Playlist Bildende Kunst

10 Kunstwerke, die mir persönlich etwas bedeuten

Karin Wendt

Stimmungen

Was kann es heißen, eine persönliche Playlist für andere zu schreiben und zu publizieren? Auf den ersten Blick ist es ja doch ein recht artifizielles Unterfangen, das zudem etwas narzisstisch anmutet – was ist Dir so wichtig, dass Du es auch für andere listen würdest? Während eine Playlist im Sinne eines öffentlichen Rankings – wie die Charts oder das Politbarometer – beansprucht, mithilfe möglichst transparenter Kriterien in einem bestimmten Bereich ein aktuelles, konsensuales (Geschmacks)-Urteil zu repräsentieren oder abzubilden, ist eine persönliche Playlist nicht mehr, aber natürlich auch nicht weniger als ein subjektiver Ausschnitt des persönlichen Geschmacks, genauer: ein Ausschnitt dessen, was den persönlichen Geschmack in einem bestimmten Bereich bildet, weil und indem es einem zu einer bestimmten Zeit gefällt, man es „gut“ findet, es einen interessiert oder beschäftigt. Meist bildet sich eine solche Playlist eher intuitiv oder unbewusst, indem man Songs, einzelne Tracks, bestimmte Bücher, Texte oder Kunstwerke speichert und in unterschiedlichen Situationen allein oder im Austausch mit anderen immer wieder darauf zurückkommt. Genau genommen sind dies keine echten Listen, denn sie haben keine stabile Hierarchie, es sind eher Referenzknoten in einem Schwingungsfeld, in dem sich die eigenen Interessen und Präferenzen bewegen.

Was die unpersönliche und die persönliche Playlist jedoch verbindet, ist, dass sie eine Stimmung hervorrufen und transportieren. Das macht das Nachdenken darüber so attraktiv, denn es trägt dazu bei, einen in der (eigenen) Gegenwart abzuholen; es intensiviert oder färbt das Nachdenken. Die Stimmung, die sich in einer Playlist kondensiert, bleibt jedoch unreflektiert, es sei denn, sie wird ihrerseits ausgewertet und kommentiert wie dies bei repräsentativen Umfragen in der Regel der Fall ist; zunächst ist es jedoch eher ein Grundton, den das Ranking oder die persönlichen Favoriten nicht artikulieren, sondern nur mittransportieren (und so letztlich auch für ein Profiling im Sinne der Stimmungs-Mache ausbeutbar machen). Nur Kunst und in einem gewissen Sinne auch gute Mode vermögen es, Stimmungen ohne einen externen Kommentar erkenntnisbildend zu vergegenwärtigen, emphatisch könnte man auch sagen: deren Wahrheitsgehalt erfahrbar zu machen. Dass Kunst dies vermag, hängt nun wiederum auch mit einer gleichwohl etwas anders gelagerten Stimmung zusammen. Wenn wir etwas als schön qualifizieren, urteilen wir über einen Gegenstand, ohne ihn begrifflich zu fixieren. Wir denken über die Dinge nach, indem wir mit ihnen denken, ohne dass sich ihr Sinngehalt erschöpft, ohne dass ihr Sinn in einer bestimmten Bedeutung terminiert. Nach Kant kann uns die Beschäftigung mit Kunst deshalb in diesen Prozess der andauernden Reflexion bringen, weil die ästhetische Wahrnehmung unsere Erkenntniskräfte, unsere Einbildungskraft und unseren Verstand, in eine „proportionierte Stimmung" versetzt, die wir als belebend empfinden und die wir potenziell mit anderen teilen möchten – das eigene ästhetische Urteil „schön“ bedeutet immer auch zu sagen „Schau doch, wie schön das ist!“ Das Nachdenken mit und über Kunst ist also der Sache nach immer ein Reflektieren mit anderen. Die ästhetische  Haltung der Erkenntnisoffenheit ist die Öffnung hin zum Anderen. Umgekehrt ist die „proportionierte Stimmung" ein Indikator dieser Haltung. Mit den Worten von Kant:

