Cancel Culture – Die Fragen des ungläubigen Thomas

Können / Dürfen Musiker:innen nachträglich in Musikvideos eingreifen?

Andreas Mertin

Es war ein Zufall, dass ich darauf gestoßen bin. Für die aktuelle Ausgabe von Tà katoptrizómena suchte ich nach einem Beleg für die Aktualität von Caravaggios Gemälde „Der ungläubige Thomas“ und erinnerte mich an ein Musikvideo von R.E.M., in dem diese diversen Werken von Caravaggio, aber auch von Rembrandt, Pierre & Gilles und Magritte nachgegangen waren. Aber, so meinte ich mich wenigsten zu erinnern, eben auch dem Werk „Der ungläubige Thomas“. Also rief ich den Kanal der Gruppe R.E.M. auf, wählte das Lied „Losing my religion“, starte es und warte auf den Moment, indem das berühmte Gemälde von Caravaggio erscheint. Allein, es tauchte nicht auf. Und ich war mir zu 100% sicher, dass es vorkommen musste, ich hätte den bohrenden Finger des Thomas im Leib des als alter Mann dargestellten Christus sofort zeichnen können. Aber – er war nicht da. Wieder und wieder schaute ich mir den Clip an, aber es half nichts. Es gab diese Szene nicht. Sollte mein visuelles Gedächtnis mich getäuscht haben? Der Blick in frühere Veröffentlichungen von mir zu diesem Clip zeigten mir aber, dass es die Szene geben muss, dass ich mich also nicht getäuscht habe. Warum tauchte sie dann nicht im Video auf dem Kanal von R.E.M. auf? Also schaute ich noch einmal hin und stellte fest, dass eine Szene in der jetzigen Fassung des Videos mehrfach vorkommt, exakt dort, wo ich den Caravaggio des ungläubigen Thomas erwartet hätte. Er war offenbar für die aktuelle Fassung herausgeschnitten und durch eine Wiederholung ersetzt worden. Aber warum?

Nun war es in früheren Zeiten nicht unüblich, dass zum Beispiel MTV darauf bestand, dass bestimmte evtl. verstörende Szenen entfernt wurden (Madonna soll viele Probleme mit der herausgestreckten Zunge in Bedtime Story gehabt haben, weil bei manchen Religionen die Seele auf der Zunge sitzt), dafür hatte der Sender eine eigene „Zensur“-Abteilung, denn man wollte die Videos ja weltweit ausstrahlen.

Aber im vorliegenden Fall war das Video ja schon 20 Jahre lang ausgestrahlt worden, ohne dass es irgendwelche Proteste gegeben hatte. Kann es sein, dass R.E.M. tatsächlich vor 11 Jahren – so alt ist der Upload im Kanal von R.E.M. – sich dazu entschieden hat, die kleine Bildsequenz herauszunehmen? Und warum? Das ist erklärungsbedürftig, denn es erscheint als ein völlig unmotivierter Einschnitt.

Die uns hier interessierende Szene eröffnet nach 2 Minuten und 22 Sekunden im Clip, wir sehen zunächst eine Dreier-Konstellation von Männern, die dann im originalen Clip überblendet wird in eine Vierer-Konstellation, die das berühmte Vorbild von Caravaggio ziemlich genau nachstellt. In der aktuellen Version auf dem Kanal von R.E.M. fehlt diese Szene. Stattdessen wird zunächst eine ältere Szene wiederholt, dann folgt eine Szene, in der der Bandsänger Stipe vor einem Fenster singt (eine Hommage an Rene Magritte), und dann kommt zum dritten Mal die ältere Szene. Erst danach (ab 2:30) gleichen sich Original und Überarbeitung bis zum Schluss. Es geht also nur um 8 Sekunden des Clips, die nachträglich verändert wurden.

Als Theologe fühlt man sich natürlich gleich an exegetische Studien erinnert, denn Bibeltexte wurden ja auch verschiedenen Bearbeitungen unterworfen, die heute mühsam rekonstruiert werden müssen.

