Incorrect -?

Karin Wendt und Andreas Mertin

Die Blumen des Bösen – sie wollen heutzutage nicht blühen

Was wäre aktuell oder sagen wir allgemeiner: was war im letzten halben Jahrhundert eine Position auf einer imaginierten Playlist des Inkorrekten? Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, aus welcher Perspektive man an die Sache herangeht.

Da gibt es die Playlist derer, die man faktisch für mehr als inkorrekt hält. Etwa die Zillertaler Türkenjäger der 90er-Jahre mit ihrem Sequel, den Zillertaler Virenjägern aus der Coronazeit, beides neonazistische Musikprojekte. Und daneben all die anderen Vollidioten, die meinen, im Faschismus ihr Heil zu finden und doch nur schreckliches Unheil anrichten. Über eine derartige Playlist könnte man sich schnell einigen, nur wollte man sie nicht veröffentlichen. Sie sind eigentlich nicht inkorrekt, sondern von Grund auf falsch, sie zeigen die Banalität des Bösen.

Dann gibt es die Playlist der Artefakte, die von der Gesellschaft nur als inkorrekt empfunden wurden, weil sie queer, politisch, sexuell, aggressiv oder was auch immer waren. Das hängt stark von der jeweiligen Zeit ab. Wenn man bedenkt, dass es Madonnas „Like a prayer“ seinerzeit (und das ist nicht einmal 35 Jahre her) zu einem weltweiten Skandal brachte, nur weil sie einen Farbigen/Schwarzen in einer Kirche küsste, dann merkt man, wie variabel die Skala des moralisch Inkorrekten ist und damit auch eine entsprechende Playlist wäre. Gegenüber Madonnas „Like a prayer“ ist Claire Waldoffs inkorrektes „Raus mit den Männern aus dem Reichstag“ von 1926 geradezu revolutionär. Andererseits vermochte Madonna 2006 mit ihrer Liveperformance zu „Live to tell“ sowohl Bill Donohue, kath.net, die römische Kurie als auch die evangelische Bischöfin Käßmann zu verstören – eine unheilige Allianz der nur scheinbar Korrekten.

Und dann gibt es die Playlist der Inkorrekten, die mit Grenzen der Normalität spielen, sie scheinbar überschreiten – der Tod ist so ein Grenzfall des Korrekten/Inkorrekten. Darf man ihn im Musikvideo wie bei „Happiness in Slavery“ zeigen, darf man ihn auf der Bühne performen oder im Museum erleben (Gregor Schneider), im Fernsehen erlebbar machen? Schwierige Fragen, wenn man sie unter dem Aspekt des Korrekten/Inkorrekten erörtert.

Am Faszinierendsten wäre vermutlich eine Playlist, die Johann Benjamin Erhards „Apologie des Teufels“ folgen würde, weil so eine Playlist des Guten von der Bösen nahezu ununterscheidbar wäre. Nach Johann Benjamin Erhard muss der Teufel ja gut erscheinen, damit er seine Zwecke durchsetzen kann. Der Teufel wäre wie Adolf Eichmann ein Buchhalter, vermutlich heute einer der neoliberalen Gesellschaft, die ja auch angeblich alles zu unserem Besten tut. Aber wenn Erhards Beschreibung zutrifft, würden alle gegen die Kategorisierung als Böse oder Inkorrekt protestieren, da der Böse ja den guten Schein wahrt.

Und dann gibt es noch die Playlist der zu Unrecht als inkorrekt Bezeichneten, die einem woken Empörungssturm zum Opfer fallen, weil man die Konsequenzen derartiger Etikettierungen nicht bedacht hat. Das sind all die Maler:innen von Akten, die eine bigotte Gesellschaft heute aufspießt und wollüstig seziert (Link 1 / Link 2), oder all die Philosoph:innen, die neben all ihren fortschrittlichen Gedanken auch mal etwas Falsches gesagt haben. Es gibt eben Leute, deren Lebensinhalt die Jagd auf die zu stürzenden Vorbilder ist. Man erweist sich selbst als bedeutend, indem man Bedeutende kritisiert.

