Ernsthaft: Toxische Kunst?

Notizen zu Bild-Sprachen und Sprach-Bildern II

Andreas Mertin

Eine toxische Zumutung … der Zusammenhang von toxischer Theologie und toxischer Kunst … Kunst von einer toxischen Theologie durchdrungen … die toxische Macht dieser Kunst … alles erkennbar Toxische entfernen

So viel Toxisches auf nur wenigen Zeilen. Hildegund Keul fragt auf katholisch.de, wie man mit Kunstwerken von Menschen umgehen soll, die als Missbrauchstäter beschuldigt werden.[1] Und sie kommt zu dem Schluss, es sei „eine toxische Zumutung“, diese Werke ertragen zu müssen. Sie fragt, ob es einen Zusammenhang zwischen Tätern, ihrer Theologie und ihren Kunstwerken gibt und ob dieser Zusammenhang nicht gerade im Toxischen liege. Sie meint auch, man könne daher auch von einer „toxischen Macht“ der Kunst sprechen, die dazu zwinge, derartige toxische Kunstwerke von Missbrauchsbeschuldigten aus Kirchen zu entfernen. Nun kann man fragen, was diese attributive Flut von „toxisch“ überhaupt soll. Reicht es nicht zu sagen, die Begegnung mit dem Werk sei eine Zumutung, muss es gleich eine toxische sein? Was hilft das? Ist jemand, der diese Zumutung erfahren muss, anschließend vergiftet? Sicher nicht.[2] Was soll dann das Adjektivattribut? Und was soll eine toxische (= giftige) Zumutung überhaupt sein? Hier wird so viel als „toxisch“ bezeichnet, dass man sich fragt, wo es denn nun konkret zu verorten ist: bei der Theologie, der Kunst, der Wahrnehmung der Kunst oder vielleicht doch im konkreten Fehlverhalten eines Mannes? Meine Befürchtung ist: Weil man das Urteil der Leser:innen vorab lenken will, verunklart man das eigentliche Verbrechen. Letztlich geht es, das ist meine These, um eine Form der Voldemortisierung: es geht um den, dessen Name nicht genannt werden darf, also um eine mythische Beschwörung, die aber jenen im Bewusstsein hält, der doch vergessen werden soll.

Nicht eine Sekunde freilich macht die Autorin deutlich, worin konkret das „Gift“ der Kunst liegt, die hier gebannt werden soll. Toxisch ist diese offenbar, weil sie aus der Hand eines Menschen stammt, der eines sexuellen Verbrechens bezichtigt, angeklagt oder auch verurteilt wurde.[3] Und irgendwie überträgt sich dieses Toxische anschließend oder nachträglich auf die Kunstwerke, quasi ein negativer Midas-Effekt.[4] Was immer der Betreffende angefasst hat, muss gebannt werden. Und allein der Umstand, dass jemand wissen könnte, dass das konkrete Werk von dem Täter hergestellt wurde, erzwinge zumindest im Raum der Kirche einen Bildersturm. Das ist archaisches Denken. Und ich fürchte darüber hinaus, die Autorin weiß gar nicht, wie viele Kunstwerke bei konsequenter Anwendung dieser doch sehr ausgreifenden Regel aus katholischen Kirchen und Museen entfernt werden müssten. Ich will nicht sagen, dass die vatikanischen Museen danach leer wären, aber bei strenger Auslegung von „Missbrauch“ liefe es wohl darauf hinaus.

Letztlich sehe ich darin dingmagisches Denken – aber als Protestant sollte ich vielleicht nicht kritisch über Vorstellungswelten urteilen, die mir fernliegen und auch nicht von mir nachvollzogen werden können. Ich glaube nämlich nicht, dass, wenn ein Verbrecher eine mathematische Formel aufstellt, diese tabuisiert werden sollte, nur weil sie dem Gehirn eines Verbrechers entsprungen ist. Ich glaube auch nicht, dass man Kunstwerke tabuisieren sollte, wenn oder weil sie aus der Hand eines Kriminellen oder Tatverdächtigen stammen – es sei denn, man könnte dessen Verbrechen als durch seine Kunst oder in seiner Kunst legitimiert ansehen. Das ist aber in den seltensten Fällen gegeben. In der Regel wird gar nicht erst versucht, das Toxische in der Kunst nachzuweisen, sondern es wird nur etikettiert. Als toxisch erscheint Kunst, weil der Urheber als toxisch gelabelt ist – und weil man sich von seinen Werken an ihn erinnert fühlen könnte.

