren gesprochen hat[6]:

Ich finde diesen Unterschied bemerkenswert. Auch beim Philosophieren gibt es Konjunkturen, nach 1945 gab es offenbar ein größeres Bedürfnis nach solchen Reflexionen, aber durchgängig seit 1900 hat das Philosophieren in der deutschen Sprache eine beobachtbare Bedeutung. Man könnte das natürlich so interpretieren, dass philosophieren im Deutschen so etwas wie schwätzen bedeutet und deshalb trivialer und selbstverständlicher gebraucht wird, während man beim Theologisieren gleich an die ganz großen Themen und die letzten Dinge denkt und sich nicht kompetent fühlt, daran teilzunehmen und selbst zu theologisieren. Man philosophiert lieber über Gott und die Welt als theologisch darüber nachzudenken. Kann sein, muss nicht, glaube ich auch nicht. Vielleicht ist es auch das Ergebnis einer bald zweitausendjährigen Lehre der Amtskirche, die Theologie nur wenigen Berufenen und nicht den Laien erlaubt hat. Das scheint mir wahrscheinlicher. Man wurde Opfer der eigenen Ideologie.

Der andere Einwand könnte lauten, dass wir, wenn wir die theologische Tätigkeit analog zum Philosophieren beschreiben, eher von Theologie treiben sprechen, aber das ist nicht der Fall. Und auch der Vergleich der Berufsbezeichnungen Philosoph und Theologe zeigt, dass spätestens seit der Aufklärung die Theologen eine untergeordnete Rolle spielen. Anders verhält es sich, wenn wir die gemeindebezogenen Berufsbezeichnungen Pfarrer, Priester oder Pastor einbeziehen. Sie spielen im Alltag der Menschen offensichtlich eine größere Rolle.[7]

Ich vermute, dass sich darin auch die Tatsache spiegelt, dass Pastoren, Pfarrer bzw. Priester nicht als Theologen, Theologisierende oder Theologie treibende wahrgenommen werden.[8] Das scheint etwas Nebensächliches zu sein. Aber was heißt dann noch: Theologisieren?

Ich möchte noch kurz einen weiteren Vergleich einführen, der ähnlich diffizil ist. Bei Politiker:innen sprechen wir auch ungern davon, dass sie „politisieren“, obwohl das doch eigentlich ihre Aufgabe wäre. Und wenn wir Politiker:innen einmal zuschreiben, dass sie „politisieren“, dann werfen wir ihnen in der Regel vor, dass sie einen Sachverhalt ungebührlich in eine parteipolitische Strategie oder Argumentation einbeziehen. „Das politisiert die Corona-Pandemie“ wäre so ein Vorwurf. In diesem Sinn hat das Wort „politisieren“ tatsächlich inzwischen eine andere Konnotation bekommen. Es meint nicht zuletzt, dass etwas eigentlich Unpolitisches nun unter politischen Gesichtspunkten betrachtet wird.

„Politisieren“ sagen wir seltener als „philosophieren“ weil sein Bedeutungsgehalt eingeschränkt ist. Das ist auch ein Erbe der 68er-Bewegung, die das Private und politisch Neutrale politisierte und zum Gegenstand des öffentlichen Diskurses machte: „Schlagt die Germanistik tot, färbt die blaue Blume rot!“ Die positive Konnotation ist noch dort erhalten, wo wir davon sprechen, dass Menschen sich durch bestimmte Ereignisse politisierten – also politisch bewusster wurden bzw. für politisches Engagement motiviert wurden.

Vielleicht kommen wir so auch der Problematik des „Theologisierens“ auf die Spur. Vielleicht ist die gängige Konnotation ja die, dass etwas, was nicht Gegenstand theologischer Erörterungen sein sollte, durch die Kirche und ihre Vertreter:innen dazu gemacht wird. Sie theologisieren die Umweltfrage, die Sexualität, das Alltagsverhalten usw. Theologisieren wäre dann wie politisieren ein Wort des Protestes dagegen, dass alles zum Gegenstand des öffentlichen Diskurses wird.

Notiz 3 – Wo „theologisieren“ heute en vogue ist

Nun gibt es Bereiche in der Theologie und vor allem in der Religionspädagogik, in denen das Wort „theologisieren“ durchaus en vogue ist: in der Kinder- oder Jugendtheologie.[9] Ausgehend von amerikanischen Bewegungen der 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts, die über das „Philosophieren mit Kindern“ nachdachten (hier ist vor allem vor allem Mathew Lipman zu nennen, der Begründer der Philosophie für Kinder, „Philosophy in the classroom“[10]), entwickelte sich Ähnliches auch in Deutschland (Ekkehard Martens, „Philosophieren mit Kindern“[11]), woran dann die Kinder- und Jugendtheologie anknüpfen konnte und diverse Publikationen unter dem Titel „Theologisieren mit Kindern / mit Jugendlichen“ auf den Markt brachte.[12] Corinna Hößle fasst zusammen:

„Der Ansatz „Theologisieren mit Kindern“ wurde im Horizont der Bewegung des „Philosophierens mit Kindern“ entwickelt. Kinder selber werden dabei als Subjekte und Akteure des Nachdenkens angesehen. Sie erhalten vom Pädagogen lediglich Anregungen und Impulse. Ziel dieses von Matthew Lipman in 70er Jahren erstmals beschriebenen Ansatzes ist es, das logische Denken, die Verstandestätigkeit der Kinder zu stärken, sowohl was Gegenstände der Erkenntnis angeht als auch Gegenstände des moralischen Handelns.“[13]