Da gäbe es die Playlist der durch und durch Ambivalenten, die die Welt der Korrekten verachtet und verabscheut und die dennoch gerettet werden sollten, weil sie neben dem Unsinn, den sie unbestritten produzieren, auch gute Musik und gute Lieder machen. Wie gehen wir damit um? Damned For All Time sagen die einen, Rescue him sagen die anderen. Roger Waters wäre so ein Fall, ein Besserwisser, der viel zu oft falsch liegt, dessen moralischer Rigorismus ihn in falsche Allianzen treibt, den man aber anders bewerten sollte als es jene tun, die alles kritisieren, das nicht auf ihrer Anti-BDS-Linie liegt. Aktuell wäre er in Deutschland nach dem fatalen BDS-Beschluss des Bundestages sicher auf der Liste des/der Inkorrekten, aber gehört er dorthin? Und wenn: als was? Als Künstler? Oder als politischer Aktivist? Was auf den ersten Blick so eindeutig erscheint, ist es auf den zweiten nicht mehr.

Vermutlich gibt es darüber hinaus noch hunderte weitere Playlisten des Inkorrekten. Aber greifen wir einige Beispiele heraus und skizzieren und erörtern sie kurz – ohne uns von ihnen distanzieren zu wollen. Anschließend stellen wir eine kleine fragmentarische Playlist zusammen.

Zu den faszinierenden Beispielen gehört etwa Nine Inch Nails „Happiness in Slavery“, das für die einen so verstörend inkorrekt ist, dass es auch noch nach 30 Jahren nicht als Original-Musikvideo auf Youtube zu finden ist und selbst ein Gespräch darüber vom Bot ChatGPT als anstößig empfunden wird, während es für Fans zum kulturellen Ausdruck einer Bandkultur gehört. Das Stück muss verstörend wirken und inkorrekt sein, wenn wir an einer solidarischen Gesellschaft Interesse haben, aber es muss nicht verboten werden. Es gehört nach einer von Hans Peter Duerr beschriebenen urban legend (Traumzeit. Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation) zu jenen Grenzerfahrungen, die wir machen müssen, um zu wissen, was unsere Grenzen sind.

Ein weiteres Beispiel wäre „Smack my bitch up“ von Prodigy, ein Video das mit allen Klischees des Sexismus, des Chauvinismus und der Verrohung spielt, um es am Ende nur scheinbar durch Inversion der Klischees zu konterkarieren. Alles im Video ist scheinbar inkorrekt, aber wird es korrekt, weil es am Ende nicht von einem weißen Mann, sondern einer Frau vollzogen wird?

Würden wir Roger Waters Schrei nach dem Korrekten in „is this the life we really want“ auf die Playlist Art & Culture unter der Rubrik „Incorrect“ verzeichnen, wäre das korrekt oder zutiefst „incorrect“, weil, wie die WELT meint, er der reichweitenstärkste Antisemit ist und deshalb als Inkorrekter gebannt gehört und einer damnatio memoriae unterliegt? Oder wäre es noch viel schlimmer, wenn wir seine Umsetzung des Gedichtes „Lesson From the Kama Sutra (Wait for Her)“ des palästinensischen Dichters Mahmud Darwisch listen würden? Korrekt/Inkorrekt?

[Ich bin] ein Teil von jener Kraft, Die stets das Böse will und stets das Gute schafft. ..Ich bin der Geist, der stets verneint! Und das mit Recht; denn alles, was entsteht, Ist wert, dass es zugrunde geht; Drum besser wär's, dass nichts entstünde. So ist denn alles, was ihr Sünde, Zerstörung, kurz das Böse nennt, Mein eigentliches Element. [Faust I]

Und was ist mit Laibachs Version von „Rossiya“? “United forever in vast, endless space / Created in struggle by unhappy race / We're sunrise of freedom / We're frozen in ice / United forever in great Russia's embrace” – kann/darf man das heute noch performen? Oder ist die künstlerische Brechung, die der Performance von Laibach inhärent ist, gerade heutzutage angesagt? Am 31. März 2023 sollten Laibach in Kiew auftreten, aber es wurde vom Veranstalter abgesagt, weil man sich nicht entscheiden konnte, ob Laibach „korrekt“ oder „inkorrekt“ sei. Es hängt eben von der Perspektive ab. Und Inkorrektes oder gar Russisches ist in Kiew nicht angesagt.

