Musik weitet Würde

Über Menschenwürde, Musizieren, Hören und Engagement

Wolfgang Vögele

Würde, in Töne und Rhythmen getaucht

Menschenwürde und Musik sind wie zwei Puzzleteile, deren Kanten nicht unbedingt genau aufeinander passen. Man muss andere Puzzleteile hinzunehmen, damit ein genaueres, vollständigeres Bild entsteht. Das soll in diesem Essay versucht werden, über die Anfangsschwierigkeiten hinweg, denn Verbindungen zwischen Musik und Menschenwürde stellen sich nicht auf das erste Nachdenken und Hören ein.

Menschenwürde, seit ihrer Verankerung an prominenter Stelle im Grundgesetz, juristisch prominent gewordener Begriff, zielt darauf, etwas dem Menschen, allen Menschen Intrinsisches zu identifizieren, das allen Personen ohne Beachtung der Unterschiede von Geschlecht, Hautfarbe, Religion, Kultur, Intellekt etc. in gleicher Weise zukommt. Menschenwürde begründet gleiche Grundrechte aller.

Betrachtet man aus dieser Perspektive Musik, dann wird man sagen müssen, daß diese eher Unterschiede hervorhebt. Man kann sich das schnell deutlich machen: Der Heidelberger Soziologe Max Weber bezeichnete sich bekanntlich als religiös unmusikalisch. Ihm fehle Begabung und Neigung zum Religiösen. Diese Aussage ist für die Musik und die Religion von Bedeutung. Wie die religiösen Orientierungen begründen unterschiedliche Formen von Musik Ungleichheiten und damit potentiell Konflikte zwischen Menschen. Weber formuliert das mit Blick auf die Religion. Glaube und Nicht-Glaube, Religion und Nicht-Religion, Religiosität und ihr Fehlen eröffnen ein weites Feld von Differenzen, die genauso auf dem Feld der Musik bestehen: E- und U-Musik, Alte und Neue Musik, Pop und Klassik. Dann – auf andere Weise - Komponisten als Schöpfer, Musiker als Interpreten, Zuhörer als Rezipienten von Musik. Dazu kommen die wenigen, die mit Musik gar nichts anfangen können.

Playlists, Schallplatten- oder CD-Sammlungen, die bevorzugten Konzert-Locations sagen etwas über den Musikgeschmack der ‚User‘, Liebhaber, Dilettanten, der professionellen Musiker und markieren feine soziale Unterschiede (Pierre Bourdieu), Milieus, Neo-Gemeinschaften (Andreas Reckwitz), in denen sich Gleichgesinnte zu Hause fühlen. Es lassen sich solche Unterscheidungen in alle Richtungen weitertreiben: Die einen mußten als Jugendliche Klavierspielen lernen und haben es gehaßt, die anderen mochten es gerne und hörten auch nicht mit dem Üben auf, als sie merkten, daß aus ihnen nie ein Virtuose werden würde.  Soziologisch gesehen ist Musik ein Medium der Differenzierung; es dient dazu, Nähe und Distanz zu präsentieren.

Vereinnahmungen und Unterscheidungen

Manchen ist schon eine solche soziale Differenzierung verdächtig. Ich habe sie auch nur deshalb eingeführt, weil ich über die Nähe zum Würdebegriff nachdenken wollte. Dieser möglichen Vereinnahmung steht gegenüber, daß sich Musik stets solchen sozialen Übergriffen und Funktionalsierungen entzieht. Musik eröffnet einen Kulturraum sui generis. Anders als die Literatur, die sich politisch engagiert geben kann und damit die Nähe zu Politik und gesellschaftlicher Auseinandersetzung sucht, steht die Musik seltsam erratisch da. Sie kann politischen Charakter annehmen (Nationalhymnen, die Internationale, Propagandamusik), zumal wenn sie mit Texten amalgamiert wird, aber das ist keineswegs zwingend.

Sie kann vor allem anderen das Emotionale ansprechen, aber diese reduzierende Perspektive kippt oft ins Schmalzige und Süßliche. Sie kann faszinieren, weil die Zuhörer die virtuosen Leistungen der Aufführenden bewundern, aber damit kippt die Rezeption des Musikalischen in die sportliche Statistik. Wer aufs Tempo achtet, zielt an der Sache vorbei. Zuhörer und Kritiker bedienen keine Radarfallen. Man denke nur an die Aufregung, die unter den Musikern der Neuenheimer Kantorei, Vorläuferin von Schola Heidelberg und Ensemble Aisthesis, ausbrach, als vor Jahrzehnten eine Konzertkritik eines bekannten Werkes von Johann Sebastian Bach unter der Überschrift „H-Moll-Express“ erschien. - Musik unterscheidet. Das ist das eine. Und sie steht für sich selbst, sie entzieht sich auf gewisse Weise ihren Funktionalisierungen. Und das macht sie unberechenbar.