„Nun bestimmt aber das Geschmacksurteil, unabhängig von Begriffen, das Objekt in Ansehung des Wohlgefallens und des Prädikats der Schönheit. Also kann jene subjektive Einheit des Verhältnisses sich nur durch Empfindung kenntlich machen. Die Belebung beider Vermögen (der Einbildungskraft und des Verstandes) zu unbestimmter, aber doch vermittelst des Anlasses der gegebenen Vorstellung, einhelliger Tätigkeit, derjenigen nämlich, die zu einem Erkenntnis überhaupt gehört, ist die Empfindung, deren allgemeine Mitteilbarkeit das Geschmacksurteil postuliert…. Eine Vorstellung, die als einzeln und ohne Vergleichung mit andern, dennoch eine Zusammenstimmung zu den Bedingungen der Allgemeinheit hat, welche das Geschäft des Verstandes überhaupt ausmacht, bringt die Erkenntnisvermögen in die proportionierte Stimmung, die wir zu allem Erkenntnisse fordern, und daher auch für jedermann, der durch Verstand und Sinne in Verbindung zu urteilen bestimmt ist (für jeden Menschen), gültig halten.“ (Kritik der Urteilskraft, 1799, § 9, 31)

Jedes Reden und Schreiben über Kunst ist das Ergebnis einer solchen freien Reflexion – oder sollte es zumindest sein –, eines imaginären Gesprächs mit sich und anderen, das die Schönheit der Kunst ermöglicht und einfordert. Die nachfolgenden Betrachtungen sind ein Gang durch die abendländische Kunstgeschichte anhand von Kunstwerken, die ich persönlich besonders schön finde, deren Fragestellungen mich immer wieder beschäftigen oder deren erste Begegnung vor Ort mir in Erinnerung geblieben ist. In diesem Sinne spiegelt diese „Playlist“ Schönheit als ein Konzept der subjektiven Wahrheit und ist Stimmungsbild, Gesprächsmitschnitt und Einladung zum Gespräch in einem.


1. Tomba dei Giocolieri, Etruskische Tänzerin

Beginnen möchte ich mit dem Blick in eine Grabkammer der Etrusker, in die Tomba dei Giocolieri (Grab der Spieler/Jongleure) aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. Sie liegt in der Monterozzi-Nekropole nahe der Stadt Tarquinia, ein Gräberfeld mit um die 6000 in den Fels gehauenen Grabkammern. Der Name leitet sich vom Thema der Wanddekorationen ab, die Spiele und Tänze zu Ehren des Verstorbenen feiern sollen. Diese zählen zu den wichtigsten Zeugnissen der Villanova-Kultur.

Die etruskische Kunst fasziniert mich, weil sie Einflüsse der damaligen antiken Welt im Mittelmeerraum sampelt, um darüber einen eigenen lebendigen Stil zu entwickeln. Darin zeigt sich die Fähigkeit zur kreativen Assimilation, die die Kunst im Raum Italien fortan auszeichnen wird. Zugleich ist es eine Schattenwelt. Was wir bis heute über diese Kultur wissen, ist, wie in dem hier gezeigten Fries, bruchstückhaft. Weder Sprache, Religion und Kulte, noch das Weltbild oder gesellschaftliche Bräuche der Etrusker, nicht zuletzt die Frage nach ihrem Anfang, sind vollständig aufgeklärt. Wir sind ein wenig wie die Gefangenen in Platons Höhlengleichnis: wir sehen wir (nur) ihre Bilder: Malereien, die über das Leben vor und nach dem Tod reflektieren.

Ausgehend von einem zentralen Tympanon, das von einem Löwen und einem Panther flankiert wird, entrollt sich der Wandfries wie eine weiße Leinwand, eingefasst von farbigen Linien und einem Sockelgeschoss. Auf der Stirnwand sieht man (vermutlich) den Verstorbenen, der der Jongleurskunst zweier Akrobaten beiwohnt, begleitet von einem Flötenspieler und weiteren Zuschauern. Auf der linken Wand finden sich in der Ecke hinter einem Baum ein Mann beim Stuhlgang, eine Inschrift, zwei Vögel im Flug, zur Hauptszene gerichtet ein Mann mit Stock, der von einem jüngeren gestützt wird, und ein Läufer, der in die entgegengesetzte Richtung läuft. Die rechte Wand zeigt vier Tänzerinnen und einen Panflötenspieler. 