Was ist mit Persiflagen des Schlagers? Ist es inkorrekt, sich über die Trivialität mancher Lieder lustig zu machen oder ist es angesichts der Blödheit mancher volkskultureller Ergüsse höchst korrekt? Nicht einmal ChatGPT begreift die Persiflage des Liedes „Ich hab Dir den Mond gekauft“ von Christian Steiffen und hält es für ein höchst triviales Liebeslied oder einen Schlager im Stil von Reinhard Mey. Aber hat ChatGPT nicht recht? War es nicht auch das Schicksal von Heinz Rudolf Kunze, mit Sarkasmus auf dem Erdgeschoss zu starten und mit „Die Welt ist gut“ im Fernsehgarten zu landen? Droht allen scheinbar Inkorrekten am Ende die Heimholung in das Reich der Konvention?

Und nicht zuletzt ist zu fragen: Was ist mit den verstörenden Schwingungen der Bildenden Kunst? Darf man den eigenen Leib und das eigene Leben in einer alten Synagoge in Tiflis unter den Klängen von „An der schönen blauen Donau“ von Johann Strauss aufs Spiel setzen, wie Wolfgang Flatz dies zu Silvester 1990 tat, oder ist das ethisch und moralisch inkorrekt?

Darf man (s)eine Kastration künstlerisch simulieren oder ist das inkorrekt? Rudolf Schwarzkogler und die um ihn rankenden Mythen des Inkorrekten (bis hin zur fahrlässig in Kauf genommenen Selbsttötung) sind ein typischer Fall des Wiener Aktionismus, der stets mit der Grenze gespielt hat. Man könnte auch an Hermann Nitsch oder Günter Brus denken. Die simulierten Kastrationsräume von Rudolf Schwarzkogler setzten jedenfalls beim bürgerlichen Publikum derart viele Fantasien frei, dass kolportiert wurde, der Künstler sei an den Folgen einer Selbstkastration gestorben. Das simulierte Inkorrekte wurde quasi als ‚korrekte‘ Selbstbestrafung zu Ende gedacht.

Grenzziehungen und Political Correctness

Für das Zusammenleben in einer Gesellschaft spielen das Aushandeln, Definieren und auch Durchsetzen von Grenzen eine wichtige Rolle. Umgekehrt gilt aber auch, dass es in einer freiheitlichen Gesellschaft grundsätzlich möglich sein muss, einmal gezogene Grenzen erneut zu diskutieren, sie in Frage zu stellen und sie bei veränderter Beurteilung auch wieder einzuziehen. Es gibt schützende Grenzen und es gibt verletzende Grenzen. Und es geht immer darum, das eine nicht mit dem anderen zu verwechseln, das eine nicht für das andere zu instrumentalisieren. Es gibt in einer modernen Gesellschaft unterschiedliche Perspektiven und unterschiedliche Verfahren und Fragestellungen, um sich über den Sinn von Grenzen zu verständigen: diskursiv und praktisch, ästhetisch, ethisch oder politisch. So wird es möglich, Grenzen bzw. das, was durch sie ein- und ausgeschlossen wird, sichtbar und diskutabel zu machen. Ein Sonderfall ist die Dissidenz der Kunst. Ihr ist eine Grenzverletzung quasi eingeschrieben, sie kann und muss im Diskursiven geltende Grenzen übertreten oder verflüssigen, weil sie ihren eigenen Gesetzen folgt.