Das heißt aber auch im Blick auf meine Frage, dass das Wort „theologisieren“ hier nicht um der Sache der Theologie selbst willen verwendet wurde, sondern in Analogie zu einer Bewegung, die es im säkularen Bereich der Philosophiedidaktik gibt.[14] Tatsächlich ist das Wort „theologisieren“ letztlich auf einen engeren religionspädagogischen Bereich beschränkt geblieben, in der öffentlichen Diskussion kommt es so gut wie gar nicht vor. Das Wort ist, wie die Wortstatistik zeigt, ein religionspädagogisches Fachwort geblieben.[15]

Notiz 4 – Der Rabbi aus Padua

Ich unternehme einen kleinen Abstecher bei der Umkreisung der Tätigkeit des Theologisierens. Bei der Vorbereitung bin ich (weil ich mich wieder einmal mit Kultur und Theologie in Padua beschäftigt habe) auf einen Aufsatz über einen Gedankenaustausch zweier Rabbiner aus dem 19. Jahrhundert über die Bedeutung von Theologie für den jüdischen Glauben und die jüdische Gemeinde gestoßen.[16] Die beiden Rabbiner repräsentieren dabei zwei sehr unterschiedliche „theologische Landschaften“ ihrer Zeit. Sie sind sich dessen bewusst und reflektieren und korrespondieren darüber. Der eine Rabbiner ist Samuel David Luzzatto aus Padua[17], der damals gerade mit seinen Kollegen das Collegio Rabbinico Italiano aufbaut, der andere Rabbiner ist Abraham Geiger aus Breslau[18], der das Jüdisch-Theologische Seminar vorbereitet. Und beiden sehen sich genötigt, für ihre Zeit und für ihren spezifischen Kontext Theologien zu entwerfen. Wie Francesca Paolin so treffend schreibt, entwirft ersterer eine israelitische Theologie in Padua[19], der andere eine jüdische Theologie in Breslau. Der eine entwirft eine orthodoxe, aber an Sprache und Poesie orientierte Theologie (nicht nur für Rabbiner), der andere eine bis in die Gegenwart folgenreiche liberale Theologie. Der Italiener Luzzatto schreibt zu seinen Zielen:

Ich möchte, dass das Werk gut begründet und angeordnet gerät, aber nicht schulmäßig, dass es philosophisch wird, ohne sich philosophisch zu geben, religiös, heilig sogar und gleichwohl ohne einen Anflug von Düsternis, detailliert, doch nicht kleinlich, und schließlich, dass es wirklich national und jüdisch wird, ohne unduldsam zu wirken oder einem nicht-jüdischen Leser nutzlos oder verachtenswert zu erscheinen.[20]

Wovon sich Samuel David Luzzatto abgrenzt, ist eine Theologie, die sich dem Geist der Zeit weit öffnet, die zuerst schaut, was in der Welt oder in der Wissenschaft geschieht, bevor sie sich der Schrift und der Tradition zuwendet. Darin ist Luzzatto konservativ, aber durch die Pflege des Hebräischen und der Sprache allgemein auch schöpferisch und prägend. Er ist zugleich Dichter, Übersetzer und Sammler historischer Schriften. Seinen Humanismus sieht er in der Hebräischen Bibel und im Judentum begründet und nicht von außen an diese herangetragen.[21] Wäre er heute ein deutscher Wissenschaftler, könnte er (wie Karl Barth) den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Sprache erhalten. Denn bei Luzzatto, …

… der sein theologisches Werk nicht nur an ein vorwiegend jüdisches Fachpublikum richtete, zeigte sich – vor allem, was die Moraltheologie anbelangte – das Bestreben, einem breiten Lesepublikum eine konkrete, aussagekräftige Vorstellung von der jüdischen Moral zu vermitteln und parallel die Fundierung der jüdischen Religion durch eine ihr zugrundeliegende, nachvollziehbare Konzeption aufzuzeigen. Dies bedeute, so Luzzatto, die jüdische Religion in ihrem ursprünglichen Charakter, ihren Quellen, d. h. in den Heiligen Schriften, vor allem in der Bibel und den talmudischen Schriften, zu ergründen. Aus dem Wortlaut der Heiligen Schriften könne das Judentum sein in hohem Maße soziales, barmherziges und höchst zivilisiertes Wesen beweisen und deshalb in der zeitgenössischen Gesellschaft als Vorbild gelten.

Ich fühle mich davon berührt, weil die Orientierung an einem breiten Lesepublikum ebenso wie die Orientierung an den biblischen Quellen, mit denen man sich auseinandersetzen muss und kann, meinen Vorstellungen von theologischer Arbeit sehr nahe kommen.

Luzzattos Gesprächspartner und in gewissem Sinne Antipode ist Abraham Geiger, nach dem heute das liberale Rabbinerseminar in Potsdam benannt ist. Ihm schwebt eine andere Form jüdischer Theologie vor, in der man durchaus eine Verwandtschaft mit Friedrich Daniel Schleiermacher feststellen kann.[22] Ich folge noch einmal der Darstellung von Francesca Paolin:

Bei Abraham Geiger war das charakteristische Merkmal der jüdischen Theologie nicht innerhalb der dem Judentum immanenten Elemente und Bedingungen aufzufinden; vielmehr bestimme sich dieses Merkmal aus dem menschlichen Bewusstsein („Die Theologie, welche die Einwirkung auf Geist und Leben, auf den innersten Kern der Menschen bezweckt“) sowie aus der Wissenschaftlichkeit. Geigers Theologiebegriff knüpfte an zwei Seelen an: eine höhere, wissenschaftlich-akademische einerseits und eine praktische andererseits, die in einer produktiven Wechselwirkung und im steten Kontakt zueinander standen.[23]

Das ist – bei aller Verwandtschaft der Ziele – ein anderer Ansatz. Geiger ging es darum, „das Judentum im Zentrum der westlichen Zivilisation anzusiedeln“. Rabbinisches Judentum bedeutete für ihn, nicht Sklave des Buchstabens der Bibel zu sein. Diese sei nicht göttlichen Ursprungs, sondern ein Dokument der Zeit und müsse daher immer auch aus der jeweiligen Zeit heraus betrachtet werden. Diese Offenheit zeichnet Geiger aus und macht ihn auch für heutige Diskussionen hochinteressant. Dabei ergeben sich interessante Überschneidungen mit dem liberalen Protestantismus, so dass „liberale Protestanten, die – statt des Jesus-Dogmas – den jesuanischen Glauben suchten, diesen einfacher im Reformjudentum finden konnten als im Christentum.“[24] Der Preis dafür ist allerdings die Relativierung der biblischen Schriften und Lehren.