Ich kann nicht sehen, dass diese Form der kulturellen Verdammung im Sinn der Voldemortisierung jemals Teil der biblischen Theologie gewesen ist, ganz im Gegenteil. Sie hat zwar die Sündhaftigkeit von Menschen benannt, diese aber nicht ausgegrenzt. Es mag ein durch und durch erschreckender Gedanke sein, dass wir in der Kirche und in vielen Kirchengebäuden mit Kunst konfrontiert sind, die von sündigen oder verbrecherischen Menschen stammt, aber bisher gehörte es zu den wichtigen Errungenschaften der jüdisch-christlichen Kultur, zwischen Werk und Urheber zu unterscheiden. König David war nach der biblischen Überlieferung ein Bandenführer, ja Kriegsverbrecher, der nach heutigen Begriffen systematisch sexuelle Gewalt ausübte (1 Sam 18, 27), ein Ehebrecher und Mörder – was uns nicht daran hindert, in unseren Gottesdiensten seine Lieder als Texte zu verwenden. Dadurch rechtfertigen wir seine Taten keinesfalls, wie differenzieren nur. David bleibt Sünder, gerade auch in biblischer Perspektive. Aber er wird nicht der Voldemortisierung unterzogen, denn das wäre nach biblischen Vorstellungen inhuman. Dort heißt es: Erinnere Dich!

Und das ist nicht das einzige Beispiel in der Bibel. Jesu Anrede an sein Gegenüber „Geh hin und sündige nicht mehr“ setzt ja voraus, dass Jesus sich den Sünder:innen zuwandte und sie für besserungswürdig hielt, auch wenn dieses Verhalten bei den Jüngern Befremden auslöste.

Die Not der Menschen, die Opfer eines Verbrechens geworden sind, darf nicht bagatellisiert werden. Wir erfahren das Problem gerade, wenn Opfer des russischen Angriffskrieges darauf bestehen, nirgendwo russischer Kultur zu begegnen. Das ist einerseits nachvollziehbar, andererseits auch problematisch. Und in Deutschland sollte man sich fragen, was das für die weltweite Wahrnehmung deutscher Kultur bedeutet hätte – nach zwei von den Deutschen begonnenen Weltkriegen mit Millionen von Toten. Jene, deren Name nicht genannt werden darf.

Und was hätte ein solches Denken für Folgen für die gesamte europäische Kunst, wenn wir jüdische Bürger:innen nach Auschwitz dazu befragen würden? Tatsächlich stellt Günther Anders diese Frage, beantwortet sie nur humaner. Angesichts der Renaissance-Kultur schreibt er:

„Nein, «meines» war, was dazwischenlag, niemals gewesen und niemals geworden. Und dass es das je werden wird, ist unmöglich. Unmöglich deshalb, weil es eine Welt war, die es mir, oder meinen jüdischen Vorfahren, niemals erlaubt hätte, Europäer zu werden; weil mir erst das Europa der Menschenrechte, das Europa des Deismus, das Europa der Toleranz – in den Augen vieler Europäer also das degenerierte Europa – Teilnahme ermöglicht hat.“[5]

Und dennoch setzt er sich mit einer Intensität sondergleichen mit dieser Kunst und Kultur der Renaissance auseinander. Er verklärt sie dabei nicht, aber er verwirft sich auch nicht.

Aber selbstverständlich gibt es das Recht eines Opfers, darauf zu beharren, dass der Täter dem Vergessen anheimgegeben werden solle.[6] Letztlich kann man es verstehen, als Ausdruck der „Sehnsucht danach, dass der Mörder nicht über das unschuldige Opfer triumphieren möge" (Max Horkheimer). Aber es ist kein Rechtssatz, der so formuliert werden könnte, sondern es ist Teil eines Fluchs. Nun stellt sich die Frage, ob daraus ein Prinzip gemacht werden sollte, insbesondere durch die, die gar nicht Opfer sind, sondern die Perspektive der Opfer nur einnehmen oder das Geschehen kommentierend begleiten. Denn sie müssen nun gnadenloser sein, als es Gott nach der religiösen Überlieferung im Jüngsten Gericht ist. Wer meint, er gebe den Opfern Menschlichkeit, indem er dem Täter seine nimmt, macht sich in letzter Instanz dem Täter gleich.[7]

Toxische Kunst?