Das von mir ausgewählte Detail zeigt eine der Tänzerinnen. Ihre langen Haare sind zu einem Zopf zurückgebunden, so dass man gut ihre scheibenförmigen Ohrringe sieht. Sie trägt flache Schuhstiefel und ein Gewand mit Überwurf und auf Höhe der Stiefel ein sichelförmiges Element, das vielleicht eine Art Umhängetasche oder Beutel darstellt. Anders als die ausdrücklich Tanzende links neben ihr dreht sie sich vom zentralen Geschehen weg bzw. stellt sich angrenzend davor. Wie kann man ihre stehende Haltung und die nach oben angewinkelten Arme deuten? Gehört beides zum Tanz oder ist es eine Würdeformel, also eine zeichenhafte Geste zum Schutz, zur Abwehr oder mit Gebets- oder Gruß­charak­ter? Sie würde sich dann auf einen Betrachter, gewissermaßen auf ein Außen beziehen. In jedem Fall zeugt ihre Haltung von einer besonderen Grazie.



2. Jacopo Pontormo, Verkündigung

Während die genaue Ikonographie der etruskischen Tänzerin insgesamt doch recht vage ist, ist dies bei der folgenden Frauenfigur in einem Fresko, das rund eintausend Jahre später entsteht, nicht der Fall. Wir wissen, wen sie darstellen soll und in welcher Situation der Künstler sie darstellt. Und dennoch ist Jacopo Pontormos (1494-1597) Darstellung des Themas der „Verkündigung“ zu seiner Zeit ungewöhnlich und lässt auch heute Spielraum für Interpretation. Das Fresko wurde 1526–1528 im Auftrag des Bankiers Ludovico Capponi Senior für die Familienkapelle in der Kirche Santa Felicità in Florenz ausgeführt. Zum Bildprogramm gehört auch Pontormos viel diskutierte Kreuzabnahme.

Anders als in den meisten Vorbildern der Renaissance hat Pontormos Verkündigungsengel keine weiblichen Merkmale, sondern wird als junger Mann ohne ausdrückliche Geschlechtlichkeit charakterisiert. Einziges Engelsattribut sind seine Flügel. Auffällig ist ein körperliches Detail: ein Fuß ist versehrt wie eine Art Klumpfuß. Dieses fällt umso deutlicher ins Gewicht, als er schwebend gezeigt wird, was die Gehbehinderung rätselhaft konterkariert. Geht man davon aus, dass es kein malerisches Missgeschick war (was m.E. nicht völlig ausgeschlossen werden kann), wie wäre es zu deuten? Pontormo, der der Theologie der Valdesianer, einer katholischen Reformbewegung, nahestand, könnte darin einen Hinweis auf das bevorstehende Leiden Jesu andeuten, dies vermutet Peter Bürger in einem Artikel für die NZZ. Was für einen Unterschied macht es, wenn der Bote, der Maria die Nachricht überbringt, dass das Kind, das sie erwartet, Gottes Sohn ist, kein „Held Gottes“ (Gabriel), sondern ein gefallener Engel war? Pontormo würde zeigen, dass dem Anfang der Erzählung vom Geheimnis der Inkarnation die Passion bereits eingezeichnet ist.

Mich berührt die Haltung Marias, die Art, in der sie zurückschaut. Auch wenn diese Deixis nicht neu ist, geschieht sie mit einer bemerkenswerten Selbstverständlichkeit, in einer großen Natürlichkeit. Ich finde ihre Darstellung außerordentlich emanzipiert, man könnte auch sagen charmant. Sie ist weniger Empfangende als vielmehr aufmerksam Hörende und Sehende. Offen scheint: ist der Engel gerade erst gekommen oder sind beide schon im Begriff sich zu trennen, die Botschaft überbracht, der Fortgang ungewiss? Pontormos Spiel aus klassischem Kontrapost und manieristischer Asymmetrie erzeugt ein Momentum, das ist neu. Es kündigt sich darin – gleichwohl noch weit entfernt – die Moderne an. Pontormo beginnt, die Wahrnehmung der Renaissance in Frage zu stellen. Ein neuer Anfang ist gemacht.


3. Jacopo Tintoretto, Bacchus, Venus und Ariadne

Das dritte von mir ausgewählte Bild ist ein Ölgemälde mit dem Titel „Bacchus, Venus und Ariadne“ (1576-77) des venezianischen Künstlers Jacopo Tintoretto (1518-1594). Es zeigt die mythologische Hochzeit zwischen dem Halbgott Bacchus und der Sterblichen Ariadne, die von Venus zu Göttern erhoben und als Sternbild Corona Borealis unsterblich gemacht wurden.

