Playlist Bildende Kunst

Andreas Mertin

Man kann für die Kunst keine Playlist aufstellen. Zwar ist Kunst anders denn als Spiel nicht zu verstehen, aber das Moment der Playlist opponiert der Kunst, weil es allzu sehr kulturindustriell durchdrungen ist. Die Gespräche vor Gemälden, die die Romantiker salonfähig gemacht haben, dienen dem subjektiven Erfahrungsaustausch und nicht dem Erstellen einer Bestenliste.

Natürlich gibt es Datenbanken wie Artfacts.net, die genau dies machen: die Besten der Besten aller Künstler:innen in eine Reihenfolge zu bringen und dabei noch einige Unterkategorien (Männer bzw. Frauen – lebend bzw. verstorben) zu berücksichtigen, aber wirklich überzeugen kann das nicht.

Die wahre Herausforderung aber entstand für mich, als wir uns in der Redaktion darauf einigten, dass man nur maximal zehn Objekte auf der Playlist aufführen soll. Ich könnte problemlos 100 Werke benennen, die einen Kosmos der Kunst bilden, aber bei 10 Werken wird es doch etwas willkürlich. Wenn man die 10 liebsten Werke nimmt, dann müsste man ja die eigene Kunstsammlung beschreiben, also die Objekte, die tagtäglich um einen herum sind. Wenn man über den Tellerrand hinausblickt, muss man ein Kriterium festlegen, nach dem man die Liste zusammenstellt. Ich platziere auf meiner Playlist also solche Werke, die mir zum Verstehen der Genese und Entwicklung der Kunst am Hilfreichsten waren. Und die Leser:innen werden feststellen, dass beinahe jedes dieser Werke im Magazin für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik in den letzten 25 Jahren auch eine Rolle gespielt hat.

Die Reihenfolge erfolgt nicht nach ihrer Bedeutung, sondern setzt schlicht chronologisch an. Deshalb eröffnet meine Playlist mit dem Beginn der bildnerischen Tätigkeit des Menschen vor 45.000 Jahren und endet mit einer zwölf Jahre alten audiovisuellen Arbeit von Shirin Neshat, in der sie die gesamte Kunstgeschichte noch einmal in den Blick nimmt.


1.           Chauvet / Lascaux [im Magazin]

Man kann die Bedeutung der Kunst m.E. nicht verstehen, wenn man nicht den frühesten Artefakten der Bildenden Kunst nachspürt. Anders als es Theodor W. Adorno noch in der Ästhetischen Theorie meinte, ist der Rekurs auf den Ursprung nicht verfehlt, sondern aufschlussreich. Auf meiner Studienreise durch Europa Ende der 70er Jahre war ich auch in der Altamira-Höhle und war damals sehr beeindruckt von dem, was die frühen „Künstler“ geschaffen haben. Für die Playlist war ich mir unsicher, ob ich mich auf die herausragenden Arbeiten in der Chauvet-Höhle beziehen soll, die vor Augen führen, was der Mensch zwischen 37.000 und 28.000 Jahren vor heute entwickelt hat, oder ob ich mich auf die ersten kulturellen Einbindungen dieser Bilder einige Jahrtausende später beziehen sollte, wie sie uns in der Höhle von Lascaux begegnen.

Ich habe mich nun für letzteres entschieden: es zeigt ein tödliches Zusammentreffen zwischen einem Rhinozeros und einem Wisent, das eine steinzeitliche Horde zur Jagd nutzt, dem dann aber ein „Schamane“ der Gruppe zum Opfer fällt. Ein 20.000 Jahre alter Krimi, bei dem nicht nur viel Blut fließt, sondern auch die Begabung der damaligen Menschen zur dramatischen Gestaltung deutlich wird.


2.           Die Synagoge von Dura Europos [im Magazin]

Mein zweites Werk auf der Playlist für Bildende Kunst ist ein ganzer Zyklus, der durch einen Zufall (bzw. militärisches Kalkül) bis ins 20. Jahrhundert nahezu unzerstört erhalten blieb. Er zeigt jene Zeitenwende, in der die jüdische Religion sich von ihrer strikt an-ikonischen Phase zu einer gemäßigten Bilderfreundlichkeit wandelt, was das Christentum ermutigt, es ihr nachzutun. Wir befinden uns Anfang des dritten Jahrhunderts nach Christus in Duro Europas, einem Grenzort zwischen dem römischen Reich und dem Reich der Sassaniden.

Und hier hat die jüdische Gemeinde ein früheres Privatquartier zu einer reich mit Bildern ausgestatteten Synagoge umgebaut. Dabei spielt die Figur des Moses eine besondere Rolle, weil das Exil das Denken der jüdischen Bürger:innen bestimmte. Die Kunst, die dabei geschaffen wird, ist die beste der damaligen Zeit und im avantgardistischen Stil gehalten, weshalb die Figuren frontal auf die Betrachter:innen blicken. Der Zyklus gilt als der größte erhaltene Bilderzyklus der Antike.