Vielleicht sollte man darüber hinaus fragen, ob Begriffe wie „toxische Kunst“ nicht außerordentlich problematisch sind. Mir kommt bei derartigen Etiketten sofort die „entartete Kunst“ in den Sinn. Jedes Mal wird darauf verzichtet, zu spezifizieren, was „toxisch“, was „entartet“ am Kunstwerk sein soll. Vielmehr wird das Kunstwerk einfach als toxisch etikettiert, um es zu tabuisieren, weil man ihre Urheber für problematisch hält. Das ist aber totalitäres Denken.

Ich will aber nun gar nicht bestreiten, dass es tatsächlich in den Kirchen und Museen auch eine toxisch zu nennende Kunst gibt. Ich halte fast alle Abendmahlsbilder des Christentums, die mit einer Herabsetzung des Judas einhergehen und ihn mit gelber Kleidung hervorheben, für derart toxische Kunst. Sie bereitete Auschwitz den Weg. Oder denken wir an all die Ecclesia- und Synagoge-Darstellungen, die vergleichbares Gift in die Welt tragen. Hier kann man en Detail in den Bildern das Gift nachweisen. Wenn dann auf den Kunstwerken so getan wird, als würde Gott der Synagoge als Repräsentantin des Judentums ein Schwert in den Hals rammen, um ihre historische Überholtheit zu demonstrieren, dann ist das toxisch – in mehrfachen Sinn. Es zeugt vom Judenhass der Künstler:innen und ihren Auftraggeber:innen, es vergiftet bewusst durch die Darstellung die Betrachter:innen und schürt damit ihren Judenhass und es führt zu tödlichen Folgen für die jüdische Gemeinde. All das ist gut belegt. Das wäre für mich toxische Kunst, von der man zuallererst fragen müsste, wie gehen wir künftig damit um?

Es gibt in der Kunst auch Artefakte, die Frauen herabsetzen, die sie zum Ausstellungs- und Lustobjekt degradieren. Der Künstler und Schriftsteller John Berger hat darüber schon vor einem halben Jahrhundert in seiner klugen kleinen Schrift „Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt“ geschrieben.[8] Darüber kann und muss man lange diskutieren. Hier wird der Weg über die konsequente Thematisierung und Kommentierung der sexistischen Inhalte gehen müssen.

Das ist aber eine ganz andere Frage als die nach der nicht-toxischen Kunst von toxischen Männern, also Kunst, der man keine Herabsetzung von Menschen nachweisen kann, sondern deren Problem ist, dass sie von Männern stammt, die Verbrechen an Frauen begangen haben.

Cancel Culture – Bildersturm ‚toxischer Kunst‘?

Wir gewöhnen uns seit einem Jahrhundert fatalerweise an den Gedanken, dass Kunstwerke, die von Menschen stammen, die uns – manchmal aus guten, häufiger aber auch aus absolut fadenscheinigen Gründen – nicht passen oder als nicht passend vorgestellt werden, einfach entfernt oder sogar zerstört werden können. Legitimiert wird das häufig durch den Verweis auf das Verhalten, die Haltung oder auch durch die ethnische Zugehörigkeit des jeweiligen Menschen.

