In memoriam Wilhelm Gräb

Vor ein paar Jahren sprach mich in Karlsruhe eine Richterin an. Sie habe mit einem Kollegen neulich ein italienisches Restaurant besucht. Während sie ihre Pasta aßen, hätten am Nebentisch die ganze Zeit zwei Männer lautstark diskutiert, offensichtlich über einen umstrittenen, ihr unbekannten Theologen mit dem Namen Wilhelm Gräb. Ob ich ihr erklären könne, wer das sei und welche Bedeutung er habe. Ich konnte ihr das nicht mit wenigen Worten erklären. Ich versuchte es trotzdem und stieß mit meinen Erläuterungen auf erstauntes Interesse.

Vor wenigen Tagen ist der Berliner Praktische Theologe Wilhelm Gräb nach schwerer Krankheit verstorben. Mein Beileid und Mitgefühl gilt seiner Familie. Für Wilhelm Gräbs Leben gilt in besonderer Weise der Psalmvers: „Du stellst meine Füße auf weiten Raum.“ (Ps 31,9) In meiner Trauer bewegen mich viele persönliche Erinnerungen, von denen einige wenige hier mitgeteilt seien.

Ich lernte Gräb bei einer Tagung in Loccum in den Neunzigern kennen. Zusammen mit Dietrich Korsch, mit dem er damals eine theologische Denk- und Publikationsgemeinschaft bildete, verbrachten wir in der Galerie der Akademie einen langen, wunderbaren Abend, den wir dem Rotwein aus Israel und der theologischen Gegenwartslage widmeten. Wir haben in den folgenden Jahrzehnten immer wieder bei Tagungen zusammengearbeitet, in wechselnder Funktion, zu wechselnden Themen. Bei einer Tagung über den Philosophen Ernst Cassirer sprang er am Ende für den Hauptreferenten ein, der dann doch keine Lust gehabt hatte, nach Loccum zu kommen. Bei einer Tagung über Spener in der Berliner Nicolaikirche stritt sich Gräb mit denen, die über sein Konzept liberaler Theologie entsetzt waren. Bei einer Tagung zu Ehren seines im hohen Alter verstorbenen Vaters, der Pfarrer, Galerist und Vermittler zwischen Kunst und Theologie war, warb Wilhelm Gräb nochmals für sein theologisches Konzept, das Kunst, Religion und Glaube in der Perspektive liberaler Theologie miteinander verband.

In Berlin in den Nullerjahren fragte er an, ob wir – in für mich schwieriger Zeit – gemeinsam ein Seminar veranstalten könnten. Ich sagte zu, und es wurde ein gut besuchtes, theologisch gehaltvolles Seminar über Alltagsethik. Danach entstand der Plan, gemeinsam ein Handbuch der Alltagsethik herauszugeben, aber irgendwie waren für uns beide stets andere Aufgaben wichtiger. Der Plan wird sich nun nicht mehr realisieren lassen. Ich schrieb für seine Festschrift einen Essay über die theologische Bedeutung von Verkehrsregeln. Das war eines seiner wichtigen Themen: Religion im ganz Banalen entdecken und dabei den Humor nicht zu vergessen.

Ich glaube, er hat sich öfter über die Predigtmeditationen geärgert, die ich für die Predigtstudien schrieb. Diese gab er lange Jahre heraus. Einmal erhielt ich eine empörte Email, meine Predigten seien nur für den Kindergottesdienst geeignet. Wilhelm Gräb war streitbar, er störte sich wortgewaltig an Freunden und Feinden, wenn theologische Thesen nicht seinem Konzept liberaler Theologie entsprachen. Bei mir war das oft der Fall, aber das verhinderte nicht, dass wir, trotz großer geographischer Distanz nach den Berliner Jahren, im Gespräch blieben. Dieses Gespräch fing immer wieder neu an. Es macht die Größe von Gräbs Theologie aus, dass er seine Theologie im Gespräch, in Diskussionen und – wenn nötig – auch im Streit entwickelte.

Zuletzt sah ich ihn im Frühsommer 2022 bei einer Tagung in Kassel und Hofgeismar. Da war er schon von der Krankheit gezeichnet. Aber er wollte die umstrittene Documenta nicht verpassen und beteiligte sich nach den Rundgängen in Kassel an den Diskussionen mit den Studierenden in Hofgeismar. Am Ende der Tagung fuhren wir mit dem Bus zum Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe. Es war Sonntagmittag. In der Bahnhofshalle herrschte Lärm und Gedränge. Alle ICEs waren ausgefallen, und die Reisenden bemühten sich darum, ihre Anschlusszüge zu sichern. In diesem Gedränge verloren wir uns aus dem Blick.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/141/wv78.htm
© Wolfgang Vögele, 2023