3.           Christus-Ikone vom Sinai

Mein drittes Werk auf der Playlist hätte die erste erhaltene Kreuzigungsdarstellung in der Geschichte der Christenheit sein können, eine kleine Elfenbeintafel (heute im britischen Museum) aus dem Jahr 420. Aber viel wirkungsmächtiger und deshalb bedeutender ist die Christus-Ikone aus dem Katharinen-Kloster auf dem Sinai. Und zwar aus mehreren Gründen. Vor allem greift sie noch einmal subtil die nun entschiedenen christologischen Streitfragen der frühen Christenheit auf: Einerseits sehen wir einen Gestorbenen, der dennoch lebt (das gelingt durch den Rückgriff auf die Mumienporträts in ägyptischer Tradition). Andererseits sehen wir  eine Figur, die sowohl Züge des Vaters (vom Betrachter aus gesehen rechte Gesichtshälfte) wie des Sohnes (linke Gesichtshälfte) in einer einzigen Gestalt zeigt. Das wird deutlich, wenn man die Gesichtshälften spiegelt.




4.           Giotto – Scrovegni-Kapelle [im Magazin]

Auch beim vierten Werk war ich unsicher, wofür ich mich genau entscheiden sollte, denn ich schwankte zwischen Giottos Kruzifix in Santa Maria Novella in Florenz und Giottos Ausgestaltung der Scrovegni-Kapelle in Padua. Ich habe mich dann für letztere entschieden, weil sie so überzeugend den Beginn der neuen Kunst in einem komplexen Kosmos zeigt. An diesem Ursprungsort der modernen Kunst, an dem diese sich anschickt, aus der reinen religiösen Auftraggeberschaft herauszutreten, kann man Panel für Panel eine neue Gestaltungsform entdecken, die sich am Maß des Menschlichen orientiert. Zwar bleibt Giotto dem religiösen Kosmos unmittelbar verbunden, aber er gestaltet ihn so aus, dass der Mensch das Kriterium der Plausibilität des Wahrgenommenen bildet. Anders als sein Lehrer Cimabue, die die Bilder so gestaltete, dass sie als unvollkommene Abbilder des vollkommen Intelligiblen gelesen werden können, stellt Giotto die Logik vom Kopf auf die Beine: erfahrbar ist nur, was sich aus der Lebenswelt der Menschen ablesen lässt.


5. Masaccio – Trinitätsdarstellung [im Magazin]

Für den fünften Listenpunkt kamen zwei Werke des Künstlers Masaccio infrage: soll ich die Brancacci-Kapelle in Florenz nehmen oder die Trinitätsdarstellung in Santa Maria Novella in Florenz? Aber so sehr ich die Darstellungen Masaccios in der Brancacci-Kapelle auch schätze, so ist nach meiner Kriteriologie, wonach es um epochemachende Kunstwerke geht, die Trinitätsdarstellung vorzuziehen. Zum ersten Mal wird „Gott“ von Künstlern in der Welt verortet, wird ihm perspektivisch ein Maß zugewiesen. Zwar ist dieser – wie Kunsthistoriker überzeugend dargelegt haben – bewusst schwebend gestaltet, aber dennoch bleibt der künstlerisch provozierte Skandal, dass sich Gott nun in der Welt verorten lässt.

Noch das dem Kosmonauten Gagarin zugeschriebene Zitat „Ich war im All und habe Gott nicht gefunden“ rekurriert auf ein Modell der Verortbarkeit Gottes. Das zweite, oft übersehene Element auf Masaccios Trinitätsfresko ist die erste virtuelle Darstellung eines menschlichen Skeletts, ein Motiv, das später andere Künstler wie etwa Hans Holbein in seinem Werk „Die Gesandten“ aufgreifen wird.


6.           Jan van Eyck, Der Kanonikus van der Paele [im Magazin]

An Jan van Eycks Genter Altar scheint kein Weg vorbei zu führen, zu bedeutsam ist seine komplexe Darstellung der populären Allerheiligenprozession in Gent. Es ist ein Kunstwerk, das schon im 15. und 16. Jahrhundert die Künstler nach Flandern zog (u.a. Albrecht Dürer).

Aber ich entscheide mich dann doch für ein anderes Werk desselben Künstlers, nämlich das berühmte Bild mit dem Kanonikus van der Paele. Dieses Bild müsste man eigentlich in 100facher Vergrößerung betrachten, denn hier sind besonders die Details wichtig. Ein Kunsthistoriker hat zu diesem Bild geschrieben: Ohne Brille sieht man besser! Das bezieht sich auf die Imagination der Bedeutung Christi. Aber es lassen sich viele weitere künstlerische und theologische Beobachtungen machen. Was spiegelt sich in der Rüstung der rechten Figur, wofür steht der Papagei und der Blumenstrauß in den Händen des Jesuskindes, was bedeutet das mit Kerzen versehene Rad in der Hand der linken Figur? Und überhaupt: welche Architektur sehen wir auf dem Bild? Eine Herausforderung für alle Betrachter:innen.