  • Es fing mit Kunstwerken von Vincent van Gogh an, die man nicht in Deutschland und vor allem nicht in deutschen Kunstinstitutionen haben wollte, weil sie Ausdruck „welscher“, also französischer Kunst seien. Und welsche Kunst war als Kunst des deutschen ‚Erbfeindes‘ den Deutschen nicht zumutbar. Da kümmerte es keinen, dass Vincent van Gogh ja Niederländer war, seine Kunst assoziierte man einfach mit Frankreich. Und seiner Kunst selbst war wenig, was man ablehnen konnte (Privatiers wie Karl Ernst Osthaus erwarben in gleicher Zeit Werke van Goghs für ihre Sammlungen), es ging um nationale Symbolpolitik. Bloß keine Franzosen!
  • Es fand seinen Tiefpunkt mit der Verwerfung der „bolschewistisch-jüdischen Kunst“ als „entartete Kunst“ durch die Nationalsozialisten und ihre Anhänger. Wie man an der gleichnamigen Ausstellung sehen konnte, ging es auch hier vorrangig um Symbolpolitik, um die Zerstörung des Anderen. Der Volkskörper musste rein gehalten werden von diesem Gift.
  • Es setzte sich in der Zeit der Sowjetunion und ihrer Bündnisstaaten fort mit der Verwerfung der bürgerlichen Kunst, die als Kunst des Klassenfeindes denunziert wurde.
  • Und seit einiger Zeit wird nun unter identitätspolitischen Aspekten die Säuberung der Museen von unpassender und unkorrekter Kunst gefordert. Da kann es um rassistische Kunst gehen oder um sexistische Darstellungen, aber auch um ein unausgewogenes Verhältnis von weißer und nicht-weißer Kunst.

Jedes Mal geht es um die „Säuberung des Kunsttempels“[9] vom Unerwünschten. Nach 1945 reagierte man darauf, und erklärte die freie Kunstausübung zu einem Grundrecht des Menschen. Heute ist Kunst – und das gilt nicht nur für zeitgenössische Kunst – durch unsere Verfassung geschützt, sie ist keine symbolpolitische Manövriermasse für eine moralisch saubere Welt. Die Lösung kann also nicht im Beiseiteschaffen unerwünschter Kunst liegen.

Natürlich kann man sich unter Berufung auf sein Gewissen für einen Bildersturm entscheiden, der dann aber mehr sein muss als bloße Symbolpolitik und der auch nicht an Hierarchien delegiert werden kann. Dieser Bildersturm muss dann vor Gericht untersucht werden. Alternativ müsste man problematische Werke entsprechend dem jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Wittenberger Judensau angemessen kommentieren und kontextualisieren. Das gilt aber immer nur für die Fälle, in denen Form und Inhalt der Kunst gegen bestimmte ethische und rechtliche Standards verstoßen. Es gilt nicht für die Fälle, in denen die Kunst gar nicht problematisch ist, sondern nur ihre Urheber:innen. Gegen Kunst von Menschen vorzugehen, die einem nicht passen, dafür gibt es in einer liberalen Gesellschaft keine Legitimation.

Die inkriminierten ‚Kunstwerke‘

Die erste Frage, die untersucht werden müsste, wäre, ob es sich überhaupt um Kunst handelt. Denn Kunst ist nicht ein Etikett, das man seit der Ausdifferenzierung in der Moderne einfach auf ein Objekt kleben kann, es bedarf nachvollziehbarer Begründungen innerhalb des spezifischen Betriebssystems Kunst. Im vorliegenden Fall ist der Kunstcharakter der Objekte im Betriebssystem Kunst zweifelhaft. Bei allen von der Autorin erwähnten Beispielen handelt es sich um Gebrauchskunst bzw. um Kunsthandwerk im klassischen Sinn, nicht um autonome Kunst. Auch diese Objekte sind durch unsere Verfassung geschützt, aber anders als die autonome Kunst. Denn Gebrauchskunst steht in einem Abhängigkeitsverhältnis zu einem Zweck. Und wenn dieser Zweck mit dem Objekt nicht zu erreichen ist, wird es problematisch. Deshalb kann man natürlich fragen, ob liturgische Gebrauchskunst – um die geht es in all den benannten Fällen – noch liturgisch verwendet werden kann, wenn ihr Schöpfer kriminell geworden ist. Bisher hat das den Vatikan in vergleichbaren historischen Fällen nicht gestört, man hat zwischen Tat und Werk unterschieden.[10] Aber darin kann man natürlich einen Ausdruck toxischer Männerkultur sehen.