Im Begriff der Political Correctness beschreiben wir die Normen und Werte, auf die sich eine Mehrheit in ihrem Verhältnis zu Minderheiten einigt. Sie unterliegt einem mal langsamen, mal beschleunigten kulturellen Wandel und gilt in gewisser Weise unausgesprochen. Darin liegt ihre Wirkmacht und auch die Gefahr, sich zu Korridoren nur einer Meinung oder zu abgeschotteten Räumen nur einer Interessengruppe zu verengen. Was korrekt erscheint, kann in Wahrheit gerade das Inkorrekte sein. Und manchmal ist es gerade das Inkorrekte, was den blinden Fleck einer scheinbar korrekten Haltung erst sichtbar macht.

Die nachfolgende fragmentarische Playlist „Incorrect“ ist ein Ausschnitt an abweichenden Perspektiven, mithin ein Plädoyer für Differenz in Populärkultur und Kunst aus den letzten sieben Jahrzehnten.


Eine fragmentarische Liste des Inkorrekten
1. Rudolf Schwarzkogler, Performance 2 (1969)

Der Wiener Aktionismus verbindet sich vor allem mit Namen wie Günter Brus, Otto Muehl, Hermann Nitsch und Rudolf Schwarzkogler. Es ist eine durchaus aggressiv gegen die Grenzziehungen der bürgerlichen Gesellschaft gerichtete Kunst. Rudolf Schwarzkogler lernte 1960 Hermann Nitsch kennen und schloss mit ihm Freundschaft und begann 1964/65 mit eigenen Aktionen. 1969 starb er im Alter von nicht einmal 29 Jahren nach einem Sturz aus dem Fenster seiner Wohnung. 1965 und 1966 führte er sechs Aktionen durch, die zu einem Bild führten, das als Bühneninszenierung gedacht war. Nur bei der ersten Aktion war auch Publikum anwesend. Von all den Wiener Aktionisten war Schwarzkogler, wie Christian Kravagna 1993 im Kunstforum International Band 122 schrieb, der Zurückhaltendste: „im Gegensatz zu Günter Brus … spielte sich Schwarzkoglers Analyse von Körpererfahrungen immer auf der Ebene des Symbolischen ab. Abgesehen von toten Fischen wurde niemand verletzt, nicht einmal das ästhetische Empfinden des Publikums. Dieses war – mit Ausnahme weniger Freunde – zu Schwarzkoglers Aktionen nicht zugelassen.“ Aber gerade die so freigesetzte Imagination entlässt dann Bilder des Inkorrekten, der Grenzübertretung, mit der ausgedachten Selbstkastration als finalem Akt.


2. Sid Vicious, My Way (1979)

Der junge Sid Vicious (1957-1979), Bassist der Punkband Sex Pistols, erstmals zu Gast in einem Konzerthaus in Frankreich. Groß angekündigt betritt der Musiker über eine Showtreppe die Bühne. Auf den Sitzplätzen vor ihm ein distinguiertes, gleichwohl begeistertes Publikum. Der Musiker beginnt mit sonorer Stimme das 1968 von Frank Sinatra aufgenommene Lied „My Way“ zu singen. Rosen fliegen auf die Bühne. Nach und nach ändert Vicious seine Darbietung und Intonation: beides wird aggressiver und aus dem gekünstelt harmonischen Gesangsvortrag wird der wütende Auftritt eines Enfant terrible, aus dem amerikanischen Broadway-Hit wird authentischer Punk. Die Zuhörenden sind irritiert, dann verstört und die Situation spitzt sich weiter zu. Das Konzert endet in einem Shutdown. Am Schluss dreht sich der Sänger um und verlässt über die Bühnentreppe, über die er gekommen war, den Konzertsaal. Der Song kommt 1978 als Singleauskopplung der Sex Pistols heraus und wird 1979 posthum auf dem Soloalbum „Sid Sings“ wiederveröffentlicht. Das Video zum Song erscheint 1980 im Mockumentary-Film über die Sex Pistols „The Great Rock ’n’ Roll Swindle“ von Julian Temple.