Innerhalb der endlosen Verästelungen des musikalischen Feldes steht die Musik von Schola Heidelberg und ensemble aisthesis unverwechselbar da. Nach den Anfängen in der Neuenheimer Johanneskirche sind beide Ensembles, bei aller Vielfalt der aufgeführten Neuen und Alten Musik in vielem treu geblieben, wofür nicht zuletzt das unermüdliche Beharren ihres Leiters Walter Nußbaum sorgte: Strenge der Aufführungspraxis, genaues Aushören der Intonation, Beachtung der Rhythmik (takke-gamela), auch bei den kompliziertesten kompositorischen Vorlagen, Ausbalancierung von instrumentalen und vokalen Stimmen, unbedingte Vermeidung alles Romantisierenden, Süßlichen, Banalen und Kitschigen. Dazu reflektierte, wohlüberlegte Konzertprogramme, samt ausführlichen Begründungstexten in den Programmheften und gelegentlich mit Begleitvorträgen.

Paradoxie der Musik

Das deutet auf eine weitere Besonderheit der Konzertprogramme des Klangforums: Es begleitete dieses Unternehmen zur Aufführung neuer Musik stets ein intellektueller Furor, der Nußbaum und seine Mitstreiter früh antrieb, die Verbindung zu den großen theoretischen Debatten der Frankfurter Schule und ihren musikalischen Ablegern, aber auch zu den großen politischen Fragen zu suchen, von der Friedensbewegung und der Abrüstung über europäische Faszination an China, die kosmologischen Fragen der Astronomie, die künstliche Intelligenz bis zur Corona-Pandemie. Über die Jahre konnten Beobachter nur staunen über die Hartnäckigkeit, mit der im Klangforum stets neue Themen entdeckt, bearbeitet und in musikalische Projekte umgesetzt wurden. Chor und Orchester sind seit dem Beginn im Neuenheim der siebziger Jahre kleiner, professioneller und projektartiger geworden. Bindungen an Kirchen- und Hochschulmusik sind verschwunden; an ihre Stelle ist – nicht ohne musikphilosophische Gründe – ein freies Musizieren auf selbst organisierter Basis getreten, mit Hilfe von Stadt, Land und Stiftungen. Das ändert aber nichts daran, daß sich die kulturellen Koordinaten des Musizierens, die Philosophie, die Theologie, das wache politische Bewusstsein, kurz intellektuelle Suchbewegungen, über die Jahre gleich geblieben sind, obwohl der zeitgeistliche Kontext, auf den man in den Anfangsjahren nach den Studentendemonstrationen bauen konnte, sich längst in völlig andere Richtungen verabschiedet hatte (vgl. dazu Sarasin).

Wer die Konzerte von Schola und Orchester besucht, konnte und kann sicher darauf rechnen, nicht einer Musik zu begegnen, die sich liebedienerisch in den Hintergrund verabschiedet und sich mit dem Emotionalen und Gefühligen zufriedengibt. Für Walter Nußbaum ist Musik als Klangteppich im Hintergrund eine Variante von Folter und Beleidigung, stattdessen zielen Konzerte und aufgeführte Werke auf Antwortversuche: Antworten und Nicht-Antworten auf wichtige soziale, politische, kulturelle und ökologische Lebens- und Orientierungsfragen. Man könnte nun selbst diese anspruchsvollen, selbstgestellten politisch-philosophischen Aufgaben als eine Art von Funktionalisierung begreifen, die ich gerade kritisch beleuchtet habe. Aber die Konzertprogramme sind sich alle darin gleich, dass Funktionalisierungen unterlaufen werden. Die philosophisch und kulturell eingespielten Fragen erfahren getönte Antworten. Diese aber lassen sich nicht so leicht positionell vereinnahmen.

In dieser paradoxen Verbindung von Denken und Musizieren liegt das produktive Zentrum der unermüdlichen musikalischen Tätigkeit des Klangforums. Dieses organisiert nicht nur die Aufführung von Konzerten, sondern es verteilt Kompositionsaufträge, Forschungsarbeiten, die sich zu großen Projekten auswachsen. Paradox ist diese Verbindung von Denken und Musikaufführung, weil sie Widersprüche enthält und Widersprüche erzeugt, bei Komponisten, bei Musikern und beim Publikum. Und es kommt weiter hinzu, dass diese Widersprüche hingestellt und benannt, sondern in ihrer produktiven Dimension entfaltet werden. Kein Besucher verlässt ein Konzert des Klangforums, ohne dass er Neues gehört und darum Neues zu denken hätte. Reflexion und Musik klingen stets lange nach.