Fall 1

Laudato Si ist ein sog. Neues Geistliches Lied, das im letzten Viertel des 20. Jahrhundert vor allem in Deutschland hohe Popularität gewonnen hat und insbesondere auch in evangelischen Gesangbüchern zu finden ist.[11] Hierzulande wird es mit dem Namen Winfried Pilz verbunden, der nach seinem Tod 2019 verschiedener sexueller Übergriffe und Missbrauchstaten bezichtigt wurde. Rückwirkend soll deshalb im Sinne einer Voldemortisierung auf das Abspielen seiner Lieder verzichtet werden, auch wenn diese sehr populär sind und inhaltlich mit jenen Taten nichts zu tun haben, die dem Urheber vorgeworfen werden. Theologisch und musikalisch akzentuieren sie eine „Whatever is, is right“-Theologie, zu der man durchaus kritisch stehen kann, aber sie sind nicht Ausdruck eines Klerikalismus. Die Einwände, die ich gegen sie hätte, habe ich auch gegen andere Lieder (Danke für diesen guten Morgen, Möge die Straße uns zusammenführen), sind sie unterkomplex und haben einen ausgeprägten Ohrwurm-Charakter. Sie sind im besten Sinn schlagerförmig und damit kirchentagstauglich.

Pilz hatte das Lied freilich – wie er selbst eingeräumt hat – von der italienischen Gruppe I Cachi D’Aspa plagiiert.[12] Davon kann sich jeder überzeugen, der sich das Original anhört. Es hat nicht nur eine gewisse Ähnlichkeit, es ist das Lied. Es wäre also ein Einfaches, das Plagiat durch ein (neu übersetztes) Original zu substituieren. Man würde die Urheber ehren, indem man ihnen gegenüber anerkennt, dass sie in Wirklichkeit das Lied geschrieben haben. Das Lied, das Motive des Heiligen Franziskus aufgreift und ehrt, kann nichts dafür, dass ein späterer Missbrauchstäter es nach Deutschland entführt hat.

Und trotzdem empfinde ich ein Unbehagen beim vorgeschlagen Liedersturm. Ich vermute, hier meint jemand, man könne den Beschuldigten postum bestrafen, wenn man sein Lied nicht mehr spielt. Das ist Unsinn, er bekommt davon nichts mehr mit. Man bestraft vielmehr all jene, die mit diesem Lied in der kirchlichen Arbeit aufgewachsen sind. Und das sind Millionen, denen man nun in brachialpädagogischer Absicht diese Erinnerung zerstören will. Man kann in den Kommentaren unter den diversen Laudato si Variationen auf Youtube ergreifende Bekundungen darüber lesen, wie bedeutsam den Menschen dieses Lied im Rahmen ihrer Biografie geworden ist. Man muss das nicht teilen, aber sollte man das den Menschen wegnehmen und es zerstören? Mich überzeugt das nicht. Die Pädagogik dahinter ist fürchterlich. Man kann grundsätzlich skeptisch sein gegenüber dieser simplifizierenden Gebrauchskunst in der religiösen Verkündigung, aber diese Skepsis hat nichts mit dem Verhalten der Urheber zu tun. Letztlich müssen wir damit  leben lernen, dass auch Menschen, die Verbrechen begehen, Artefakte erstellen können.

Fall 2

Die liturgische Kunst des Jesuiten Marko Ivan Rupnik, dem sich der Artikel dann zuwendet, ist ein exzellentes Beispiel für die umfassende kulturelle Selbstghettoisierung der Kirche. In der Kunst der Gegenwart, also im Betriebssystem Kunst kennt man diesen Künstler nämlich gar nicht, er ist ausschließlich im Bereich der katholischen Kirche tätig. Wenn man in den einschlägigen Künstlerdatenbanken den Namen eingibt, kommt buchstäblich: nichts. Keine Ausstellung, kein Ranking – schlichtweg nichts. Das ist bei einer Datenbank, die nun wirklich fast jeden verzeichnet, der sich irgendwann mal an einem Kunstwerk versucht hat, beinahe schon ein Wunder. Es besagt aber nur, dass sich der Betreffende exklusiv auf das Kunsthandwerkliche, die Gebrauchskunst bzw. angewandte Kunst und die religiöse bzw. die liturgische Kunst beschränkt hat. Und zwar ganz bewusst, wie er selbst in Abgrenzung zur weltlichen Kunst in Interviews betont hat.[13] Was er macht, ist zweckgebundene und damit nicht freie Kunst.