Aber was hat sich in den 20 Jahren seit der Erstveröffentlichung von „Losing my religion“ verändert, dass das Video dann etwa um 2012 zensiert und ein ikonisches Motiv der Kunstgeschichte explizit herausgeschnitten bzw. überblendet wurde? Die Erzählung des Vorgangs ist ja 1900 Jahre alt, das Bild von Caravaggio immerhin 420 Jahre – wo liegt also der Skandal? Was motiviert R.E.M. in das eigene Musikvideo einzugreifen, obwohl es ja selbst inzwischen ikonisch ist?

Ich weiß es nicht, empfinde es als Skandal, dass dieser Eingriff erfolgt ist – auch deshalb, weil es nicht begründet oder erläutert wird. Es kann ja kaum die scheinbare Gewalt des Vorgangs sein, da gibt es auf Youtube ganz andere Musikvideos, die Anstoß erregen könnten. Wenn man sich aber vom Künstler Caravaggio distanzieren wollte, hätte man gleich ein neues Video drehen müssen, so häufig kommt er darin vor. Das geschieht aber nicht. So könnte es tatsächlich darum gehen, exakt dieses „Bohren in der Wunde“ Jesu nicht mehr vor Augen geführt zu bekommen.

Wie peinlich, dafür das eigene Werk zu zerschnippeln.


Auf der anderen Seite wäre dies ein gutes Beispiel, anhand dessen Theolog:innen im Studium anschaulich Textkritik, Überlieferungskritik etc. an einem popkulturellen Beispiel lernen könnten. Wenn man zwei unterschiedliche Fassungen des Videos zur Hand hat, kann man sie miteinander vergleichen und die Differenzen feststellen und dann entscheiden, was die originäre Variante ist und welches Video eine spätere Bearbeitung ist. Warum soll das, was man im theologischen Studium lernt, nicht auch bei der Analyse von Musikvideos helfen.

Beide Versionen lassen sich leicht
auf Youtube
[aktuelle Fassung] [ursprüngliche Fassung]
oder bei Vimeo finden [aktuelle Fassung] [ursprüngliche Fassung]

Hier sehen Sie die beiden Videovarianten auf den Bildspuren im VSDC Video Editor übereinandergelegt, oben findet sich die neue Variante mit den eingeblendeten Wiederholungen, darunter die ursprüngliche Variante mit den beiden herausgeschnittenen Szenen, die auf Caravaggios „Ungläubiger Thomas“ anspielen.

Bei der neuen Version handelt es sich um eine sogenannte „digitally remastered“ Version. Das merkt vor allem bei Vimeo an der deutlich besseren Bildqualität. Aber das liefert keinen Grund, warum Inhalte entfernt wurden – und dann auch noch so stümperhaft, wenn man sich die wiederholte Gestik anschaut.

Inzwischen haben wir uns ja beinahe schon daran gewöhnt, dass missliebig gewordene Schauspieler:innen aus Filmen oder Fotos getilgt werden. Aber historische Kunstwerke oder Anspielungen darauf? Wären wir im Jahr 1987 könnte man meinen, ein amerikanischer Senator wie Jesse Helmes habe wie bei Andrew Serranos „Piss Christ“ dagegen protestiert, dass für ein kulturindustrielles LGPT-Stück wie „Losing my religion“ ein bedeutendes religiöses Kunstwerk missbraucht wird. Aber das müsste dann auch andere Teile des Videos betreffen.

Der Skandal kann also nur darin liegen, dass das Wühlen in der Seitenwunde Jesu selbst als anstößig empfunden wurde und deshalb aus dem Video getilgt werden musste. Dann müssen wir uns aber fragen, was als nächstes der Zensur zum Opfer fällt. Ist nicht auch die Kreuzigung Jesu ein derartig gewaltsamer Akt, dass er aus populärkulturellen Erzeugnissen getilgt werden müsste? Da muss man ja Angst um manchen berühmten Videoclip haben.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/142/am784.htm
© Andreas Mertin 2023