In der Funktion einer politischen Allegorie verkörpert Ariadne das von den Göttern begünstigte und mit Herrlichkeit gekrönte Venedig, während die Hochzeit Venedigs Vereinigung mit dem Meer darstellt. (Engl. Wikipedia)

Das Bild ist Teil eines größeren Programms, das die Regierung des Dogen Gerolamo Priuli (1486-1567) würdigte und die Republik Venedig nach außen als Zivilisation präsentierte, die ihre Vormachtstellung einzig dem Handel und ihren kulturellen Leistungen verdankt. Es hing ursprünglich in einem Vorzimmer zu den repräsentativen Räumen des Dogenpalastes, der Sala dell'Anticollegio, in dem ausländische Botschafter und Delegationen darauf warteten, vom Rat empfangen zu werden; heute befindet es sich im Vorzimmer des Plenarsaals.

Ich bin auf dieses Gemälde während eines Venedig-Aufenthalts eher zufällig gestoßen. Dass es mir in Erinnerung geblieben ist, liegt nicht an dem historisch-politischen Kontext, den ich mir erst nachträglich erschlossen habe, sondern an dem überwältigenden farblichen Eindruck, den es vor Ort auf mich machte; es liegt an der Virtuosität, mit der Tintoretto die Farbe Blau auf diesem Bild zu inszenieren weiß.

Variationen von Blau erfüllen den gesamten Bildraum – einschließlich des Gewands von Ariadne und des Lorbeerkranzes und Lendenschurzes von Bacchus! – mal opak und dunkel, mal vielschichtig moduliert, dann transparent und licht, nuanciert und zugleich von einer bodenlosen Tiefe. So entsteht ein intensives Stimmungsporträt dieser Stadt, die ohne sichtbare Verbindung zur Erde über dem Meer zu schweben scheint und deren Atmosphäre so sehr vom Wasser und vom (Sternen)-Himmel, den Wolkenbildungen und Luftspiegelungen in der Lagune geprägt ist.

Diese Seherfahrung stellt sich so jedoch nur vor dem 146 x 167 cm großen Original ein.


4. Francisco Zurbarán, Agnus Dei

Das nebenstehende Gemälde „Agnus Dei" (ca. 1635-1640) habe ich ausgesucht, weil es die Wahrnehmung an eine Grenze bzw. Schwelle führt: es ist Andachtsbild und Stillleben zugleich, es ist abstrakt und konkret, und es handelt damit – formal – auch von der Grenze zwischen Mystik und Ästhetik. Gemalt hat es der spanische Künstler Francisco Zurbarán (1598-1664), es misst 37,2 x 62 cm und befindet sich heute im Prado Museum in Madrid.

Das 17. Jahrhundert ist die Zeit der von Spanien ausgehenden Gegenreformation, was dort einhergeht mit der Rezeption mystischer Literatur. Zurbaráns Bildfindung setzt einen theologischen Deutungshorizont voraus und ist vermutlich beeinflusst durch christologische Texte, namentlich des Augustiners Luis de Léon, der als Lyriker und Herausgeber spanischer Mystiker wirkte. Zurbarán hat das Motiv „Agnus Dei" mehrfach angefertigt, wahrscheinlich für private Kunden. Diese Fassung ist nun deshalb interessant, weil sie auf die religiöse Symbolik des Heiligenscheins und die religiöse Rhetorik der Inschrift „tanquam agnus in occasione“, mit der es in den anderen Versionen auf die Osterliturgie und die biblische Rede vom Gottesknecht bezogen wird, verzichtet. Das Sehen kann bzw. muss sich also auf den konkreten Gegenstand konzentrieren, wahrnehmen, wie das religiöse Sujet formal inszeniert wird.

Der Bildgrund ist dunkel und undifferenziert. Dennoch wirkt das Schwarz nicht plan, sondern entfaltet einen enormen Tiefensog, einmal durch den helleren Balken, der diesen Bereich optisch nach vorne holt, und zum anderen durch den minimalen Schatten, den das Lamm auf der Bank bzw. dem Stein wirft; beides macht den für sich abstrakten Bildgrund sinnlich konkret. Die Lichtquelle für diese Gestaltwerdung aus dem Nichts bleibt unsichtbar; spekulativ könnte man darin die Visualisierung eines weiteren Hoheitstitels erkennen: Christus als das Licht der Welt.

