Menetekel

Ein falscher Mönch, Ethik und die Frage der Gewalt für gute Zwecke

Andreas Mertin

Rembrandt: Das Gastmahl des Belsazar (1635)

Es gibt Gesten und Bilder, die trotz all ihrer Beiläufigkeit dennoch weitreichende Schlussfolgerungen zulassen. Sie sind sozusagen „Zeichen an der Wand“. Als ein derartiges Zeichen verstehe ich das kursierende Mem vom „Mönch in Lützerath“.

Menetekel

Vor 28 Jahren formulierte Dirk Kaesler, Professor für Soziologie in Marburg, in der Zeitschrift MAX einen Aufschrei über den Missbrauch religiöser Symbole und Rituale im Kulturbetrieb. Er hatte einem Konzert der „School of Music“ der Indiana University beigewohnt, bei dem mittelalterliche Musik aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts aufgeführt wurde. Man beließ es aber nicht bei der konzertanten Aufführung, sondern informierte das Publikum, „die Musik werde von der rechten Seite der Bühne kommen, auf der linken Seite jedoch ‚will be some action‘“.

Diese ‚Action‘ war eine dilettantische Simulation einer katholischen Messe durch eine ahnungslose Laienspielschar, die von dem, was sie da simulierte, offenkundig überhaupt keinen Begriff hatte. Die Messe wurde, wie Kaesler damals schrieb, zu einem öffentlich subventionierten Mummenschanz. Diese besinnungs- und verständnislose Aneignung religiöser Rituale und Symbole verglich Kaesler mit Nebukadnezars Raub der sakralen Gefäße aus dem Tempel in Jerusalem, „um daraus mit seinen Frauen und Nebenfrauen zu saufen“. Und Kaesler beschloss seinen Text:

Wer unbekanntes und unpraktiziertes Christentum zur Theaterkulisse für harmonische Abendunterhaltung verkommen lässt, dem droht religiöser Analphabetismus, er wird Opfer der völligen Entsakralisierung des Lebens. Genau wie diejenigen, die Karneval und Fasching als Dauerparty missverstehen und nicht um den inneren Zusammenhang von Aschermittwoch und Fastenzeit wissen. Den Preis dafür zahlen wir, nicht die Religion.[1]

Und Kaesler verwies in diesem Zusammenhang auf Daniel 5, also die Erzählung von Belšazars Gastmahl. Zur Erinnerung, in Daniel 5 heißt es:

„Mene: Gezählt, das heißt, Gott hat gezählt die Tage Deiner Königsherrschaft und sie beendet. Tekel: Gewogen, das heißt, Du wurdest auf der Waage gewogen und für zu leicht befunden. Peres (U-parsin): Zerteilt wird Dein Königreich und den Persern und Medern übergeben“.

Dieses Ereignis ist unter der Bezeichnung Menetekel sprichwörtlich geworden.

Der ‚Mönch‘ von Lützerath

An den Text von Dirk Kaeser erinnerte ich mich, als ich den Medienhype um den „Mönch von Lützerath“ mitbekam. Wer das gesamte Video anschaut, erkennt schnell, dass das Geschehen Teil einer größeren Inszenierung ist, freilich mehr schlechtestes Hollywood-Kino (hier ist der Superlativ einmal angebracht) und keinesfalls nur eine symbolpolitisch ausgerichtete Performance, die u.U. diskutabel wäre, evtl. sogar unter dem Stichwort der Zwei-Reiche-Lehre.

Das ist es aber nicht. Der als Mönch verkleidete Demonstrant versucht zunächst einmal auf Teufel komm‘ raus, ein Bild zu generieren. Er hat dabei ein kleines Plakat in der Hand, welches er vor einem der beteiligten Polizisten platzieren möchte, um ein Mem zu erzeugen. Das gelingt ihm nicht, weil der Polizist das Plakat immer sofort entfernt und schließlich weiter wegwirft. Der ‚Mönch‘ holt sich dennoch das Plakat zurück und erneuert seine Aktion. Nun wirft der Polizist das Plakat in die Richtung seiner Kolleg:innen, so dass es für den Demonstranten nicht mehr greifbar ist. Das verärgert diesen so, dass er nun zur persönlichen Attacke übergeht.

Der im Schlamm steckende Polizist hat sich gerade nach vorne gebeugt und blickt auf seine Schuhe, greift nach unten und steht quer zum Demonstranten. Da attackiert dieser ihn unvermittelt und stößt ihn vollends in den Schlamm. Diese Handlung ist durch den Polizisten keinesfalls provoziert, befindet sich dieser doch in einer ziemlich hilflosen Situation – er steckt schließlich im Schlamm fest. Die Aktion dieses Pseudo-Mönches wird gefilmt und fotografiert und findet so ihren Weg in die Social Media. Und dort geht sie – mit passenden Hashtags versehen – viral.