Notiz 5 – Die Formulierungshilfe der KI

Als ich noch nicht so recht wusste, wie ich diesen Artikel strukturieren sollte, habe ich die Künstliche Intelligenz ChatGPT, über die ich in dieser Ausgabe schreibe und mit der ich mich unterhalten habe, gebeten, mir zu sagen, was für eine KI ‚Theologie treiben‘ bedeutet. Ich dachte, dass ich auf dieser Grundlage meine eigenen Gedanken strukturieren könnte. Der Bot ChatGPT antwortete auf die gestellte Frage (die Struktur der Antwort wurde von mir erstellt):

  • Theologie ist das Studium des religiösen Glaubens, der religiösen Praxis und der religiösen Erfahrung.
  • Sie beinhaltet oft die Untersuchung religiöser Texte, Glaubensvorstellungen und Traditionen sowie die Erforschung der Natur Gottes und religiöser Erfahrungen.
  • Theologie kann aus vielen verschiedenen Blickwinkeln studiert werden, unter anderem aus philosophischer, historischer und kultureller Sicht.
  • Sie ist ein interdisziplinäres Fach, das sich auf Erkenntnisse aus vielen verschiedenen Disziplinen stützt, z. B. Philosophie, Geschichte, Soziologie, Psychologie und Literatur.
  • Theologie kann ein breites und vielfältiges Feld sein, und verschiedene Menschen können unterschiedliche Ansichten über ihre Bedeutung und ihren Stellenwert haben.

Das ist tatsächlich sehr hilfreich, auch wenn ich mir persönlich eine andere Akzentuierung gewünscht hätte. Überraschend finde ich zunächst, dass die Erschließung der und der Bezug auf die heiligen Schriften erst an zweiter Stelle genannt werden. Die Tatsache, dass die großen Weltreligionen nach allgemeinem Verständnis Buchreligionen sind, spielt offenbar eine untergeordnete Rolle. Man könnte meinen, dass die KI eher der liberalen Theologie zuneigt.

Für meine eigene theologische Arbeit, mein eigenes Theologisieren, sehe ich das anders. Ich würde – ausgehend von der ersten These der Barmer Theologischen Erklärung – den Bezug auf die Heilige Schrift als den ersten und grundlegenden Akt theologische Arbeit ansehen:

Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.”[25]

Ich glaube, dass es dieser biblische Bezug ist, der mich manchmal von der gegenwärtigen Theologie oder sagen wir präziser: von der gegenwärtigen Kirche entfremdet (eine Ausnahme bildet die gegenwärtige EKD-Ratspräsidentin und Präses der EKvW, bei der der Schriftbezug eine wichtige Rolle spielt – was ihr dann auch vorgeworfen wird, weil sie daraus keine unmittelbar politischen Forderungen ableitet). Aber in den zentralen Fragen kommt die Bibel in den Diskursen wesentlicher Teile meiner Kirche nicht zwingend vor. Dafür werden sekundäre, man könnte mit George Steiner[26] auch sagen, parasitäre Fragen wie die nach der Medialität der Verkündigung[27] aufgebläht und verdrängen die Anfragen, die die biblischen Schriften für uns bereithalten.

Theologie, so erklärt mir der ChatBot, kann aus vielen verschiedenen Blickwinkeln studiert werden, unter anderem aus philosophischer, historischer und kultureller Sicht. Das ist unmittelbar einsichtig. Aber er meint wohl, dass man die Theologie selbst aus diesen Blickwinkeln betrachten kann. Dass Theologie nicht ohne die interdisziplinären Bezugspunkte Philosophie, Geschichte, Soziologie, Psychologie und Literatur (ich hätte dem noch Musik und Kunst hinzugefügt) betrieben werden kann, ist logisch. Damit ist aber noch nicht viel darüber gesagt, wie dies geschieht und geschehen soll.

Dass, wie die KI schreibt, „Theologie das Studium des religiösen Glaubens, der religiösen Praxis und der religiösen Erfahrung“ ist, trifft wohl für die meisten theologischen Landschaften und Architekturen der Gegenwart zu. Aber es würde nicht meine Art des Theologisierens charakterisieren. Ich nehme zur Kenntnis, was andere (alles) ihren religiösen Glauben nennen, wo sie ihn real und virtuell zu feiern meinen, was ihre (durchaus divergierende) religiöse Praxis ist, aber das ist nicht notwendig Gegenstand meiner theologischen Reflexion – allenfalls am Rande.