Die dramatische Kulisse steigert die Sichtbarkeit des Gegenstands, dem der Künstler maximale Aufmerksamkeit schenkt. Sein Blick geht extrem nah an das junge Tier heran und erfasst es als lebendes Individuum: wir sehen die Zeichnung der Wolle, den schweren weichen, entspannten Körper, die Hörner, Nüstern und Augen. Wir nehmen ein wehrloses Schaf wahr, das sich trotz seiner unnatürlichen Lage und Fesseln nicht wehrt. Dieses Zutrauen, das sich im antiken Hirtenmotiv durch die Nähe zum Schäfer und seinen festen Griff erklären würde, erscheint in Zurbaráns Darstellung als rätselhafte Hingabe. Es geht Zurbarán um die Zuspitzung der Opfer-Haltung, um die innere Versenkung oder Einfühlung in die Situation eines ausgelieferten und sich ergebenden Geschöpfes. Darin liegt ein Moment der geheimnisvollen Verklärung, das für uns heutige Betrach­ter:innen erklärungsbedürftig ist und unsere Bilderfahrung von der des 17. Jahrhunderts unterscheidet.


5. Caspar David Friedrich, Das Eismeer

„Das Eismeer" (1823-24) des Malers Caspar David Friedrich (1774-1840) ist ein Hauptwerk der deutschen Romantik. Ich nehme es in meine Liste auf, weil es tief in unserem Bildergedächtnis verankert ist. Bis heute ist es für zeitgenössische Künstler eine wichtige Referenz; und anders als für Friedrichs Zeitgenossen, die mit seiner Darstellung eines im Eismeer zerschellten und untergegangenen Schiffes wenig anzufangen wussten, ist es heute ein ungeheuer aktuelles Bild.

Der Ort und die Perspektive, die der Betrachter vor dem Bild einnimmt, ist, wie oft bei Friedrichs Bildern, unter realen Bedingungen unmöglich. Der Blick wird nicht an das Motiv herangeführt, sondern „stürzt“ ins Bild. Es fehlen Parameter, um die tatsächlichen Dimensionen des Geschehens einzuschätzen. Je länger man schaut, umso deutlicher nimmt man wahr, dass die vermeintlich naturalistisch gegebene Szene höchst artifiziell angelegt ist: kontrapunktisch parallelisierte Längsfragmente, die sich wie durch eine Unterströmung in einer latenten Drehbewegung zu einem Eisberg auftürmen, während sich im Hintergrund das Eis endlos weit bis zum Horizont unter einem hohen Himmel ausdehnt – alles folgt einem klaren Gestaltungsprinzip und bildet so eine Bühne, auf der Natur zu einem Natur-Schauspiel wird. Der sichtbare Formwille färbt die gesamte Szene subjektiv und macht daraus eine „Tragödie der Landschaft" (C.D. Friedrich).

„… ein Eisberg hat da ein Schiff verschlungen, von dem nur mehr Reste zu sehen sind. Eine große und schreckliche Tragödie; kein Mensch hat überlebt. Das ist gut überlegt, da sonst die Aufmerksamkeit zerteilt würde“, schrieb der Kritiker David d’Angers nach einem Ausstellungsbesuch in sein Tagebuch. Das ist es was dieses Motiv so eindrücklich und ikonisch macht. Im ästhetischen Spiegel der Landschaft zeigt sich das menschliche Unternehmen der Dienstbarmachung der Erde als gewaltsame Unterwerfung der Natur; es ist gescheitert. Wir sind noch dabei zu begreifen, was das wirklich heißt.


6. Kasimir Malewitsch, Das Weiße Quadrat

Das  Œuvre von Kasimir Malewitsch (1879 in Kiew - 1935 in St. Petersburg) ist für die Moderne so bedeutsam, weil es an einen Nullpunkt bzw. Wendepunkt im Verständnis von Kunst führte, weg von einer idealistischen Inhaltsästhetik hin zu einer formalen Ästhetik der Negativität. Kunst hilft uns nicht die Welt zu verstehen, aber sie hilft uns zu erfahren, wie wir sie sehen. Die Souveränität der Kunst liegt darin, dass sie unsere Wahrnehmung der Welt sichtbar macht und so unser Verhältnis zur Wirklichkeit offenlegt. Die gegenstandslose Malerei von Malewitsch ist eine Schule dieses frei reflektierenden Sehens, das immer wieder eingeübt werden muss.