Was wir hier beobachten können, ist ein dreifacher Regelbruch:

  • Erstens attackiert der Demonstrant ein anderes Subjekt, das es in einer akut ungeschützten Situation antrifft, um es zu Fall zu bringen und damit zugleich zu demütigen.
  • Zweitens ignoriert er dabei das staatliche Gewaltmonopol, um selbst Gewalt anwenden zu können, und kündigt damit den Gesellschaftsvertrag, auf dem dieses basiert.
  • Drittens missbraucht der Demonstrant den Habit einer religiösen Gruppe (der Franziskaner), die explizit für ihr Friedensengagement bekannt ist, um aggressiv zu agieren.

Jeder dieser Regelbrüche sollte auf unseren entschiedenen Widerspruch stoßen. Nein, das alles ist nicht lustig und erheiternd, es ist, wie Kaesler zur damaligen Aktion treffend schrieb, ein Menetekel. Es ist auch nichts, was man mal eben als symbolpolitischen Akt diskutieren oder gar goutieren kann, und auch nichts, was man als pubertäre Handlung ignorieren kann, es ist zunächst einmal schlicht infam im klassischen Sinn.

1. „Écrasez l’infâme!“

Infamie bezeichnet ein heimtückisches Handeln, das gegen die allgemeinen Regeln und Werte einer Gesellschaft verstößt. Früher nannte man das „ehrlos“, als Ehre noch eine Münze im gesellschaftlichen Wertesystem war, heute wäre es eher ein bewusst unethisches Verhalten. Dieses geforderte ethische Verhalten entwickelt sich aber nicht aufgrund abstrakt gesetzter Normen einer Gesellschaft (so wie das bei der Ehre der Fall ist), sondern aus dem konkreten Gegenüber zu einem Menschen, eben dem ‚Anderen‘. Man muss nicht zwingend auf Levinas rekurrieren, aber es sollte eigentlich jedem Menschen einsichtig sein, dass man andere Menschen, die einem im konkreten Moment ausgeliefert sind, nicht angreift. Das ist schlicht eine Frage von elementarer Humanität. Und das gilt selbstverständlich für beide Seiten.

Es ist ja keinesfalls so, dass der hier in den Blick geratene verkleidete Demonstrant durch die Polizei in eine verzweifelte Lage gebracht worden wäre, in der er sich nicht anders zu wehren wüsste, als einen Polizisten, der unvermittelt vor ihm auftaucht, wegzustoßen und ihn dabei versehentlich in den Schlamm befördert.

Tatsächlich hat er selbst beharrlich diese Situation herbeigeführt und sieht nun die Gelegenheit zum Triumph durch die ultimative Demütigung des Gegners: Man stößt jemanden, um es literarisch auszudrücken, hinab in den Schlamm einer würdelosen Existenz. De facto geht es darum, dem Gegenüber seine Würde zu nehmen, ihn(in den Schlamm)  herabzuwürdigen.

Die im Deutschen dafür geläufigeren Sprachwendungen sind: in den Dreck ziehen, mit Dreck bewerfen, beschmutzen, besudeln oder auch niedermachen. Genau das passiert hier und das Besondere ist, dass es ein intendierter und inszenierter Akt ist. Es ist, wie ein Kollege zu Recht im Gespräch sagte, letztlich ein niederträchtiger Akt.

Man verschärft das Problem aber noch einmal, wenn man so tut, als legitimere sich das unethische Handeln dadurch, dass es um eine ethisch gute Sache geht: nämlich die Bekämpfung der Klima-Apokalypse. Gemeint ist: Der hehre Zweck heiligt die harschen Mittel. Das ist jedoch nicht der Fall: der Gebrauch unethischer Mittel unterminiert die Seriosität des Zwecks und gefährdet darüber hinaus auch den Erfolg. Man kann kein Gutes mit bösen Mitteln erreichen. Die bewusst provozierten Bilder der Gewalt gegen Polizist:innen sind hochproblematisch und sollten auch nicht verharmlost werden.[2] 

