Theologisieren
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Wilhelm Gräb (1948-2023)Wir sahen uns zuletzt bei der Summerschool zur Documenta 15 in der Evangelischen Akademie Hofgeismar im Juni letzten Jahres. Ich habe mich gefreut, ihn nach längerer Zeit wieder zu sehen. Er war mit seinem Berliner Seminar zum Thema Kunst und Religion zu der interuniversitären Tagung nach Hofgeismar gekommen. Zugewandt, freundlich, neugierig, fröhlich, streitbar wie immer. Aber zugleich auch mitgenommen, von der Krebserkrankung gezeichnet, die ihn schon einige Zeit begleitete und über die er offen sprach. Die letzte Untersuchung habe „Befundkonstanz“ gezeigt, schrieb er mir im Nachgang. Damals habe ich gehofft, dass die Medizin ihm noch eine Handvoll Jahre herausschlagen könnte, auch wenn klar war, dass er das biblische Alter seines Vaters Paul Gräb (1921-2019) nicht würde erreichen können. Nun doch viel schneller als erwartet am 24. Januar die schmerzliche Todesnachricht. Wilhelm Gräb war einer der führenden praktischen Theologen seiner Generation, der dem theologischen Diskurs im deutschsprachigen Raum und weit darüber hinaus neue Impulse gegeben hat und Studierende und Kolleg*innen inspiriert und geprägt hat und dabei vielen mit seiner großen Freundlichkeit verbunden war. Er war ein praktischer Theologe, der zugleich systematischer Theologe und Religionsphilosoph war, ein Autor, der die Fähigkeit und den Mut hatte, das Christentum und seine Theologie weiterzudenken. Dabei war er mit Leidenschaft bei der Sache. Sein Kollege Albrecht Grözinger schrieb anlässlich seines Todes auf Facebook: „Bei keinem anderen Kollegen habe ich das so erlebt wie mit Wilhelm Gräb: Dass man sich in den wichtigsten theologischen Fragen vehement streiten konnte - und zugleich in einer bleibenden, berührenden Freundschaft verbunden war.“ Gräbs wichtigster Gewährsmann war Schleiermacher. „Ich verdanke ihm alles“, sagte er mir einmal, als wir über die Bedeutung Schleiermachers für die Praktische Theologie sprachen. Die intensive Auseinandersetzung mit seinem Berliner Vorgänger an der Humboldt-Universität begann mit seiner 1980 erschienenen Göttinger Dissertation „Humanität und Christentumsgeschichte. Eine Untersuchung im Spätwerk Schleiermachers“ und setzte sich in der praktisch-theologischen Habilitationsschrift „Predigt als Mitteilung des Glaubens. Studien zu einer prinzipiellen Homiletik in praktischer Absicht“ (1988) fort, einer Arbeit zu Prinzipienfragen des Predigens im Anschluss an Friedrich Schleiermacher, Karl Barth und Emanuel Hirsch, die in der Zeit als Assistent an der Universität Göttingen von 1980 bis 1988 entstanden war. Es folgten Jahren als Studentenpfarrer in Göttingen, eine Vertretungsprofessur in Jena und schließlich die Berufung auf den Lehrstuhl für Praktische Theologie an der Ruhr-Universität Bochum, der mit dem Amt des dortigen Universitätsprediger verbunden war. Von 1999 bis 2016 war er Professor für Praktische Theologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und Leiter des Instituts für Religionssoziologie und Gemeindeaufbau, von 2001 bis 2016 zugleich Universitätsprediger der Berliner Hochschulen. Seit 2011 war er zudem Extraordinary Professor an der Theologischen Fakultät der Universität Stellenbosch, Südafrika. Nach seiner Emeritierung hat er sich noch einmal einem ganz neuen Forschungsfeld zugewandt und den Forschungsbereich „Religiöse Gemeinschaften und nachhaltige Entwicklung“ an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität etabliert und als Senior Adviser geleitet. In der Praktischen Theologie steht der Name Wilhelm Gräb vor allem für eine kulturhermeneutische Erweiterung und Neubestimmung der Praktischen Theologie, für den cultural turn innerhalb der evangelischen Theologie. Kulturtheoretisch referiert Gräb dabei auf einen semiotischen Kulturbegriff, wie ihn Clifford Geertz im Anschluss an Ernst Cassirer, Max Weber und Susanne Langer ausgearbeitet hat. So kann Gräb formulieren: „Kultur ist die von Menschen geschaffene, sinnbestimmt gestaltete und in ihren Sinnbestimmungen bzw. Symbolen erschlossene und bezeichnete Welt.“ Religion bildet eine wesentliche Sinndimension dieser menschlichen Kulturwelt. Religion meint die symbolisch zum Ausdruck gebrachte „sinnbewusste Deutung der Beziehung der Menschen zu einer letzten Realität, zu jenem Unbedingten, Unendlichen, das allem sinnbewussten Selbst- und Weltumgang ebenso vorausliegt wie es ihn transzendiert, deshalb auch nie vollständig in diesen Eingang finden kann“. Diese auf Transzendenz bezogene Sinndimension der Kultur zu erschließen und zu entschlüsseln, bestimmt Gräb als die zentrale Aufgabe einer religionstheologischen Kulturhermeneutik. Kulturhermeneutik schließt dabei die populäre Kultur und damit auch die audiovisuelle Medienkultur mit ein, sie hat die alte und die moderne autonome Kunst ebenso im Blick wie Romane, Filme und Computerspiele. Mit seinem Programm einer theologischen Kulturhermeneutik hat Wilhelm Gräb der Praktischen Theologie neue Perspektiven eröffnet und der Theologe die Auseinandersetzung mit der Kultur ihrer Zeit unwiderruflich aufgegeben. Seine Impulse werden weiterwirken, er selbst wird fehlen. Dankbar für Vieles, Jörg Herrmann |
Artikelnachweis: https://www.theomag.de/141/jh49.htm |