Was dagegen ganz konkret jene spezifische „religiöse Erfahrung“ sein soll, die die KI als Gegenstand der Theologie benennt, hat sich mir zeitlebens nicht erschlossen. Während ich angesichts der Kunst – geschult durch eine zweihundertjährige Geschichte der Ästhetik – genau sagen kann, was die sich ja prozessual vollziehende ästhetische Erfahrung[28] ist, wo sie ansetzt, was sie ausschließt, wo sie unterbrochen wird, wann sie endet[29], gelingt mir das bei der religiösen Erfahrung nicht. Ich kann natürlich beobachten, wann und in welchen Kontexten andere sagen, sie hätten religiöse Erfahrungen gemacht, und ich kann und will das auch nicht bestreiten. Mein Problem ist, dass ich das nicht reproduzieren kann. Ich spreche wohl auch von religiöser Erfahrung, aber dann sind damit Erfahrungen gemeint, die sich aus der Lektüre der Bibel ergeben. Aber genau das ist nicht gemeint, wenn man von einer spezifischen religiösen Erfahrung spricht – zumal, wenn man sie der ästhetischen gegenüberstellt oder parallelisiert.

Jener Akt, den Rudolf Otto in „Das Heilige“[30] beschreibt oder Mircea Eliade in „Das Heilige und das Profane“[31] steht mir als Erfahrungsform nicht zur Verfügung. Und darin sehe ich mich auch von Eliade selbst bestätigt, wenn er schreibt, das Charakteristikum des religiösen Menschen sei der "ontologische Durst", das Bedürfnis, „sich im Kern des Realen, im Zentrum der Welt zu situieren", sich dort aufzuhalten, „wo die Möglichkeit besteht, mit den Göttern zu kommunizieren; also dort wo man den Göttern am nächsten ist". Wenn das für den religiösen Menschen zutrifft, dann ist der heutige Mensch meilenweit davon entfernt. Denn das, was Eliade für den "klassischen" religiösen Menschen beschreibt, gilt für die Mehrheit der Menschen in Westeuropa nicht mehr, diese Erfahrungsform des Religiösen steht weitgehend nicht mehr zur Verfügung.

Deshalb glaube ich, dass sich Theologisieren nicht darauf gründen kann, was die Menschen „noch“ glauben, „noch“ praktizieren, „noch“ zu erfahren glauben, weil sonst die zu kultivierende Landschaft, das zu bewohnende Gebäude, immer begrenzter und kleiner wird. Man muss anders anfangen.

Notiz 6 - Noch einmal: Theologische Biographie

Schon vor dem Theologiestudium begegnete man in der Schule, bei der Jugendarbeit oder auf Kirchentagen bestimmten theologischen Richtungen. Ich erinnere mich an eine Begegnung mit Heinz Zahrnt, dessen Bücher wir in der Schule gelesen hatten und der in einer öffentlichen Gemeindeveranstaltung versuchte, uns jungen Leuten quasi hermeneutisch den christlichen Glauben plausibel zu machen. Es gelang ihm nicht, es war aus meiner Sicht erbärmlich. Erst sprach er von seinen Kriegserfahrungen im Nebel in den Schützengräben (eine schlechte hermeneutische Strategie gegenüber jemandem, der 1958 geboren ist und dem 1977 der Satz „Not lehrt beten“ kaum einleuchten konnte). Als ich das zurückwies (weil ich nicht in den Krieg ziehen wollte, um Gott zu begegnen), sprach er vom Urvertrauen zur Mutter, das als religiöse Erfahrung gedeutet werden müsse. Ich habe damals heftig reagiert, weil das rhetorische Taschenspielertricks sind, die Religion gerade nicht eindrücklich machen (ganz abgesehen davon, dass Jesus ein ziemlich verkorkstes Verhältnis zu seiner Mutter hatte, vgl. Mk 3, 31ff.).

Hätte Heinz Zahrnt wenigstens wie Charles Taylor etwa 15 Jahre später vom unentrinnbaren Horizont gesprochen, den man bei der Deutung der Welt immer schon in Anspruch nehmen muss, dann wäre es gut gewesen, aber so? Vielleicht habe ich damals schon mit allen Theologien abgeschlossen, die mit der ‚Innerlichkeit‘ und der ‚Tiefe‘ argumentieren, damit, dass etwas in der Tiefe wabert, was dann notwendigerweise denen, die nicht glauben, verschlossen sein muss. Taylor schreibt dagegen in seinem Buch „Das Unbehagen der Moderne“:

Letztlich geht es darum, „‘wer’ wir sind und ‘woher wir kommen’ ... Sobald wir begreifen, was es heißt, sich selbst zu definieren und zu bestimmen, worin die eigene Originalität besteht, erkennen wir, dass wir ein Gefühl für das, was Bedeutung hat, im Hintergrund voraussetzen müssen.“ - „Wollte ich ... die Geschichte, die Natur, die Gesellschaft, die Forderungen der Solidarität und überhaupt alles ausklammern, was ich nicht in meinem eigenen Inneren vorfinde, so würde ich alles ausschließen, worauf es möglicherweise ankommen könnte. Nur wenn ich in einer Welt lebe, in der die Geschichte, die Forderungen der Natur, die Bedürfnisse meiner Mitmenschen, die Pflichten des Staatsbürgers, der Ruf Gottes oder sonst etwas von ähnlichem Rang eine ausschlaggebende Rolle spielt, kann ich die eigene Identität in einer Weise definieren, die nicht trivial ist.“[32]

Theologisieren hieße dann nicht zuletzt, den unentrinnbaren Horizont theologischer Arbeit zu bestimmen und in Relation zur Umwelt zu setzen.

