Tà katoptrizómena und die Genderfrage

Ein Erklärungsversuch

Andreas Mertin

Immer wieder bekommen wir Rückmeldungen von Leser:innen, die sich an manchen Sprachformen im Magazin für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik stören. Dabei hat das Magazin, so empfinden wir das jedenfalls, eine überaus liberale Praxis, was diverse Sprachformen betrifft. Jeder Autor, jede Autorin, alle Autor:innen können – von kleinen Ausnahmen abgesehen – so schreiben, wie sie es gerne möchten und wie es ihren jeweiligen Schreibgewohnheiten entspricht. Daher halten einige am generischen Maskulinum fest, andere nutzen die ausgeschriebene Form mit weiblichen und männlichen Formen, wiederum andere setzen auf das Gendersternchen und der Verfasser dieses Textes nutzt den Doppelpunkt als Markierungszeichen.

Letzteres ist das Ergebnis eines längeren subjektiven Lernprozesses. Am Anfang, sprich in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts nutzte der Verfasser die ausgeschriebene Form, nicht zuletzt, weil man sie mit Hilfe von Makros so schön automatisieren konnte (böse gesprochen: man musste nicht weiter über den Sinn nachdenken). Man hatte also keine Zeiteinbuße und die Länge des Textes, die ja bei Printversionen oft als Einwand gegen die ausführlichen Formen vorgebracht wird, spielte allmählich keine Rolle mehr. Mit der im 21. Jahrhundert aufkommenden Diskussion um weitere Geschlechtsidentitäten erwies sich die ausführliche Version nicht mehr als praktikabel, weshalb der Verfasser zunächst auch auf das Gendersternchen * gesetzt hat. Und diese Praxis ist ja auch heute noch sehr verbreitet. Ich habe das jedenfalls solange getan, bis ich einen Artikel las, der auf die impliziten Schwierigkeiten dieses Gebrauchs hinwies. Denn natürlich ist der Stern sozusagen vorbelastet. Ich will das eigentlich nicht: Dinge oder Menschen mit einem Stern bezeichnen. Ich fühle mich dabei unwohl. Denn wie soll man das konkret schreiben: „Jüd*nnen“ oder wie es die Seite genderleicht.de bei Umlaut­wörtern empfiehlt: „Juden, Jüdinnen und andere Personen, die zur jüdischen Religion gehören“? Ist es deshalb besser, gleich auf neutrale Formulierungen auszuweichen: Menschen, die der jüdischen Religion anhängen, Bürger:innen jüdischen Glaubens? Das scheint mir kaum praktikabel zu sein.

Der gravierendere Einwand hat aber mit Behinderungen (mit Ableismus) zu tun. Lassen Sie probehalber einmal die Vorlesefunktion Ihres Browsers über folgende Wörter laufen:

Theolog*innen
Theolog:innen
Theologen und Theologinnen sowie andere Personen, die Theologie studiert haben.
[-> Hier als mp3]

Vom Lesefluss ist die letzte Formulierung vielleicht noch die beste, sie ist aber nun wirklich umständlich, vor allem, wenn Sie gerade an einem Text schreiben, der sich mit der theologischen Existenz heute beschäftigt und Sie immer wieder von „Theologen und Theologinnen sowie andere Personen, die Theologie studiert haben“ schreiben müssen. Die erste Form dagegen wird von der Vorlesefunktion ausgesprochen als: Theolog-Sternchen-innen. Das ist absolut unschön und zertrümmert das Verstehen des Textes. Alle, die auf die Nutzung dieser Vorlesefunktion angewiesen sind (z.B. Blinde und stark Sehbehinderte), werden so am Verstehen des Textes gehindert. Dagegen liest die Vorlesefunktion Theolog:innen anders, der Doppelpunkt wird wie bei den Tagesschau-Sprecher:innen als kurze Pause aufgelöst und entspricht so der gendertheoretischen Debattenlage. Das ist der Grund, warum der Verfasser dieses Textes sich für den Doppelpunkt als Marker entschieden hat. Es gibt aber auch andere Positionen. Die Mehrzahl der Autor:innen des Magazins pflegt einen anderen Sprachstil – das ist in Ordnung so. Unsere Sprache ist etwas Dynamisches und vor allem etwas Experimentelles. Eine Norm gibt es daher in dieser Frage nicht. Ich würde allerdings persönlich nicht mehr zum generischen Maskulinum zurückkehren.

Eine dezidiert andere Haltung vertritt das Magazin in der Frage der neuen deutschen Rechtschreibung. Die wird – auch gegen die Intention einreichender Autor:innen – ziemlich radikal angewandt. Es ist eine Bedingung der Publikation, weil wir hoffen, dass unsere Texte auch für schulische Zwecke eingesetzt werden, in denen der Gebrauch der neuen deutschen Rechtschreibung verpflichtend ist. Das ist aber auch der einzige Bereich, in den wir redaktionell eingreifen.