2. Gewaltmonopol

Angriffe auf die Polizei, insofern sie nicht aus einem Akt der Notwehr entstehen, sondern willkürlich sind, sei es an Silvester oder sei es bei Demonstrationen wie in Lützerath, sind eigentlich immer mit der bewussten oder unbewussten Aufkündigung des Gesellschaftsvertrages verbunden. Jene Vereinbarung wird gebrochen, die in einer Demokratie alle Bürger:innen implizit mit dem Staat eingehen, im Gegenzug für staatlichen Schutz auf individuelle Gewalt zu verzichten. Heute aber respektiert man den Staat oft nicht mehr. Die Idee des Gewaltmonopols will,

dass die Angehörigen eines Gemeinwesens darauf verzichten, Gewalt (z. B. im Wege der Selbstjustiz) auszuüben. Die Angehörigen verzichten darauf, tatsächliche oder vermeintliche Rechte und Ansprüche durch individuelle Ausübung von Zwang durchzusetzen. Vielmehr überträgt in Deutschland das Volk in Art. 20 GG „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ seinen Schutz und deren Durchsetzung ganz auf die staatlichen Judikativ- und Exekutivorgane; also an Gerichte beziehungsweise Polizei und Verwaltung. Diese wiederum sind in einem demokratischen Rechtsstaat an das von der Legislative sanktionierte Recht und Gesetz gebunden. Das Gewaltmonopol hat vorherige Formen der Konfliktbeseitigung wie Fehde und Blutrache als Mittel der Rechtsdurchsetzung abgelöst.[3]

Nun müssen Polizisten fast immer mit Gewalt leben.[4] Sie erleiden nicht nur Gewalt in dem Sinne, dass sie ihr Leben aufs Spiel setzen, sie üben auch selbst Gewalt aus – in aller Regel staatlich legitimierte und angeordnete Gewalt. Als Bürger:innen eines demokratischen und freiheitlichen Staates vertrauen wir darauf, dass in Konfliktsituationen (Banküberfall, Raubüberfall, Vergewaltigung, Familiendramen. Umsturzpläne, Entführung oder was auch immer) die Polizei eingreift und eine rechtskonforme Situation herstellt. Ich zumindest verlasse mich darauf und nach all meiner Lebenserfahrung funktioniert das auch. Selbst da, wo ich in jungen Jahren etwa in Berlin Anfang der 80er-Jahre bei Auseinandersetzungen der Polizei einmal gegenüberstand, ist dieses Grundverhältnis nie erschüttert worden. Es war uns ja auch klar, das wir geltendes Recht in Frage gestellt hatten und die Polizei den Rechtsstaat vertrat. Aber es ging nie um persönliche Attacken gegen die Polzisten als persönliche Gegner.

Wenn wir aber auch seitens der Kirche beginnen, darüber nachzudenken, ob man in einem Rechtsstaat auch gegen den Staat und seine Vollzugsorgane eventuell auch gewaltsam vorgehen kann, haben wir Grenzen bereits überschritten. Das ist selbst dann schon der Fall, wenn der einfache Rechtsbruch für legitim gehalten wird. Insofern sollte man die Zweck-Mittel-Relation immer sorgsam reflektieren und dabei auch das Gewaltmonopol des Staates respektieren.

3. Habit

Die Mönchskleidung, die bei der Aktion zum Einsatz kam, ist keine neutrale, kein bloßes Karnevalskostüm im Stil irgendeines Mönches. Es ist ein spezifisches Symbol. Kein früher einmal mit der Inquisition betrauter Dominikaner tritt hier auf, kein Augustiner, kein Minorit, kein Zisterzienser, kein Benediktiner, auch kein Kamaldulenser. Die Habite sind ein sehr ausdifferenziertes Charakteristikum religiösen Lebens, evtl. vergleichbar mit den Bauerntrachten in manchen Regionen Deutschlands. Jedes Detail hat eine Bedeutung. Es ist, so könnte man sagen, der kulturelle Reichtum der katholischen Kirche, wie ein Blick auf die Seite der religiösen Kostüme in der Enzyklopädie der Éditions Larousse, dem Larousse du XXe siècle (1928-1933), zeigt:

Dieser kulturelle Reichtum schwindet schon seit längerem aus dem öffentlichen Bewusstsein.

Das zeigt sich auch da, wo evangelische Theologen meinen, der simulierte Mönch aus Lützerath, der sich mit einem Franziskaner-Habit ausstattete, könne auch Martin Luther und sein Verhältnis zum Staat symbolisieren.

Könnte sein, wenn der Demonstrant ein Ignorant war, dem der Reichtum religiöser Kleidung schlicht egal ist, Hauptsache irgendetwas Religiöses. Das ist so ähnlich, als wenn Leute aus der Evangelischen Kirche austreten, weil ihnen der Papst missfällt.