Notiz 7 – Ankerpunkte

Mir war – auch aus biographischer Erfahrung – immer klar, dass Theologisieren ohne direkten Bezug auf die biblischen Schriften keinen Sinn macht. Und so war mein erster Ankerpunkt der Schriftbezug, ganz im Sinne des berühmten Brecht’schen Satzes: Sie werden lachen: die Bibel.[33]

Was bedeutet das für mich? Judentum und Christentum sind nicht zuletzt Deutungsreligionen. Sie deuten die Welt aus der religiösen Erfahrung des befreienden Gottes vom Sinai. Schma Israel – Höre und erinnere dich Israel ist für unseren Glauben konstitutiv. Nicht irgendeine religiöse Erfahrung im Angesicht des Unendlichen, der Natur oder der Schöpfung allgemein, sondern die konkrete Erfahrung des Gottes vom Sinai, wie er sich in der Schrift offenbart.

Aber natürlich gilt auch: Zu dieser Erinnerung an das befreiende Handeln Gottes gehört ebenso die Besinnung darauf, dass und wie sich jüdischer und christlicher Glaube im Laufe der Zeit in die Kultur ihrer Umwelt eingeschrieben haben und dass diese Prozesse der Inkulturation der kritischen Reflektion und Interpretation bedürfen. Das war immer die Prämisse meine Arbeit.

Ein Problem bei der Bezugnahme auf die biblischen Schriften besteht zunächst darin, dass sie sich zu Fragen der Kunst gar nicht oder eher ablehnend zu äußern scheinen. Natürlich ist es schlicht ahistorisch zu behaupten, die Bibel bewerte Phänomene, die sich de facto erst nach dem Jahr 1500 entwickelt haben.[34]

Nun hat der Schweizer Theologe und Schriftsteller Kurt Marti schon 1958 gezeigt, dass die Bibel zwar keine expliziten Aussagen zu den Kunstwerken der Menschen macht, dass sie aber dennoch etwas dazu zu sagen hat. Er hatte die Kunstindifferenz des Neuen Testaments als die Befreiung der Künste zu ihrer Profanität gedeutet.[35]

Notiz 8 – Was „theologisieren“ dann im Angesicht der Kunst bedeuten kann

Wenn die biblische Theologie offenbar indifferent ist gegenüber dem, was wir heute Kunst nennen, was bedeutet das für den theologischen Umgang mit dieser Kunst? Ist die Theologie dann sprachlos gegenüber der Kunst, ist sie überhaupt noch notwendig, folgt aus einer solchen Interpretation nicht ihre faktische Bedeutungslosigkeit? Ich glaube das nun nicht, nicht einmal im Ansatz, im Gegenteil. Mit Albrecht Grözinger würde ich sagen

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass man Theologie treiben kann, ohne regelmäßig Literatur zu lesen oder die Tendenzen der Bildenden Kunst zur Kenntnis zu nehmen“[36]

Aufgeklärte Theologie muss mit Kultur und Kunst, wie sie sich seit 1500 entwickelt haben, umgehen können, sie muss die Ausdifferenzierung der Moderne anerkennen und in ein komplexes theologisches Modell integrieren.[37] Dazu bedarf es zum einen eines theologischen Modells, das Theologie und Kunst jeweils für sich stehen lässt, ohne beide beziehungslos werden zu lassen. Zum anderen müssen wir einsehen, was Kunst für das Menschsein bedeutet, wir müssen erkennen, dass man Theologie nicht betreiben kann, ohne die Tendenzen der Kunst wahrzunehmen. Man darf sie aber auch nicht theologisch vereinnahmen, denn das wäre ein Holzweg.[38]

Die erste Frage, die man sich als Theologe, der sich mit Kunst beschäftigt, stellen muss, ist: Was hilft mir bei diesem Schwerpunkt, an dem ich forsche und arbeite, was erhellt mir das Phänomen, das ich betrachte, was geht über die philosophische und kunsthistorische Erkenntnis hinaus? Und da scheint es mir von der Reihenfolge abzuhängen, in der man Theologie und Kultur zueinander in Beziehung setzt. Viele fühlen sich zu einer bestimmten Theologie hingezogen – etwa der Theologie Paul Tillichs - und wenden diese dann sozusagen sekundär auf das Arbeitsfeld der kulturtheologischen Erschließung an, dem sie sich irgendwann zuwenden. Sie interpretieren ihre Kulturerfahrungen unter diesem bereits erarbeiteten Paradigma.


Madeleine Dietz, Was oben war wird unten sein, 2005

Bei mir war das nicht so. Für mich war zunächst die Kultur und hier vor allem die Bildende Kunst da, die ich mir unter den Paradigmen der philosophischen Ästhetik erarbeitet habe, und erst dann stellt sich für mich die Frage, welche Theologie diesem so erarbeiteten Arbeitsschwerpunkt die sinnvollste Perspektivierung gibt. Für mich war die bildende Kunst zunächst einmal theologisch nicht begründungsbedürftig. Ich brauchte weder eine theologische Ethik der Kunst noch eine visuelle Darstellung meines Glaubens. Ich musste meinen Glauben auch nicht dadurch rechtfertigen, dass er sich in der Kultur widerspiegelt. Das war für mich nie eine Frage.

Ich war auf der Suche nach einer Theologie, die die Kultur und vor allem die Kunst als etwas Eigenständiges, Autonomes akzeptieren und würdigen konnte. Und da schien tatsächlich lange Zeit Paul Tillich der Kultur und der Kunst gegenüber am aufgeschlossensten zu sein.Von Karl Barth hieß es dagegen immer, er habe die Kultur abgelehnt. Doch das Gegenteil ist der Fall. Während Tillich der Kunst immer wieder Grenzen setzt, ihre radikale Autonomie ablehnt, weil er von einem Einheitsgrund des Religiösen ausgeht, konnte Karl Barth als Differenztheoretiker die Kunst für sich stehen lassen. Aber das wusste ich am Anfang nicht und viele wissen es heute noch nicht, weil sie Karl Barth in bestimmte vorgefertigte Schubladen stecken. Demnach ist Tillich der, der mit der Kultur kann, und Barth der, der nicht mit der Kultur kann. Das ist natürlich Unsinn. Paul Tillich hat sich häufig zur Kultur geäußert, Karl Barth nicht, aber das heißt noch gar nichts, außer, dass beide sich konform zu ihrem Modell verhalten haben.