3. Wolfgang Flatz, Demontage IX (1990/91 )

Demontage IX ist eine Performance des Künstlers Wolfgang Flatz, bei der er sich Silvester 1990/91 kopfüber an ein Seil hängen lässt, und dann wie ein Glockenschlegel gegen zwei Stahlplatten geschwungen wurde. Nach fünf Minuten pendelt er aus und dann tanzt ein Paar im Vordergrund den Walzer „An der schönen blauen Donau“ von Johann Strauss. Einkalkuliert ist die schwere Verletzung des Künstlers bis hin zur tödlichen Verletzung. Der Kontrast von menschlicher Folter und höfischer Musik ist brutal.


4. Nine Inch Nails, Happiness in Slavery (1992)

"Happiness in Slavery" ist ein Song der amerikanischen Industrial-Rock-Band Nine Inch Nails. Er erschien erstmals auf der EP "Broken" im Jahr 1992. Das Lied wurde von Trent Reznor, dem Gründer von Nine Inch Nails, geschrieben und produziert. Der Songtext enthält explizite sexuelle und gewalttätige Elemente. Das Lied erhielt eine Grammy-Nominierung für das beste Metal-Performance-Album im Jahr 1993. Die Musik von "Happiness in Slavery" ist typisch für den Industrial-Rock-Sound von Nine Inch Nails, der durch verzerrte Gitarren, elektronische Beats und eine aggressive Atmosphäre geprägt ist. Das Musikvideo zu "Happiness in Slavery" entstand unter der Regie von Jon Reiss und zeigt eine Performancekunst-Inszenierung des Künstlers Bob Flanagan, der sich selbst foltert und schließlich durch eine Maschine getötet wird. Das Video wurde aufgrund seiner expliziten Darstellung von Gewalt und Sexualität kontrovers diskutiert und von einigen Fernsehstationen und Musiksendern verboten. Das Video beginnt damit, dass Flanagan in einer Art Gefängniszelle auf einem Stuhl festgeschnallt wird, während ihm eine Maschine angelegt wird, die ihn schließlich tötet. Währenddessen sind verschiedene Bilder von Gewalt und sexuellen Handlungen zu sehen, die eine äußerst intensive und schockierende Atmosphäre erzeugen. Das Video gewann 1996 einen Grammy für das beste Musikvideo.


5. Prodigy, Smack My Bitch Up (1997)

"Smack My Bitch Up" ist ein Song der britischen Electronica-Band The Prodigy, der im Jahr 1997 auf dem Album "The Fat of the Land" veröffentlicht wurde. Der Song war ein kommerzieller Erfolg und erreichte in vielen Ländern die Top 10 der Charts. Der Titel "Smack My Bitch Up" wurde jedoch als frauenfeindlich und gewaltverherrlichend interpretiert. Das Musikvideo zu "Smack My Bitch Up" wurde in der Egoperspektive gedreht und zeigt eine Nacht im Leben eines anonymen Protagonisten, der Drogen nimmt, trinkt, sich prügelt, eine Stripperin besucht und schließlich mit einer Frau schläft. Das Video endet mit der Enthüllung, dass der Protagonist eine Frau ist und sich selbst im Spiegel betrachtet. Das Video wurde aufgrund seiner expliziten Darstellung von Drogen, Gewalt und Sexualität oft zensiert oder verboten, aber es wurde auch für seine innovative Inszenierung und seine Kritik an männlicher Gewalt und Chauvinismus gelobt.


6. Massive Attack, Teardrop (1998)

„Teardrop“ ist ein Lied der britischen Trip-Hop-Band Massive Attack. Es erscheint 1998 auf dem Studioalbum „Mezzanine“ und wurde im selben Jahr als Single ausgekoppelt. Die Gruppe experimentiert zu dieser Zeit mit verschiedenen Vokal-Musikern; Text und Gesang in „Teardrop“ sind von Elisabeth Fraser, der ehemaligen Leadsängerin der Cocteau Twins. Im Text geht es um die Erfahrung der Liebe, die im Trauern über einen Verlust bewusst wird. Der Song beginnt mit einem rhythmischen Puls im Klang eines technisch hörbar gemachten Herzschlags. Daraus entwickelt sich ein synkopisch wiederkehrendes Cembalo-Riff, über das sich die Melodie eines ätherischen, sirenenhaften Gesangs legt. So entstehen eine gleichermaßen beschützende wie klaustrophobische Unterwasser-Atmosphäre und das Bild von der Träne als Wasserspiegel, in den das trauernde Subjekt „eintaucht": „Water is my eye / Most faithful mirror“.

