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Gedanken zum Thema „Gelassenheit“Stefan Schütze Diese Gedanken sind in den Jahren 2010-2015 im Rahmen meines damaligen intensiven theologischen bzw. religiösen Such- und Frageweges entstanden. Sie finden sich verstreut in verschiedenen Abschnitten dessen, was ich damals geschrieben und auch (in www.theomag.de und anderswo) öffentlich geteilt habe, und sind für mich in der Rückschau vielleicht so etwas wie der existentielle bzw. spirituelle Kern meiner damaligen Gedankenentwicklung. Ich habe diese Gedanken hier noch einmal neu zusammengefügt, miteinander verwoben und dabei auch teilweise etwas überarbeitet. Das mystische Thema der „Gelâzenheit“ (Meister Eckhart) und des „Lassenlernens“ ist vielleicht das Grundthema nicht nur meines theologischen Fragens und Denkens, sondern meines religiösen Weges und meines Lebens überhaupt. Es hat Wurzeln schon in den Erfahrungen und Begegnungen meiner Kindheit und Jugend, und war, wie ich heute sagen kann, schon in meiner evangelikal-pietistischen religiösen Anfangsphase überraschend präsent. Es ist vielleicht tatsächlich so etwas wie die „geheime Mitte“ meines gesamten heutigen religiösen Such- und Frageweges, sein spirituelles „Herz“. Auch meine Krankheit und der Umgang mit immer neuen gesundheitlichen Einschränkungen und „Verlusten“ haben dieses Thema für mich sicher nochmals verdringlicht und verstärkt aber nicht erst hervorgebracht oder verursacht. In Glauben und Religion geht es für mich um den Mut und die Kraft zum Leben mit Instabilitäten und Unsicherheiten, zum Annehmen des eigenen „Gebrochenseins“ (mit Leonard Cohen’s Anthem formuliert: „There is a crack, a crack in every. That’s how the light gets in“; vgl. Light, Ascent, 73), der eigenen „Endlichkeit“ und Vulnerabilität um den „Mut zum Sein“, wie Paul Tillich es formuliert hat im Angesicht eines Horizontes unendlicher Barmherzigkeit „trotz alledem“, den unser Glaube uns ahnend und tastend erschließt. In meinem religiösen Such- und Frageweg habe ich viele frühere (auch eigene) Gottesvorstellungen und Gottesbilder hinter mir gelassen, weil sie für mich heute weder theologisch, noch ethisch, noch existentiell weiter plausibilisierbar (oder wie ich es damals formuliert habe „sag- und tragfähig“) sind. Meine Suche nach anderen für mich weiterführenden Möglichkeiten heutiger Gottesrede war geprägt von einer Interpretation von Glaubenaussagen als heuristischer, ahnender und tastender, nicht mit konfessorischer „Gewissheit“ und „Sicherheit“, sondern mit fragmentarischer Vorläufigkeit zu formulierender „proposals to be tested“ (Philip Hefner, The Human Factor, 91). „Glauben“, so habe ich es formuliert, „ist nicht die Suche nach ‚Letzten Sicherheiten‘ (wie in der religiösen Jugendstudie ‚Letzte Sicherheiten‘ von Ziebertz/Riegel aus dem Jahre 2008 suggeriert), sondern eher im Gegenteil, der Mut und die Kraft zum Leben mit Instabilitäten und Unsicherheiten, dazu, uns, wie Catherine Keller es formuliert hat, ‚at home in uncertainty‘ (Face of the Deep, 194) zu machen, das Leben eben mit seinen Brüchen und Rissen, seiner letzten Ungesichertheit und Kontingenz, zu lieben und uns seiner Bewegung ‚dennoch‘ anzuvertrauen.“ Für mich ist eine solche Beweglichkeit und „Ungesicherheit“ des „Glaubensgrundes“ heute nichts mehr, was mich beunruhigen oder mir Angst machen müsste. Im Gegenteil, in ihr sind, meine ich, ungeahnte heilsame und transformative Kräfte verborgen. Sie ermöglicht religiös so etwas wie "abschiedlich leben", im Sinne von Hermann Hesses Schlusssentenz „Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!