Mitte der 80er Jahre schickte mir mein Bruder ein Konvolut von Fotokopien und schrieb dazu: Ist es nicht das, was Du theologisch immer vertreten hast? Und so war es auch. Es waren Passagen aus Karl Barths Ethikvorlesung, die einige Jahre zuvor erschienen waren[39] und in denen es um Kunst (und Humor) ging. Sie beschrieben genau jenes differenztheoretische Modell des Verhältnisses von Theologie bzw. Kirche und Kultur bzw. Kunst, das mir vorschwebte. Das, was mir bis dahin aus der Begegnung mit Kunst und Künstler:innen im wörtlichen Sinn evident war, wurde hier theoretisch beschrieben.

Und selbstverständlich theologisiert auch Karl Barth die Kunst, sogar ziemlich elementar mit starken Worten („Das Wort und Gebot Gottes fordert Kunst“) und harschen ethischen Zuschreibungen („Ein Mensch, der sich dem vorwegnehmenden Schaffen der Aisthesis grundsätzlich oder aus Faulheit entziehen wollte, wäre sicher kein guter Mensch“). Und er kann das sogar noch steigern: „Unästhetisch ist im letzten Grunde immer auch unmoralisch und ungehorsam“. Das kommt Formulierungen nahe, die Henning Luther zur ästhetischen Grundierung der Ethik (nach Levinas) gebraucht hatte, nur dass Henning Luther viel höflicher und positiver formuliert:

„dass die ästhetische Erfahrung bereits implizit eine ethische Dimension hat ... Ästhetische Erfahrung, die sich in den Bann ihrer Objekte begibt, die sich von ihrem Fremden und Anderen an-sprechen und an-gehen lässt, lässt sich immer auch von der exponierten Schutzlosigkeit und Ausgesetztheit des Anderen anrühren, die sie nicht gleichgültig sein lässt.“[40]

Bei Karl Barth geschieht die Verhältnisbestimmung nun so, dass er die Kunst nicht religiös vereinnahmt, nicht in den Dienst von Theologie oder Ethik stellt, sondern sie geradezu radikal für sich, neben der Kirche, neben der Wissenschaft, neben der Politik stehen lässt. Und eben dieses Verständnis lässt sich mit Barth als theologischer Akt begreifen. Aber auch Karl Barth setzt der Kunst Grenzen – das ergibt sich aus seinem differenztheoretischen Modell. Die Grenze ist nicht da erreicht, wo Kunst souveränitätstheoretisch auf Theologie ausgreift[41], sondern dort, wo sie selbst Theologie oder sagen wir besser: Kunstreligion werden möchte. Hier verstößt sie nach Barth gegen die Ausdifferenzierung der Moderne.

Man wird nun nicht zum Barthianer, wenn man Barth in dieser Bestimmung folgt, sondern stellt nur fest, dass dieser eine theologische Perspektive skizziert hat, die im Vergleich zu allen anderen theologischen Positionen den modernen differenztheoretischen Bestimmungen der Kunst am besten genügt. Die zurzeit modische Zuordnung zu bestimmten Lagern sollte inzwischen eigentlich überholt sein.[42] Stattdessen sollte man den Gewinn erkennen können, der in einer solchen an der Differenz geschulten Bestimmung liegt.

Notiz 9 – Kunst im Angesicht der Theologie

Theologisieren (im positiven Sinn) kann nicht bedeuten, Kunst und Kultur zu etwas Religiösem zu machen, so als ob vom Beginn der Zeiten der Glutkern aller künstlich geschaffenen Bilder ein theologischer gewesen wäre. Auch in der Gegenwart und nicht nur in konservativen katholischen Kreisen ist die Behauptung beliebt, die Kardinal Brandmüller einmal so formuliert hat:

„Kunst verdankt ihren Ursprung in jedem ihrer Zweige dem urmenschlichen Impuls zur Anbetung und zum Lobpreis der Gottheit – dem Kult. Dies bezeugen uns entsprechend der Erkenntnisse der Ethnologen bereits die ersten Höhlenzeichnungen, früheste Spuren menschlichen Geistes überhaupt.“[43]

Das ist ziemlich faktenfrei argumentiert – Brandmüller bezieht sich auf sehr späte Artefakte aus dem fünften Jahrtausend vor Christus. Das dient der Sicherung der Vorrangstellung des Theologischen. Höhlenmalerei beginnt aber 40.000 Jahre vorher, was schlicht ignoriert wird:

Der Blick auf die früheste Entwicklungsgeschichte der Kunst erlaubt sichere Antworten zur Frage der steinzeitlichen Religiosität. Es gibt keinerlei wie auch immer gearteten Hinweise auf religiöse Praktiken des Jungpaläolithikers in der Höhlenmalerei. Weder Zauberer noch Schamanen wurden abgebildet, es fanden keine jagdmagischen Rituale statt und auch nicht die Auseinandersetzung zwischen totemistischen Clanen. Sämtliche diesbezüglichen Aussagen beruhen einerseits auf einer fehlerhaften Deutung der Fakten, andererseits aber auf traditionellen Vorstellungen von vorgeschichtlicher Religion, die heute als überholt gelten müssen.[44]

Über die früheste Kunst lässt sich dennoch theologisieren, man kann darlegen, warum Theolog:innen sich damit auseinandersetzen müssen, wenn Kunst seit beinahe 50.000 Jahren den Menschen beschäftigt und damit mehr als 30.000 Jahre älter ist als jede Religion. Es geht darum, sich für den Menschen und seine besonderen kulturellen Fähigkeiten zu interessieren. Was ist das Maß des Menschlichen? Warum und wie kann der Mensch Wirklichkeiten schaffen, die neben den Wirklichkeiten der Lebenswelt liegen? Und warum schafft er seit bald 50.000 Jahren immer wieder neue aufregende, bahnbrechende Formen dieses ästhetischen Scheins?