Das Video von Regisseur Walter Stern fängt diese ambivalente Atmosphäre der Introspektion durch die Innenaufnahmen eines singenden (künstlichen) Embryos in der Fruchtblase ein. Das Video ist verstörend, weil es die biologische Schwebe vor der Geburt aufzeichnet und uns in den engen Raum zwischen Leben und Tod führt. Subjektwerdung, so scheint es, ereignet sich auf einem schmalen Grat zwischen Aktion und Passion. Das Video gewann 1998 den MTV Europe Music Award für das beste Video.


7. Großstadtgeflüster, Ich muss gar nix (2006)

Die Band Großstadtgeflüster wurde 2003 von Jen Bender und Raphael Schalz in Berlin gegründet, 2008 kam der Schlagzeuger Chriz Falk zur festen Bandbesetzung. Der Musikstil bewegt sich zwischen Elektropop und Post-Punk. In den Texten geht es um persönliche Freiheit und ein Leben abseits der Norm. Der Song „ Ich muss gar nix" erscheint 2006 auf dem Debütalbum „Muss laut sein“ bei X-Cell Records. Es ist ein halb gesungener, halb gesprochener / geschriener Protest gegen gesellschaftliche Erwartungen, „gute" Ratschläge und Normierung – „nein muss ich nicht!“ Die direkte Sprache und die stimmliche Virtuosität der Leadsängerin sprechen für sich. Gegen jede Form der „Einflüsterung" bringt sie sich selbst und ihr Stimmrecht zur Geltung, Grenzen setzen ihr nur der eigene Körper und das was ihr als freier Person einleuchtet. 2022 erhält der Song den Deutschen Musikautorenpreis in der Kategorie Text Rock/Pop.


8. Laibach, Rossiya (2006)

Seit ihrer Gründung steht die slowenische Musikgruppe Laibach unter dem Verdacht des Inkorrekten. Und sie spielen damit auch gekonnt. So kommt es vor, dass Neonazis Laibach einladen, weil sie sie für Verbündete halten, obwohl sie doch eher am anderen Ende des politischen Spektrums stehen. Aber Ironie und paradoxe Intervention ist nicht jedermanns Sache. Gegründet wurde die Gruppe 1990 in Jugoslawien, ihr erstes Projekt wurde gleich verboten wegen „unangemessener Verwendung von Symbolen“. Und was hieß das? Auf den Plakaten war das Schwarze Kreuz von Kasimir Malewitsch gemeinsam mit dem Namen Laibach verwendet worden. Von 1983 bis 1987 war die Band in Jugoslawien verboten. Legendär ist die Re-Inszenierung von „Live is Life“ der Gruppe Opus Dei, der latente faschistoide Motive manifest macht. Ins gleiche Jahr datiert „Geburt einer Nation“, das in die gleiche Kerbe schlägt. Es ist schwer erträglich und doch aufklärerisch zugleich. 2006 erschien dann das Album Volk, auf dem Laibach diverse Nationalhymnen interpretiert. Die russische Nationalhymne, die vorher auch die sowjetische war, wird zur Unkenntlichkeit verzerrt, entpathetisiert, ja dekonstruiert. United forever in vast, endless space Created in struggle by unhappy race We're sunrise of freedom We're frozen in ice United forever in great Russia's embrace. Heute, ein Jahr nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine klingt das alles prophetisch und inkorrekt zugleich, aber es ist vielleicht die einzige Form, mit der das Inkorrekte (die Hymne im Krieg) noch korrekt (nämlich als Dekonstruktion) inszeniert werden kann.