Ich habe an dieser Stelle nicht „Das Schwarze Quadrat“ (1915) zur Betrachtung (-> im Magazin) ausgewählt, sondern eine spätere Arbeit, in der er sein Verfahren zur Dynamisierung der bildnerischen Gegebenheiten mit monochromen Mitteln exemplifiziert: „Das Weiße Quadrat“ von 1918. Es ist eine stille, fast lautlose Arbeit, „Resümee und Abschluss seiner suprematistischen Malerei", in der sich der „Tanz" des Quadrats nicht in der maximalen Amplitude zwischen den Polen des sichtbaren Farbenspektrums ereignet, sondern in einer gerade noch wahrnehmbaren Differenz zwischen zwei Weißtönen. Das Quadrat ist bezogen auf die Achsen des Bildfelds gekippt gegeben. So scheint es in einer latenten Rotation um die eigene Diagonale nach hinten oben rechts aus dem Bildfeld zu schweben. Diese Bewegung wird dort arretiert, wo es mit der linken Ecke den oberen Bildrand berührt – der Grund verflacht sich –, um beim Blick auf die rechte obere Ecke des Quadrats erneut einzusetzen. Versteht man dieses sich im Sehen immer wieder neu ereignende Wegdriften als „Emanationen ein- und derselben Energie, als spezifische ‚Färbungen‘", so ist das Weiße Quadrat „jene Stelle … wo Energie  sich zum letzten Mal ‚färbt‘.“ (Gerd Steinmüller, Individuum eines kollektiven Systems, 1992)


7. Piet Mondrian, Boogie Woogie

Als Künstler hat Piet Mondrian (1872 in Amersfoort – 1944 in New York), wie viele seiner Generation, biographisch und stilistisch einen langen Weg zurückgelegt. Von seiner Heimat in den Niederlanden, über  zwei mehrjährige Aufenthalte in Paris bis zum Exil nach London und schließlich in die Vereinigten Staaten; vom Postimpressionismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts bis zur so genannten konkreten Kunst der klassischen Moderne. In der Münchner Ausstellung „Entartete Kunst" im Jahr 1937 gehörte er zu den wenigen ausländischen Künstlern, deren Werk als „entartet" diffamiert wurden.

In den 1920-er Jahren entwickelt Mondrian seine Theorie des Neoplastizismus als Versuch einer Neugestaltung seiner Kunst, indem er seine Arbeitsweise als Maler konkret befragt: wie lässt sich die Bildfläche artikulieren, ohne dass ein illusionistischer Tiefenraum oder eine plane Fläche entsteht? Wie lassen sich die Farben artikulieren, ohne dass sie an einen bestimmten Gegenstand gebunden sind? Wie lässt sich also das Verhältnis von Form und Farbe so artikulieren, dass beide frei ihrer eigenen Gesetzlichkeit folgen? Wie wird Malerei autonom?

Mondrians ab 1940 im New Yorker Exil entstandene Werke lösen die früheren strengen Kompositionen zugunsten einer musikalischen Rhythmisierung ab. Ein besonders schönes Beispiel ist die späte Arbeit „Broadway Boogie Woogie" (1942-43). Statt wie vorher durch ein schwarzes Liniengitter bildet sich hier eine eigene Sehebene allein durch die rasterartige Anlage winziger Farbrechtecke in den Primärfarben Gelb, Rot und Blau, „die gegeneinander prallen … und einen lebendigen und pulsierenden Rhythmus [erzeugen], eine optische Vibration, die wie der Verkehr auf den Straßen von New York von Kreuzung zu Kreuzung springt.“

In den freien Kompositionen des afro-amerikanischen Blues erkannte Mondrian Parallelen zu seiner Kunst und schrieb: „Zerstörung der Melodie, die die Zerstörung der natürlichen Erscheinung ist; und Konstruktion durch den kontinuierlichen Gegensatz reiner Mittel – dynamischer Rhythmus.“ (Museum of Modern Art, 2019)


8. Paul Klee, Hauptweg und Nebenwege

Das folgende Bild „Hauptweg und Nebenwege" (1929) ist für mich eine der schönsten Arbeiten des Künstlers Paul Klee (1879-1940), ein „unbeschreibliches Zauberbild", wie Horst Keller, früherer Direktor des Wallraff-Richartz-Museums in Köln – wo es heute im Museum Ludwig hängt – 1968 schrieb.