Notiz 10 – (K)eine Theologie – A/Theology

Eine Theologie der Kunst – in dem Sinn, dass die Theologie der Kunst ihren Platz zuweist – lässt sich heute meines Erachtens grundsätzlich nicht mehr schreiben.[45] Die Auszeichnung bestimmter Kunstwerke als „protestantische“ Artefakte hat inzwischen den Gestus des Komischen. Das gilt selbst für jene avantgardistischen Versuche wie die vom Mark C. Taylor, einzelne Künstler:innen theologischen Großbewegungen zuzuordnen.[46] Es ist gewaltsam und willkürlich, weil es die großartigen Leistungen der Künstler.innen in vorgefertigte Schemata presst. Michael Heizer repräsentiert keine Negative Theologie, ebenso wenig wie Picassos Guernica protestantisches Denken spiegelt. Allenfalls kann Picasso ein Werk schaffen, das Protestant:innen besonders am Herzen liegt. Aber warum nicht auch Katholik:innen, Jüd:innen oder Muslim:innen? Die spezifische Herausstellung verstellt eher den Blick. Man kann heuristisch sagen, dieses Kunstwerk entspricht dem protestantischen Impuls oder Prinzip – aber das ist dann doch eher eine metaphorische Zuschreibung. Auch theologische Ethiken der Kunst, die als Materialethik vor Jahrzehnten noch beliebt waren, führen an der Sache vorbei. Entweder sagen sie das, was jenseits der Theologie auch jeder vernünftige Mensch sagen würde – dann fehlt der theologischen Ethik ihre Spezifik und es bleibt eine Anthropologie der Kunst übrig.[47] Oder sie verwendet ein Instrumentarium der Grenzziehung, das längst Aufgabe des Rechts und des Staates geworden ist und nicht mehr der Theologie obliegt. Heutige theologische Aussagen über Kunst flüchten deshalb im Regelfall in einen Diskurs über Bilder (Kritik der Bilderflut), sie meiden also die spezifische Herausforderung. Und wenn sie sich auf Kunstwerke beziehen, dann wieder in überholter Manier auf die Darstellungsinhalte der Kunst – also auf das Was und nicht das Wie der Kunst.

Wir müssen künftig anders fragen. Warum ist jede dieser künstlich/künstlerisch geschaffenen Wirklichkeiten eine radikale Infragestellung unserer Welt? Offenbar doch nicht, weil sie durch inhaltliche Darstellungen diese Welt kritisiert, sondern weil sie eine eigene, in sich vollkommene Welt schafft. Selbst dort, wo – wie etwa in Giottos Malerei in der Paduaner Scrovegni-Kapelle – die Kunst nur einen biblischen Text abzubilden scheint, ist sie doch viel mehr, das Bild erschöpft sich nicht in der visuellen Text-Verdoppelung. Theologisch, exegetisch, binnenkirchlich ist die Malerei Giottos folgenlos geblieben. Aber sie hat dennoch die Welt verändert, indem sie die Eigensprachlichkeit der Kunst (wieder) zum Thema machte.[48]

Wie das konkret aussehen könnte, habe ich vor zehn Jahren im Theomag unter der Überschrift „Eine protestantische Sicht auf die Kunst. Zehn Grund-Sätze“ festgehalten.[49] Mit wenigen Ausnahmen[50] würde ich an dem dort Geschriebenen festhalten. Der zentrale Satz dort lautet:

Eine "protestantische Sicht" auf die Bildende Kunst zu entwickeln heißt, das, was Menschen in künstlerischer Arbeit machen, in evangelischer Perspektive zu deuten.

Anmerkungen

[2]    Karl Barth (1934): Offenbarung, Kirche, Theologie, München, S. 34.

[3]    Ebd.

[4]    Ich denke hier an die sich nach und nach zuspitzende Debatte über die theologische Haltung zum Klimawandel, wie sie sich vor allem auf zeitzeichen.net entwickelt. Hier geht es nur noch um zugespitzte Anwürfe, statt um den Austausch von Argumenten. Ich möchte damit nichts mehr zu tun haben.

[8]    Ich verwende an dieser Stelle das generische Maskulinum aus rein historischen Gründen, denn sonst bekäme man bei der Suche gar keine Ergebnisse mehr.

[9]    Vgl. dazu die beiden Artikel zur Kinder- und Jugendtheologie im Wissenschaftlich-Religionspädagogischen Lexikon im Internet (WiReLex): Kindertheologie: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100020/ sowie Jugendtheologie https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100022/

[10]   Lipman, Matthew; Sharp, Ann Margaret; Oscanyan, Frederick S. (1980): Philosophy in the classroom. Second edition. Philadelphia

[11]   Martens, Ekkehard (2013): Philosophieren mit Kindern. Eine Einführung in die Philosophie. Stuttgart.

[12]   Vgl. etwa Büttner, Gerhard (Hg.) (2002): Theologisieren mit Kindern. Stuttgart, Berlin, Köln.

[13]   Hößle, Corinna (2005): Theologisieren mit Kindern und Jugendlichen. In: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie, Jg. 57, H. 3.

[14]   So auch die Darstellung in der Einleitung Büttner, Gerhard; Freudenberger-Lötz, Petra; Kalloch, Christina, et al. (Hg.) (2019): Handbuch Theologisieren mit Kindern. 2. Auflage. Stuttgart, München.