Faktisch weiß aber jeder Halbgebildete, dass Luther Augustiner war und deshalb ein schwarzes Habit trug. Landauf, landab drücken einem das die in lutherischen Kirchen unvermeidlichen Lutherbilder aufs Auge.

Habite stehen für Haltungen, die man – auch wenn sie einem ‚modernen‘ Menschen historisch überholt erscheinen – respektieren sollte. Wir müssen aber dem Demonstranten zugutehalten, dass er es ernst meinte und einem Franziskaner entsprechen wollte. Dann wird sein Akt umso aggressiver – nicht gegen den Polizisten, sondern gegen den Friedenswillen der Franziskaner.

Von großer Bedeutung [für die Franziskaner; A.M.] ist eine Haltung des Friedens. Franziskus beruft sich auf göttliche Weisung: „Der Herr hat mir geoffenbart, dass wir als Gruß sagen sollen: ‚Der Herr gebe dir den Frieden!‘“ (Testament, 23). Der „wahre Friede“ ist der Frieden, den Gott gibt, aber er ist vom Frieden mit den Menschen nicht zu trennen, und er entspringt wesentlich aus der Begegnung mit den Armen; Franziskus selber hatte am Beginn seiner Berufung Aussätzige gepflegt. In Verbindung mit dem Armutsideal bedeutet das franziskanische Friedensverständnis den Verzicht auf Waffen und Gewalt sowie eine Haltung von Demut und Geduld gegenüber allen Menschen.[5]

Was hat der Demonstrant sich dabei gedacht, als er das Habit eines Bettelordens des 13. Jahrhunderts nutzte, um auf eine Demonstration in Lützerath zu gehen? Mein Vorschlag: Nehmen wir ihn radikal ernst, und tun nicht so, als habe er bloß zufällig zu diesem Outfit gegriffen. Nein, es ist ein manifester aggressiver Akt gegen die Religion, gegen eine bestimmte Erscheinungsform der christlichen Religion. Er hat nicht sagen wollen: Der Heilige Franz von Assisi hätte aber auch gegen den Braunkohlenabbau protestiert. Denn in diesem Fall hätte er keinen Beamten angegriffen. Hat er sich selbst ermächtigen wollen, indem er zu einem respektierten Symbol griff? Ich weiß es nicht. Fand er es lustig, im Habit des Bettelordens auf eine Demo zu gehen? Ich hoffe nicht. Der Sache der Franziskaner dient es nicht, es schädigt deren Anliegen. Gerade die Franziskaner stehen für Ökologie und Friedfertigkeit.

Fazit

Wir sollten die Gelegenheit durchaus dazu nutzen, laut und energisch gegen diesen Missbrauch zu protestieren. Es ist ja etwas anderes, wenn in einer Oper oder einem Theaterstück, also im Bereich des ästhetischen Scheins, religiöse Elemente aufgegriffen werden. Hier aber geht es um die Kontamination aggressiver Handlungen gegen den Staat und seine Repräsentanten mit Hilfe religiöser Symbolik. Wenn auf den Querdenker-Demonstrationen in Berlin Demonstrierende ein Kruzifix hochhielten, wenn Ukrainer ihre Waffen zu Heiligen stilisieren, tun sie nichts anderes: sie treiben Missbrauch mit religiösen Symbolen zugunsten ihrer vorgetragenen Zwecke. Das eine ist so verwerflich wie das andere. Es liegt kein Segen in der Verbindung von Religion und Gewalt – historisch nicht und auch nicht aktuell.

Anmerkungen


[1]    Käsler, Dirk (1995): Menetekel. In: MAX. Magazin für Lebensästhetik

[2]    Nun gibt es kunstgeschichtlich ein vergleichbares Bild vom Beginn des 14. Jahrhunderts, das ebenso verstörend ist. Es stammt von Giotto und zeigt Jesus bei der Tempelreinigung. Aber es ist wirklich ein verstörendes Bild, was Giotto auch selbst durch Markierungen im Bild kenntlich macht, indem er ein kleines Kind zeigt, das völlig verschreckt im Mantel des Petrus Schutz sucht. Da ist keine Rede mehr vom „Lasset die Kinder zu mir kommen“.

[4]    Vgl. dazu das Kapitel 2.1.1 in Schäfer, Miriam ((2021)): Polizist*in werden - Polizist*in sein. Dissertation (Göttinger Beiträge zur soziologischen Biographieforschung, Band 5).

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/141/am779.htm
© Andreas Mertin, 2023