“ in seinem Gedicht „Stufen“, ein mystisches "Und alles lassen, weil Er mich nicht lässt" (nach dem Buchtitel von Anselm Grün und Andrea Schwarz , obwohl ich dieses "Er" heute deutlich einklammern würde), um ein selbst "Gott lassen um Gottes willen“, wie es für Meister Eckhart zum Lernen mystischer „Gelâzenheit“ gehört. Und damit sind wir wieder beim Thema „Gelassenheit“. Wesentliche spirituelle Impulse verdanke ich hier den mystischen Schriften im Spätwerk von Dorothee Sölle. In ihrem Buch „Die Hinreise“ schreibt Sölle z.B. in Auslegung der biblischen Elia-Geschichte: „Was Elia auf dem Weg zum Horeb gelernt hat, ist das, was Meister Eckhart «Gelâzenheit» nennt, das Lassen seines Selbst, das zugleich ein Lassen seines bisherigen Gottes ist.“ (S. 16) Mystische Gelassenheit ist, so Sölle, nicht stoische Gleichgültigkeit, sondern das radikale Lassen jeder egoistischen Sicherung meines Lebens, auch durch dogmatische Gottesbilder, und das „Absterben“ des eigenen Ich. Das Ziel dieses mystischen Lassenlernens ist „die Geburt Gottes in der Seele“; damit wahre Gottheit in mir geboren werden kann, muss ich zuvor mich selbst und auch „den überkommenen, offenbarten, Heil versprechenden Gott“ lassen (S. 107). Ein immer wiederkehrendes mystisches Bild für solches existentielles und religiöses Lassenlernen ist nach Sölle die Erfrischung der „Dürre der Seele“ durch das Lebenswasser, die „Versenkung“ der Seele und ihr „Schwimmenlernen“ im Wasser im Wasser der Liebe (S. 109), das zugleich ein Sterben und Wiederauferstehen ist, ein mystischer Regress, der aber letztlich immer auf den Progress, auf die „Rückreise“ zielt. In solcher mystischen Versenkung „nehmen wir ein anderes Verhältnis zur Wirklichkeit auf, eine ganzheitliche Beziehung“, in der wir unsere herkömmliche Weltinterpretation „entmächtigen“. Das ist keine religiöse Wellness, sondern spirituelle Arbeit: „Der Weg nach innen ist kein Spaziergang, bei dem man sich an den eigenen Gefühlen berauscht. Es ist eine Form der Selbsterfahrung, die unsere physischen und geistigen Normalzustände aufbricht, so dass Erfahrung, ‚die man früher Seele nannte‘ (Luing) wieder möglich wird.“ (S. 102) Sören Kierkegaard hat einmal von der „Krankheit zum Tode“ gesprochen, dem, was uns Menschen verzweifeln, mitten im Leben sterben, uns selbst und unsere Welt zerstören lässt. Vielleicht ist diese „Krankheit zum Tode“ ja eben unser Klammern und Krallen, unsere Unfähigkeit, loslassen und freigeben zu können, persönlich wie sozial und politisch. Was uns, unsere Welt und unser Leben „krank“ macht und nach unten zieht, das würde ich mit der mystischen Weisheit vieler Religionen als das Klammern und Festhaltenwollen an vergänglichen Gütern, als das nicht „lösen“ und nicht „lassen“ können bestimmen, welches unser Leben und Miteinander lähmt, unsere Erde gefährdet, unsere Welt so konfliktreich und so gewaltsam macht. Nach Buddha wird alles Leiden durch „Anhaften“ („craving“) bestimmt: Weil wir uns an die Dinge klammern und nicht loslassen können, müssen wir leiden, und „Erlösung“ oder „Heilung“ liegt im Lernen, dieses „Anhaften“ zu beenden und für den Fluss des Lebens frei zu werden (vgl. Knitter, Without Buddha). Das „Klammern“ und „Anhaften“ erscheint im Buddhismus wie im Hinduismus oder Konfuzianismus als die eigentliche „Krankheit zum Tode“, von der wir frei werden müssen, um das Leben zu gewinnen. Nicht anders ist es auch im Christentum: Jesus sieht den Menschen durch seine „pleonexia“, sein ständiges „Mehrhabenwollen“ gefährdet (Luk 12, 15). Der „reiche Jüngling“ kann das „Reich Gottes“ nicht gewinnen, weil er von seinem Besitz nicht lassen kann (Mk 10, 17ff. parr.). Wir sollen dagegen leben „wie die Vögel im Himmel“ (Mt 6, 26) und „nicht sorgen für den morgigen Tag“ (Mt 6, 34), weil wir auf die Sorge des Himmels vertrauen und darum jetzt, im Augenblick leben können. Nach Paulus sollen wir „haben als hätten wir nicht“ (1. Kor 7, 29-31), in