[15]   Wenn ich es recht sehe, gibt es wenige Beiträge zum Problem des „Theologisierens der Kinder“ im Sinne des Genitivus obiectivus.

[16]   Paolin, Francesca (2022): Italienisch-jüdische Gelehrte und ihre deutschen Nachbarn im 19. Jahrhundert. In: Schoor, Kerstin; Treß, Werner (Hg.): Juden und Ihre Nachbarn. Die Wissenschaft des Judentums Im Kontext von Diaspora und Migration. Berlin/München/Boston, S. 99–115.

[19]   Lezioni de teologia morale israelitica, 1862 sowie Lezioni de teologia dogmatica israelitica, 1863

[20]   Zit. nach Paolin, Francesca (2022): Italienisch-jüdische Gelehrte, a.a.O., S. 103.

[22]   Stallmann, Imke (2013): Abraham Geigers Wissenschaftsverständnis. Eine Studie zur jüdischen Rezeption von Friedrich Schleiermachers Theologiebegriff. Frankfurt a.M.

[23]   Paolin, Francesca (2022): Italienisch-jüdische Gelehrte, a.a.O., S. 105.

[26]   Steiner, George (1990): Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? München.

[27]   Vgl. dazu Pettegree, Andrew (2005): Reformation and the culture of persuasion. Cambridge / New York.

[28]   Bubner, Rüdiger (1989): Ästhetische Erfahrung. Frankfurt a. M., Menke, Christoph (1991): Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida. Frankfurt am Main. Oelmüller, Willi (Hg.) (1981): Kolloquium Kunst und Philosophie 1. Ästhetische Erfahrung.

[29]   Vgl. dazu Mertin, Andreas (1988): Der allgemeine und der besondere Ikonoklasmus. Bilderstreit als Paradigma christlicher Kunsterfahrung. In: Mertin, Andreas; Schwebel, Horst (Hg.): Kirche und moderne Kunst. Eine aktuelle Dokumentation. Frankfurt am Main, S. 146–168. Online unter http://www.theomag.de/09/am1.htm.

[30]   Otto, Rudolf (1979): Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. München.

[31]   Eliade, Mircea (1987): Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen. 5. Aufl. Frankfurt am Main.

[32]   Taylor, Charles (1995): Das Unbehagen an der Moderne. 1. Aufl., 1. [Dr.]. Frankfurt am Main. S. 44f. und S. 51.

[33]   Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Frankfurter und Berliner Ausgabe, Frankfurt/M., Berlin und Weimar 1988-1998, Bd.21, S. 248.

[34]   Belting, Hans (2004): Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. 6. Aufl. München.

[35]   Marti, Kurt (1958): Christus, die Befreiung der bildenden Künste zur Profanität. In: Evangelische Theologie, H. 8.

[36]   Grözinger, Albrecht (1989): Theologie und Kultur. Theologische Bemerkungen zu einem komplexen Zusammenhang. In: Theologia Practica, Jg. 24, H. 3. S. 208.

[37]   Schwebel, Horst (1968): Autonome Kunst im Raum der Kirche. Hamburg.

[38]   Mertin, Andreas (1998): Holzwege. Zum Verhältnis von Theologie und Ästhetik in der Postmoderne. In: tà katoptrizómena, Jg. 1, H. 1. http://www.theomag.de/01/am6.htm.

[39]   Barth, Karl (1978): Ethik 2. Vorlesung Münster WS 1928/29, Bonn, WS 1930/31. Zürich.

[40]   Luther, Henning (1991): Subjektwerdung zwischen Schwere und Leichtigkeit – (auch) eine ästhetische Aufgabe? In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie, Jg. 33, H. 2.

[41]   Vgl. dazu Menke, Christoph (1991), Die Souveränität der Kunst, a.a.O.

[42]   Markschies, Christoph (2023): Über den Kulturwandel in der Wissenschaft. https://zeitzeichen.net/node/10234: „Allerdings frage ich mich manchmal, warum bestimmte theologische Kontroversen aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in den letzten Jahren mit einer persönlichen Härte aufbrechen, die angesichts des geringen inhaltlichen Neuigkeitswertes wirklich nicht notwendig wäre.“

[43]   Vgl. etwa Brandmüller, Walter (2009): Kunst – Kult – Kirche.

[44]   Wunn, Ina (2000): Religion und steinzeitliche Kunst. Die Höhlenmalerei als Spiegel der jungpaläolithischen Geisteswelt. In: Zeitschrift für Religionswissenschaft, H. 8.

[45]   Schwebel, Horst (1988): Wahrheit der Kunst - Wahrheit des Evangeliums. Einer Anregung Eberhard Jüngels folgend und widersprechend. In: Mertin, Andreas; Schwebel, Horst (Hg.): Kirche und moderne Kunst. Eine aktuelle Dokumentation. Frankfurt am Main, S. 135–145.

[46]   Taylor, Mark C. (1992): Disfiguring. Art, Architecture, Religion. Vgl. dazu https://www.theomag.de/02/am9e.htm sowie https://www.theomag.de/33/hs1.htm

[47]   Trillhaas, Wolfgang (1970): Ethik. 3., neu bearb. u. erw. Aufl. Berlin.

[48]   Hetzer, Theodor (1981): Giotto - Grundlegung der neuzeitlichen Kunst. Mittenwald

[50]   Eine solche Ausnahme bildet z.B. die positive Bezugnahme auf Mark C. Taylors Parallelisierung künstlerischer Stile mit theologischen Schulen. Das würde ich heute nicht mehr machen.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/141/am777.htm
© Andreas Mertin, 2023