7.           Hans Holbein, Die Gesandten [im Magazin]

Kann man ein Bild auf die Playlist setzen, das man noch nicht im Original gesehen hat? Widerspricht das nicht den Kriterien, die man für eine Playlist aufstellt? Aber in dieser Playlist gibt es einige Werke, die ich noch nicht im Original gesehen habe.

Aber zumindest virtuell ist mir jeder Pixel des folgenden Bildes gegenwärtig, weil Google es unter seinen Gigapixel Bildern zugänglich gemacht hat. Und das braucht man bei diesem Bild auch. Die Rede ist von dem Gemälde „Die Gesandten“ von Hans Holbein, das nicht nur eine wissenspolitische Botschaft hat, sondern auch eine kirchenpolitische und nicht zuletzt eine existenzielle. „Bestimmte Details könnten als Hinweise auf zeitgenössische religiöse Spaltungen interpretiert werden. Die gebrochene Lautensaite zum Beispiel kann religiöse Zwietracht bedeuten, während das lutherische Gesangbuch ein Plädoyer für christliche Harmonie sein kann. Im Vordergrund steht das verzerrte Bild eines Schädels, ein Symbol der Sterblichkeit. Bei Betrachtung von einem Punkt rechts vom Bild wird die Verzerrung korrigiert.“


8.           Caravaggio, Der ungläubige Thomas

An Caravaggio wiederum führt kein Weg vorbei, die Frage ist allein, welches seiner Werke man auswählt. Meine Wahl fiel auf den „Ungläubigen Thomas“ (Google Gigapixel), obwohl bei der Erwerbung durch den preußischen König das Bild als minderwertig (im Vergleich zu anderen Werken des Künstlers) eingestuft wurde.

Aber das Bild hat in seiner Handgreiflichkeit eine fulminante Wirkungsgeschichte bis in die Kunst und Populärkultur der Gegenwart.

Die Gruppe R.E.M. etwa übersetzt das Werk in ihrem Video zu „Losing my religion“ in eine Liveperformance [Es scheint, als habe die Gruppe dieses Motiv aktuell aus dem Musikvideo bewusst herausgeschnitten].

Andere zeitgenössische Künstler übersetzen das Werk in eine Algorithmen-basierte Netzstruktur. Jedenfalls hat es bis in die Gegenwart seine brisante Bedeutung bewahrt.


9.           Jacob Jordaens, Moses [im Magazin]

Eigentlich hätte ich für diesen Listenpunkt an den Anfang des 19. Jahrhunderts springen müssen, etwa zu Caspar David Friedrichs „Mensch am Meer“, aber aus identitätspolitischen Gründen habe ich mich für ein weiteres Werk aus dem Barock entschieden. Ich wähle das Bild „Mose und seine äthiopische Frau“ von Jacob Jordaens, weil es so reich an identitätspolitischen und theologischen Aspekten ist und zugleich künstlerisch diese Fragen so raffiniert aufbereitet. Im Kern besagt das Bild, dass nicht nur für Moses der uneingeschränkte Zugang zu Gott nur gewährleistet ist, wenn man die menschliche Diversität achtet. Deshalb sehen wir auf der linken Seite den Glanz Gottes (seinen Kabod), dann die schwarze Frau des Mose, dann Mose selber und schließlich die Gesetzestafeln. Rechts davon muss man sich dann noch Miriam und Aaron und das Volk denken. Das ist ein identitätspolitisch starkes und überzeugendes Bild, ganz anders als viele andere Bilder der Zeit, die den kolonialen Stereotypen erliegen.


10.        Shirin Neshat, Before my eyes, 2011 [im Magazin]

In der Videoarbeit, die Shirin Neshat 2011 angesichts des scheiternden arabischen Frühlings in der New York Times unter dem Titel „Summer“ veröffentlicht hat, arbeitet sie in einer Souveränität sondergleichen mit dem visuellen Material der Kunstgeschichte. Die Konstruktion ist so, dass wir in assoziationsreichen  symbolischen Bildern auf der rechten Seite die Geschehnisse im Nahen Osten verfolgen, wir sehen, wie eine Welt in Flammen gerät und ein Steppenbrand entsteht. Dieses Motiv spiegelt sich dann in einem menschlichen Auge auf der linken Seite des Videos und wird so zu einem Erkenntnisprozess. Die Betrachter:innen stehen nicht außen vor, sie sind selbst Teil des Geschehens. Shirin Neshat schreibt zu ihrem Video:

Wenn der Frühling zu Ende geht, trauern wir um das, was wir verloren haben, und schätzen, was wir gewonnen haben. Wir messen den Aufstieg und Fall unserer Hoffnungen im Nahen Osten und erinnern uns an das katastrophale Erdbeben in Japan – eine Naturkatastrophe, die zu einer menschlichen Katastrophe wurde. Während wir in eine neue, ungewisse Jahreszeit eintreten, ist unser Ziel unbekannt, aber wir reisen gegen die Flammen der Angst in Richtung des Versprechens einer besseren Zukunft.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/142/am781.htm
© Andreas Mertin, 2023