Aber inwiefern ist seine Kunst nun toxisch? Das würde man ja gerne am Objekt belegt sehen. Ich vermute, es läuft auch hier auf die nun schon bekannte Formel hinaus, dass der Mensch toxisch genannt wird und deshalb alles, was er anfasst, auch toxisch sein muss. So geht das aber nicht in der Kunst und auch nicht beim religiösen Kunsthandwerk. Es ist besser, ein Sünder predigt das Evangelium als ein Heiliger. Beim Sünder rechnet man es Gott an, beim Heiligen dem Heiligen – hat Martin Luther einmal gesagt. Ich habe vor zwölf Jahren in diesem Magazin über die merkwürdige Vorstellung des angeblich notwendigen Vorbildcharakters unserer Geistlichen geschrieben, das dann im Fall des Versagens zu schrecklichen Verwerfungen führt.[14] Und damals zitierte ich Friedrich Wilhelm Graf mit dem Satz: „Auch im Blick auf Moral-Ikonen gilt eben das Bilderverbot: Du sollst dir kein Vorbild machen.“[15] Daran würde ich weiter festhalten und es stark machen wollen. Ja, es ist schrecklich, was dem Geistlichen vorgeworfen wird, aber das darf nicht zum Verlust der Kategorien führen. Die protestantische Sündenlehre besagt, dass niemand sich von der Sünde freisprechen kann. Wenn aber Sündlosigkeit die Voraussetzung künstlerischer Produktion in der Kirche sein soll, kommt keine Kunst mehr zustande.

Im Gegenzug würde ich fragen, warum es dann überhaupt einen Aschermittwoch für Künstler:innen gibt. Setzt dieses Ritual nicht implizit voraus, dass Künstler:innen besonders von der Sünde gefährdete Menschen sind? Das jedenfalls vermutete der nun wirklich berühmte Künstler Georg Meistermann vor 30 Jahren in einem Gespräch. Er gehe davon aus, dieser Kultus sei zustande gekommen, weil die Kirche die Künstler für besonders gefährdete und lose Menschen halte, die demonstrativ des Aschekreuzes zur Sündenvergabe bedürften. Das ist nicht ganz unplausibel, weil es an das Urchristentum in Rom anknüpfen würde, wo Künstler als unmoralische und merkwürdige Menschen galten, bei denen nicht klar war, ob man sie in die christliche Gemeinde aufnehmen konnte.

Nun kann jeder an sich selbst überprüfen, wie er den Vorwurf des Toxischen an der hier inkriminierten Kunst verifizieren würde. Er kann im Internet die päpstliche Kapelle Redemptoris Mater im Vatikan aufrufen und mit Hilfe der dortigen virtuellen 3D-Tour überlegen, was an dem Wahrgenommenen „toxisch“ ist. Aber Vorsicht, bevor Sie vorschnell urteilen, nur drei der vier Seiten stammen von dem als „toxisch“ etikettierten Künstler, die vierte Wand stammt von einem nur unwesentlich älteren russischen Künstler, der nicht derlei Vorbehalten unterliegt [Link].

Beide Künstler arbeiten im neo-byzantinischen Stil, bestreiten also alle Entwicklung der Kunst, wie sie seit Giottos Kruzifix von 1300 in Santa Maria Novella in Florenz stattgefunden hat. Das ist bei einem Künstler logisch, der dem orthodoxen Bildraum zugehört, ist aber überraschend bei einem Künstler, der zur westlichen Bildertheologie gehört.

Es ist jedenfalls ein durch und durch reaktionäres Bildprogramm, passend für Menschen, die der mit Giotto einsetzenden modernen, am Maß des Menschlichen orientierten Kunst nichts anfangen können. Auch das kann und muss man kritisieren. Es wäre ganz sicher nicht meine Kunst. Sie ignoriert alles, was der Mensch in den letzten 700 Jahren entwickelt hat und sie ist angesichts der Schrecken des 20. Jahrhunderts entweder völlig naiv oder ignorant. Es wundert mich, dass sich ausgerechnet die Kirche nach dem II. Vatikanum und vor allem der doch der Moderne gegenüber offene Johannes Paul II. ein derartig naives Programm für die Hauskapelle genehmigt haben. Aber es ist eben nicht toxisch, was wir da an der Wand sehen. Es zeigt nur, dass man in der Kurie nie in der Moderne angekommen ist. Das wusste man aber schon vorher.