In der öffentlichen Debatte hat nun eine kleine Randgruppe von Theolog:innen gegen eine angebliche akademische Nötigung zum Gebrauch der Gendersprache protestiert. Es ist wirklich eine Randgruppe und sie arbeitet nicht mit besonders überzeugenden Argumenten. Ehrlich gesagt, ich kann die behauptete „Nötigung“ gar nicht erkennen. Ganz im Gegenteil, ich kann die Fälle kaum aufzählen, in denen ich Texte von akademischen Verlagen zurückgeschickt bekommen habe mit der Bitte um Nachbesserung, weil ich den Doppelpunkt als Marker verwende. Das empfinde ich nun als Nötigung. In der Regel gibt es dann das berühmte Eingangsstatement: „Der folgende Text meint Frauen und Männer gleichermaßen, aufgrund der Lesbarkeit wird die männliche Form verwendet.“ Das ist erniedrigend und unbefriedigend, gerade auch dann, wenn es – wie in meinem Fall – nicht mit der intentio auctoris übereinstimmt.

Soweit ich den universitären Alltag mitbekomme, wird – zumindest in der Theologie – keine Seminararbeit abgelehnt, weil die Studierenden keine gendergerechte Sprache verwenden. In der Regel weist man einmal auf das „sollte gendergerecht formuliert werden“ hin und hofft darauf, dass den Adressat:innen die Bedeutungsbreite des Wortes „sollte“ einsichtig ist. Es wird dringend empfohlen, aber nicht erzwungen. Wenn dann Studierende eine Arbeit einreichen, die nicht gendergerecht formuliert ist, begreift man dies als bewusste Entscheidung, die man akzeptiert. Umgekehrt gibt es aber auch Fälle, in denen von Kollegen Arbeiten abgewiesen wurden, weil sie gendergerecht formuliert waren. Das empfinde ich nun als falsch. Hier müssen Universitäten und öffentliche Institutionen Standards festlegen und die sollten die Bandbreite möglicher Haltungen berücksichtigen.

Allerdings macht die Gegenrede, weil es in der Lebenswelt diverse Geschlechter gebe, müsse(!) sich auch die akademische Sprache daran orientieren, wenig Sinn. Was auf den ersten Blick durchaus plausibel ist, wird spätestens dann fraglich, wenn es um andere Bereiche der Lebenswelt geht. Es ist schlicht nicht möglich, sich sprachlich an allen Realitäten der Lebenswelt zu orientieren, weil es von unseren kulturellen Sprachmustern abhängt, was wir erkennen und was nicht. Sonst dürften wir auch nicht einfach vom grünen Rasen sprechen, der doch in Wirklichkeit in zahlreichen, die Wirklichkeit viel besser beschreibenden Sprachvarianten beschrieben werden kann – wie andere Kulturen gut zeigen.

Pragmatisch ist es doch so, dass wir bestimmte Dinge ausprobieren, und sie, wenn sie sich als lebenstauglich erweisen, in unseren Sprachgebrauch übernehmen. Da sind wir im Blick auf die geschlechtergerechte Sprache gerade in einer Experimentierphase und konnten uns zumindest gesellschaftlich noch nicht auf einen allgemeinen Standard einigen. Im Fernsehen wird oft der Doppelpunkt als Marker genutzt, andere Redaktionen verzichten ganz darauf. Mir persönlich erscheint es allerdings schon verdächtig, wenn innerhalb eines Mediums alle dieselbe Sprachform nutzen, denn so werden Differenzen und Differenzierungen geschliffen.

Ein Alptraum wäre es, wenn es am Ende dann tatsächlich so aussehen würde, wie es sich manche Fortschrittliche erträumen. Dass nämlich wissenschaftliche Verlage das generische Maskulinum verbieten oder zu gendersensibler Sprache verpflichten. Das wäre nun tatsächlich derselbe Ausdruck von Unfreiheit, der heute dort herrscht, wo das generische Maskulinum erzwungen wird. Stellen Sie sich vor, Sie schreiben einen Text über „Bahnbrechende Forschungsergebnisse zur COVID-19-Therapie“ und der Verlag publiziert das nicht, weil Sie nicht inklusiv geschrieben haben. Das ist absurd, gibt aber eine Erfahrung aus den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts wieder, als im Anschluss an Vorträge oft über die inklusive Sprachform und nicht über den vorgetragenen Inhalt diskutiert wurde.

Den Konservativen unter den Sprachpuristen will ich aber gerne ein Angebot machen:

wir können auch zur radikalen kleinschrift aus dem wörterbuch der gebrüder grimm zurückkehren. Die war auch eine bewährte deutschsprachliche konvention und erspart uns manchen fehlgriff auf der tastatur, weil die versehentlich gedrückte feststelltaste PLÖTZLICH ALLES IN GROSS SCHREIBT.

Wir dagegen halten es lieber mit den Engeln am Ende von Goethes Faust:

„Wer immer strebend sich bemüht,
Den können wir erlösen.“

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/141/am778.htm
© Andreas Mertin, 2023