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Cancel Culture Die Fragen des ungläubigen ThomasKönnen / Dürfen Musiker:innen nachträglich in Musikvideos eingreifen?Andreas Mertin
Aber im vorliegenden Fall war das Video ja schon 20 Jahre lang ausgestrahlt worden, ohne dass es irgendwelche Proteste gegeben hatte. Kann es sein, dass R.E.M. tatsächlich vor 11 Jahren so alt ist der Upload im Kanal von R.E.M. sich dazu entschieden hat, die kleine Bildsequenz herauszunehmen? Und warum? Das ist erklärungsbedürftig, denn es erscheint als ein völlig unmotivierter Einschnitt.
Als Theologe fühlt man sich natürlich gleich an exegetische Studien erinnert, denn Bibeltexte wurden ja auch verschiedenen Bearbeitungen unterworfen, die heute mühsam rekonstruiert werden müssen. Aber was hat sich in den 20 Jahren seit der Erstveröffentlichung von „Losing my religion“ verändert, dass das Video dann etwa um 2012 zensiert und ein ikonisches Motiv der Kunstgeschichte explizit herausgeschnitten bzw. überblendet wurde? Die Erzählung des Vorgangs ist ja 1900 Jahre alt, das Bild von Caravaggio immerhin 420 Jahre wo liegt also der Skandal? Was motiviert R.E.M. in das eigene Musikvideo einzugreifen, obwohl es ja selbst inzwischen ikonisch ist? Ich weiß es nicht, empfinde es als Skandal, dass dieser Eingriff erfolgt ist auch deshalb, weil es nicht begründet oder erläutert wird. Es kann ja kaum die scheinbare Gewalt des Vorgangs sein, da gibt es auf Youtube ganz andere Musikvideos, die Anstoß erregen könnten. Wenn man sich aber vom Künstler Caravaggio distanzieren wollte, hätte man gleich ein neues Video drehen müssen, so häufig kommt er darin vor. Das geschieht aber nicht. So könnte es tatsächlich darum gehen, exakt dieses „Bohren in der Wunde“ Jesu nicht mehr vor Augen geführt zu bekommen. Wie peinlich, dafür das eigene Werk zu zerschnippeln. Auf der anderen Seite wäre dies ein gutes Beispiel, anhand dessen Theolog:innen im Studium anschaulich Textkritik, Überlieferungskritik etc. an einem popkulturellen Beispiel lernen könnten. Wenn man zwei unterschiedliche Fassungen des Videos zur Hand hat, kann man sie miteinander vergleichen und die Differenzen feststellen und dann entscheiden, was die originäre Variante ist und welches Video eine spätere Bearbeitung ist. Warum soll das, was man im theologischen Studium lernt, nicht auch bei der Analyse von Musikvideos helfen. Beide Versionen lassen sich leicht Hier sehen Sie die beiden Videovarianten auf den Bildspuren im VSDC Video Editor übereinandergelegt, oben findet sich die neue Variante mit den eingeblendeten Wiederholungen, darunter die ursprüngliche Variante mit den beiden herausgeschnittenen Szenen, die auf Caravaggios „Ungläubiger Thomas“ anspielen. Bei der neuen Version handelt es sich um eine sogenannte „digitally remastered“ Version. Das merkt vor allem bei Vimeo an der deutlich besseren Bildqualität. Aber das liefert keinen Grund, warum Inhalte entfernt wurden und dann auch noch so stümperhaft, wenn man sich die wiederholte Gestik anschaut.
Der Skandal kann also nur darin liegen, dass das Wühlen in der Seitenwunde Jesu selbst als anstößig empfunden wurde und deshalb aus dem Video getilgt werden musste. Dann müssen wir uns aber fragen, was als nächstes der Zensur zum Opfer fällt. Ist nicht auch die Kreuzigung Jesu ein derartig gewaltsamer Akt, dass er aus populärkulturellen Erzeugnissen getilgt werden müsste? Da muss man ja Angst um manchen berühmten Videoclip haben. |
Artikelnachweis: https://www.theomag.de/142/am784.htm |