Man könnte das Werk manichäisch nennen, wenn die Guten und die Bösen nicht einmal zusammensitzen können und die salbende Maria von Bethanien auf der einen Seite des Tisches zusammen mit Judas und einer weiteren Figur (Lazarus?) platziert wird und demgegenüber die Fußwaschung auf der anderen Seite. Die Erläuterung des Vatikans spricht problematischer Weise vom Tisch der Sünder und vom Tisch der Apostel. Eine merkwürdige und irreführende visuelle Theologie – als wenn die Apostel nicht auch Sünder gewesen wären. Aber dadurch wird es nicht zu einem toxischen Kunstwerk, der Bezug auf Judas erfolgt hier ja vermutlich durch den Rekurs auf Joh. 12, 1-8. Es ist ein Werk, dessen Konzeption und Stil zu kritisieren ist, sonst nichts.

Toxisch(e Männlichkeit) als Etikett

Der moralisch sich gebende Aufschrei Wie kann man das nur ausstellen? ist unangebracht. Ich vermute, dass hier modische Etiketten wie „toxisch“ ziemlich unbedarft auf alles Mögliche übertragen werden. Über toxische Männlichkeit wird noch nicht sehr lange geschrieben (der Begriff kommt aus der Männerbewegung des ausgehenden 20. Jahrhunderts, in der hier genutzten Form entwickelt er sich aber erst nach 2010). Ob es die toxische Männlichkeit überhaupt gibt, ist wissenschaftlich sehr umstritten,[16] das ist aber in unserem Kontext nicht relevant. Kritisch ist die Übertragung auf den Kulturbereich. Weil es keine dafür Kriterien gibt, kann man alles oder nichts als „toxisch“ bezeichnen. Dabei ist der Begriff schon problematisch genug:

Völlig unabhängig davon aber, wen das Gift der toxischen Männlichkeit trifft, ist die  darin enthaltene Metapher problematisch, denn sie spielt auf den Bereich Krankheit/Gesundheit/Organismus an, der vor allem in der völkischen Ideologie für den ‚Volkskörper‘ benutzt wird. Dabei werden politisch missliebige Personen, Ideologien oder Ideen gerne als krankmachend, zersetzend und tödlich für den lebendigen Organismus des ‚Volks‘ dargestellt - eine historisch verfestigte Besetzung einer Metapher, die schlecht zu ignorieren ist.[17]

In dem Augenblick aber, wo man „toxisch“ auf die Kunst und Kultur überträgt, droht man sich in eine Geschichte einzuschreiben, schon einmal von „Gift“ und „Kunst“ gesprochen hat. Gegenüber der vergifteten oder vergiftenden Kunst muss es eine „gesunde Kunst“ geben, die derlei Wirkungen und Problematiken nicht hat. Diese Vorstellung, dass das „Vergiftete“ und „Vergiftende“ in der Kultur zu entfernen ist, ist zuletzt von den Nationalsozialisten vorgetragen worden.

Fazit

Empörung und Moral sind schlechte Ratgeber in Sachen Kunst und Kultur. In aller Regel führen sie zum Gegenteil dessen, was man erreichen will. Wer nicht möchte, dass wir in eine archaische Kultur der Voldemortisierung zurückfallen, dem/der bleibt es nicht erspart, sich mit den Dingen auseinanderzusetzen. Wenn sich in ihnen Problematisches zeigt, muss es thematisiert werden. Da, wo es sich nicht zeigt, und der Ikonoklasmus zum Therapeutikum wird, sollte man bedenken, dass in Deutschland schon einmal Volks-Therapeuten aufgetreten sind, die meinten, dass Volk vor der falschen Kunst bewahren zu müssen. Den Schaden tragen wir bis heute.