9. Christian Steiffen, Ich hab Dir den Mond gekauft (2013)

Der Musiker und Schauspieler Harald Schwetter tritt seit 2009 unter dem Künstlerpseudonym Christian Steiffen als Schlagersänger auf. Als Entertainer reinszeniert er die Hitwelt des Schlagers und spiegelt deren Verlogenheit, indem er in seinen Texten affirmativ ausspricht, worum es eigentlich geht: Sex, Dirty Talk, Fremdgehen, Narzissmus, Macht und Ruhm. Die so von der Realität „geschleiften“ Schlager wirken schräg und befreiend komisch. In dem Song „Ich hab‘ Dir den Mond gekauft“, erschienen 2013 auf dem Album „Arbeiter der Liebe", geht es um einen One-Night-Stand, aus dem eine Beziehung wurde, in der sich für Steiffen die Langeweile breitgemacht hat. Die Mond-Metapher eignet sich perfekt, um die anfängliche Faszination, die zunehmende Gleichgültigkeit und den Wunsch nach Loslösung sprachlich zu illustrieren. Im Video von Birgit Möller zeigt sich spielerisch und höchst ironisch die ganze Dimension dieser Entfremdung. Der Bot ChatGPT sieht das, wie oben erwähnt, etwas anders und erkennt die Ironie nur bedingt und erst nach Rückfragen an. Ist der Song also doch (nur) ein Liebesschlager?


10. Roger Waters, Is This The Life We Really Want (2017)

Roger Waters gilt aktuell geradezu als die Symbolfigur des Inkorrekten. Seit Wochen laufen, während er auf seiner ersten Abschiedstour durch ganz Europa tourt, politische Initiativen, ihm als politisch Inkorrekten das künstlerische Auftrittsrecht zu entziehen. Das ist keine neue Erfahrung für ihn, sondern begleitet sein Leben seit der Auflösung von Pink Floyd. Man könnte den Eindruck haben, er legt es darauf an. Das mag sein, auch wenn er das Gegenteil beteuert. Antisemitismusbeauftragte in Deutschland versichern, es ginge nicht darum, den Künstler Rogers Waters an der künstlerischen Arbeit zu hindern (und somit gegen das Grundgesetz zu verstoßen), sondern die Intervention gelte ausschließlich dem „Antisemiten“. Nun ist das eine – um es zuzuspitzen – inkorrekte Argumentation, denn auch Antisemiten genießen in Deutschland Grundrechte. Man müsste schon gerichtsfest nachweisen, dass Waters auf den Konzerten selbst antisemitisch agiert. Und dazu reicht es nicht, dass er früher einmal bei Konzerten ein Schwein aufsteigen ließ, auf dem neben vielen anderen Symbolen auch ein Davidstern zu sehen war. Wir sind in der Haltung zu Israel völlig anderer Meinung als Roger Waters, aber so einfach Kunst zu verbieten, weil man die politischen Ideologien des Kritisierten nicht teilt, ist höchst problematisch. Besser wäre es, das politisch Inkorrekte kontrovers zu besprechen, zu widersprechen und die Problematik des Geäußerten herauszuarbeiten. „Nur wenn in der künstlerischen Äußerung ein Übergang zu Aggression und Rechtsbruch zu konstatieren, diese also erkennbar auf rechtsgutgefährdende Handlungen angelegt ist, kann von einer die Einschränkung der Kunstfreiheit legitimierenden Gefahr einer Störung des öffentlichen Friedens ausgegangen werden“, schrieb Hans Jürgen Papier gerade auf dem Verfassungsblog. Das scheint hier aber nicht gegeben zu sein. Dadurch wird Roger Waters nicht korrekt, aber man möchte auch nicht in einem Staat leben, in dem alles, was nicht passt, durchgestrichen wird: „Is This The Life We Really Want?“

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/142/wm09.htm
© Karin Wendt / Andreas Mertin, 2023