allem Besitz und Genießen irdischer Güter dennoch frei bleiben, weil sie uns nur auf Zeit geschenkt sind und keine Ewigkeit haben. Im Glauben und im Leben geht es um das „Lassen lernen“ und um die Einübung befreiender Gelassenheit. „It is often said that religious experience is an experience of leave-taking“, schreibt Gianni Vattimo in seinem Essay „The Trace of the Trace“, aber in diesem Lassenlernen steckt auch ein “double return”, ein paradoxes Wiederfinden dessen, was man losgelassen hat, in einer neuen Weise (S. 79ff.). Das „Lassen können“ ist aus meiner Sicht tatsächlich vielleicht die entscheidende religiöse Grundbewegung, die zu lernen und “einzuüben“ es gilt, wenn unser Fühlen und Denken, unsere Gemeinschaften und Gesellschaften, aber auch unsere Wirtschaft und Ökologie, unser soziales und unser individuelles Leben heilsam transformiert werden sollen. Dabei würde ich (auf der Basis von Judentum und Christentum) dieses religiöse Grundmoment der Freiheit und des Aufbrechenkönnens (des „Exodus“) im Unterschied etwa zum Buddhismus, aber auch zu Teilen der christlichen Tradition, weniger asketisch und weltverneinend bestimmen wollen, als es dort vielfach getan wurde: „Lassen können“ heißt nicht „gleichgültig werden“ oder „gering schätzen“. Und es steht insbesondere nicht im Gegensatz zur „Liebe“, zur Gottes-, Selbst- und Nächstenliebe, auf die uns Jesus im „Größten Gebot“ (Mt 22, 34-39) verpflichtet hat. Ich darf die Welt, darf Menschen, darf auch andere „Gaben“ des Lebens „lieben“ und werthalten. Wahre Liebe klammert gerade nicht, ist kein egoistisches „Anhaften“, sondern dankbares Annehmen von Gütern als „Geschenken auf Zeit“, will sie nicht sichern und beherrschen, sondern gibt sie frei. Sie ist „Haben, als hätten wir nicht“, und das gilt sowohl für unsere Liebe zu anderen Menschen wie zu Tieren, zu Gütern und Dingen, zu kulturellen und religiösen Errungenschaften, wie zu liebgewordenen Traditionen und Gewohnheiten. In diesem Sinne gibt es (gegen Augustin) auch ein religiös legitimes „frui“ (genießen), nicht nur ein „uti“ (gebrauchen) der Güter des Lebens. Lassen lernen heißt nicht: allem entsagen, sondern: das Klammern beenden, abschiedlich leben, sich bescheiden und für den Augenblick dankbar sein. Wenn wir Glauben und Religion so, vom „Lassen lernen“, aber auch vom „ergreifen können“ (beides zur rechten Zeit) her definieren, als Bejahung des Vorläufigen, als Kontingenzliebe, als heilsames Leben mit Fragmenten, Grenzen, Rissen und Brüchen, dann kann sie unserer Welt und unserem Leben, meine ich, wirklich so etwas wie „Heil“ und „Erlösung“ bringen, dann heißt Glauben an Gott: „Trotzdem sagen“, niemals aufzugeben, „to hope against hope“ (John Caputo), unser Leben und unsere Welt trotz all ihrer Abgründe zu bejahen und zu lieben. Unser Glaube ermöglicht uns, so verstanden, ohne Illusionen und Überschwang, immer angefochten und „gebrochen“, aber dennoch „hoffnungsstur“ (wie die badische Landesbischöfin Heike Springhart es in ihrem neuesten Buch formuliert hat; vgl. auch ihre früheren, für mich sehr öffnenden und weiterführenden Veröffentlichungen zur „Vulnerabilität“ Grundbegriff theologischer Anthropologie) unser Leben und unsere Welt im Horizont einer „Gnade“ und einer grenzenlosen „Barmherzigkeit“ zu interpretieren, die durch alle unsere Verluste immer wieder hindurchbricht, durch die Brüche und Risse unseres Lebens gleichsam hindurchscheint. So wie es, in für mich unvergleichlicher Weise, wiederum Leonard Cohen besungen hat: „And even though it all went wrong, I’ll stand before the Lord of Song with nothing on my lips but Hallelujah!“ (vgl. Light, Ascent, S. VIII u.ö.) Literatur:
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Artikelnachweis: https://www.theomag.de/142/sts13.htm |