Anmerkungen

[1]    Keul, Hildegund (2023): Kunstwerke von Missbrauchstätern: Eine toxische Zumutung.
https://www.katholisch.de/artikel/43530-kunstwerke-von-missbrauchstaetern-eine-toxische-zumutung.

[2]    Man müsste sonst an Volkskörperfantasien der Lebensphilosophie vom Anfang des 20. Jahrhunderts oder deren nationalsozialistische Adaption denken: Kunst, die den Gesunden vergiftet.

[3]    Aber auch das ist nicht sicher. In den Pressemeldungen zu einem der Fälle heißt es explizit, strafbare Handlungen im Sinne des säkularen Rechts lägen nicht vor.

[4]    Man könnte auch an eine Viren-Metapher denken, aber das wäre ebenso grauenvoll.

[5]    Anders, Günther (2020): Italien-Tagebuch 1956. Padua und Venedig. In: Anders, Günther: Schriften zu Kunst und Film. Herausgegeben von Reinhard Ellensohn und Kerstin Putz. München: C.H. Beck (C.H.Beck eLibrary), 330-340:

[6]    Heinrich Heine gibt dem in seinem Gedicht „Nicht gedacht soll seiner werden“ beredt Ausdruck. Heine, Heinrich: Nicht gedacht soll ihrer werden. In: Heinrich Heine: Sämtliche Werke. In vier Bänden ; [nach dem Text der Ausgaben letzter Hand], 1 - Gedichte (Winkler Weltliteratur : Dünndruck-Ausgabe), S. 840–841.

[7]    Mertin, Andreas (2020): Zwischen erinnern und vergessen. Gedanken zur Anonymisierung von Attentätern. In: tà katoptrizómena, Jg. 22, H. 124. https://www.theomag.de/124/am690.htm.

[8]    Berger, John (1972): Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt. Neuausgabe, 2. Auflage. Unter Mitarbeit von Sven Blomberg, Chris Fox und Michael Dibb et al. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, Januar 2017 (Fischer, 03677).

[9]    So der Faschist Willrich, Wolfgang (1937): Säuberung des Kunsttempels. Eine kunstpolitische Kampfschrift zur Gesundung deutscher Kunst im Geiste nordischer Art. München: J.F. Lehmann.

[10]   Legendär in dieser Frage ist eine Szene, die als Drama zwischen dem Papst, seinen Kardinälen und dem Künstler Benvenuto Cellini erinnert wird. Letzterer hatte (wieder einmal) einen Mord begangen, wurde vom Papst dafür aber nur getadelt und nicht eingekerkert, woraufhin die Kardinäle protestierten. Darauf sagte der Papst: Kardinäle wie euch finde ich jeden Tag, aber einen Benvenuto nicht.

[11]   Es findet sich im Evangelischen Gesangbuch von 1993 als Lied 515 und im Gesangbuch der Evangelisch-reformierten Kirchen der deutschsprachigen Schweiz von 1998 als Lied 529. Im katholischen Gotteslob von 2013 ist es nur regional vertreten.

[13]   Interview mit Marko Ivan Rupnik von Paolo Mattei (2008): „Eine Kunst, die Verehrung weckt“.
http://www.30giorni.it/articoli_id_18067_l5.htm

[14]   Mertin, Andreas (2010): Blindness and Insight. Oder: Über die Kultur der Sünde. In: tà katoptrizómena, Jg. 12, H. 64. http://www.theomag.de/64/am312.htm. Als Printversion veröffentlicht in: Kuhlmann, Helga (Hg.): Fehlbare Vorbilder in Bibel, Christentum und Kirchen. Von Engeln, Propheten und Heiligen bis zu Päpsten und Bischöfinnen.  Münster, S. 225–228.

[15]   Friedrich Wilhelm Graf: Moral ist keine Religion. Der Protestantismus, der Fall einer deutschen Bischöfin und der Verlust von Unterscheidungen, NZZ 4. März 2010

[17]   Sanders, Eike; Berg, Anna O.; Goetz, Judith (2020): Frauen*rechte und Frauen*hass. Antifeminismus und die Ethnisierung von Gewalt. Zweite Auflage. Berlin: Verbrecher Verlag. S. 31f.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/142/am786.htm
© Andreas Mertin, 2023