Es ist das Ergebnis von Seherfahrungen, die Klee während einer Ägypten-Reise in den Jahren  1928-29 machte, die er seiner Frau in einem Brief so beschreibt: „Ich male eine Landschaft etwa wie den Blick von den weiten Bergen des Tales der Könige ins Fruchtland. Die Polyphonie zwischen Untergrund und Atmosphäre ist so locker wie möglich gehalten.“ Für Klee waren Reisen in ferne Länder des Südens, wie für seine Künstlerkollegen und Freunde August Macke und Louis Moilliet, mit denen er auch gemeinsam reiste, eine Möglichkeit, ein anderes Licht, andere Farben wahrzunehmen und den eigenen Blick für neue Horizonterfahrungen, für das Fremde zu sensibilisieren und zu öffnen.

Der Aufbau des Bildes folgt der von Klee während seiner Lehrtätigkeit am Bauhaus so bezeichneten „Cardinal-Progression", bei der waagerechte und schräg gegebene Farbfelder fortlaufend halbiert werden, so dass sich der perspektivische Eindruck von Höhenwegen einerseits und gestuften Ebenen anderseits und so die Anmutung einer charakteristischen Landschaft, aber auch die Assoziation einer Pyramidenarchitektur ergibt. Klees Versuch, über eine metrische Gliederung eine proportionierte Rhythmisierung der Ebenen zu erzielen, spiegelt auch seine Beschäftigung mit den Grundlagen der Musik und die Erforschung der Analogien zwischen einem akustischen und einem visuellen Weltbild. Beides vermag das Bild auf geheimnisvolle, synästhetische Weise zu vermitteln.


9. Günter Fruhtrunk, Sinnenfundament / 10. Markus Ebner, „Sinnenfundament“

Die neunte und zehnte Position meiner Playlist nehmen zwei Künstler zusammen ein. Vor einigen Jahren wurde ich auf die Arbeit eines Künstlers aufmerksam, der die Kunstwerke eines anderen eins zu eins kopiert, er selbst spricht von „Zuneigung". Meine Playlist endet also mit einem Original des Malers Günter Fruhtrunk (1923-1982) aus den 80-er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts und seiner Kopie durch den Künstler Markus Ebner (*1962) im 21. Jahrhundert.

Das letzte Bild von Fruhtrunk – und damit auch das letzte von Ebner kopierte Fruhtrunk-Bild – trägt den Titel „Sinnenfundament“ (1982). Fruhtrunk bricht hier seine lange streng durchgehaltene Form der vertikalen, horizontalen und diagonalen Farbbahnen auf und findet eine Ordnung aus annähernd winkelförmig ineinander gelegten Feldern. Es ist der Versuch, einer Geometrie Irregularitäten einzuarbeiten, sie zu individualisieren, ohne dass es zu partiellen Fixierungen der Sehebenen oder einem Auseinanderfallen der Elemente, einem Strukturzerfall, kommt. Das Fundament unserer Sinne, so Fruhtrunk, ist kein eigentliches Fundament, es kommt erst zum Tragen, wenn wir mit ihnen arbeiten. Das Bild macht dieses an sich unsichtbare Fundament sichtbar, indem es unser ordnendes Sehen nachvollziehbar macht.

Ebners akribische Aneignung dieses und weiterer Bilder von Fruhtrunk, die Wieder-Holung des Schaffensprozesses eines anderen, hat mich irritiert und fasziniert. Sie stellt die Frage nach Original und Kopie, nach Innovation und Nachahmung, einmal mehr angesichts der heute fast unbegrenzten Möglichkeiten technischer Reproduzierbarkeit.

Aber es stellt auch die Frage, was Nachfolge bedeuten kann. Wie nah kann ich dem, was einen anderen bewegt, kommen? Was heißt es, in den Spuren eines anderen zu gehen? If you try walking in my shoes …, singen Depeche Mode. Sind wir in der Lage, wirklich radikal die Perspektive eines anderen, eine andere Perspektive einzunehmen? Was bedeutet in diesem Zusammenhang der Gedanke der christlichen Nachfolge? Wem oder was folgt das (eigene) Leben? Wodurch gewinnt es seine Form, worin gewinnt es Gestalt?

Kunst als Nachfolge kann vielleicht heißen, ihr immer wieder aufs Neue nachzugehen, sich immer wieder anfragen zu lassen; denn ihre Schönheit ist kein Zufall, sondern eine offene Frage. Ästhetische Wahrnehmung ist nie erschöpfend, sie kann und muss immer wieder neu begonnen werden.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/142/kw95.htm
© Karin Wendt, 2023