Gleichheit und Freiheit

Ich komme auf den juristischen Begriff der Würde zurück. In ihm steckt zum einen ein Moment der Gleichheit und auch der lebensgeschichtlichen Kontinuität. Würde bezeichnet, was allen Menschen gemeinsam ist, man kann das den intrinsischen Wert des Menschen nennen. Diese Würde gilt erstens für alle Menschen und zweitens für alle Menschen durch ihre Lebensgeschichte hindurch, von der Geburt bis zum Tod. Dazu kommen Momente der Freiheit und der Differenz, denn Menschenwürde begründet auch die freie Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen (Art. 2 GG), was im Grundgesetz unmittelbar an den Menschenwürde-Artikel anschließt. ‚Entfaltung der Persönlichkeit‘ klingt zunächst psychologisierend, als Arbeit an der eigenen Selbstverwirklichung, ist aber tatsächlich in einem sehr viel umfassenderen Sinne gemeint. Sie reduziert sich keineswegs auf die Arbeit an der eigenen Identität, sondern schließt sämtliche Formen der Kreativität (Kultur, Musik, Kunst, Literatur etc.), der Intellektualität (Wissenschaft etc.) und des sozialen Handelns ein. Entfaltung von Persönlichkeit kann nicht binnenpsychologisch reduziert werden, sondern muss durch Weltgehalt, ökologischen und sozialen Kontext sowie einen starken Handlungsbegriff erweitert werden. In dieser Perspektive garantiert Menschenwürde, juristisch verstanden, zunächst die Grundrechtsfreiheiten, die ab Art. 2 GG entfaltet werden, und damit auch die unüberschaubaren Differenzen in einer pluralistischen Gesellschaft. Menschen unterscheiden sich in allem, nicht nur darin, welche Musik sie spielen und hören.

Lebenskunst

In einem nicht-juristischen Strang des philosophischen Diskurses über Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit ist diese freie Entfaltung der Persönlichkeit Lebenskunst genannt worden. Menschenwürde setzt eine Freiheit aus sich heraus, die dazu befähigt, das eigene Leben zu gestalten. Das hat man mit einem missverständlichen Begriff Lebenskunst genannt. Das Missverständnis resultiert daraus, dass Lebenskunst wie der Persönlichkeitsbegriff nicht sebstreferentiell psychologisch aufgefasst werden darf. Wer sein eigenes Leben gestaltet, kann gar nicht anders, als auch die Welt um sich herum zu gestalten. Diese Missverständnisse lassen sich für die Musik produktiv machen.

In der Wahrnehmung der Chancen ihres Lebens entwickeln Menschen Persönlichkeit und Individualität, weil sie in Sorge um sich selbst (griech. epiméleia) Verantwortung für sich und andere übernehmen. Leben findet seinen Ausdruck dann auch darin, dass es in erinnernden, reflektierenden und prospektiven Texten (Tagebücher, Essays, Romane, Lyrik) festgehalten wird. In den Diskussionen über diese Lebenskunst ist gefragt worden, ob auch andere Kunstformen als Medien von Lebenskunst geeignet sind. In der Bildenden Kunst ist das mit dem Skizzenbuch ganz offensichtlich. Das Handy oder die Kamera eignen sich, um trivialerweise einfach das eigene Leben abzufilmen und in den sozialen Medien auszustellen. Aber es fehlt beim Abfilmen für die sozialen Medien das Moment der Konzentration, der Verdichtung, das für Kunst unbedingt nötig ist.

Für die Musik als Medium von Lebenskunst stellt sich ein doppeltes Problem: Denn zum einen spiegelt das tägliche Üben oder Improvisieren nicht einfach Lebensgeschichte wider. Im Gegensatz zu Stift und Papier benötigt es eine erhebliche Ausrüstung, um solche Improvisations- oder Übungseinheiten zu konservieren. Zum anderen ist Musik keine Sprache, die man erlernen könnte, um zu erzählen oder zu reflektieren. Die Diskussionen um die Programm-Musik des 19.Jahrhunderts haben die entsprechende Problematik deutlich vor Augen geführt. Musik kann nicht unmittelbare Abbildung von Wirklichkeit sein.

Diese reflexive Unnahbarkeit von Musik kann aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden. Aus Dissonanzen, Melodien und Harmonien eines Musikstücks kann nicht unmittelbar auf die autobiographischen Befindlichkeiten eines Komponisten geschlossen werden. Es ist auch gar nicht sicher – zweite Perspektive -, welche Wirkung ein Musikstück bei den Zuhörern erreicht.

Musik wohnt insofern ein Moment menschlicher Würde inne, als ihre Komposition, Aufführung und Rezeption beitragen kann zu dem, was Würde, Freiheit und Gleichheit von Menschen ausmacht. Musik ist Medium, um Humanität zu stiften, über die berechtigten biographischen Interessen der Lebenskunst hinaus. Zwingend ist diese funktionale Definition nicht, ein Blick in die Musikgeschichte zeigt, dass Musik (identitäts-)politisch, klerikal und militärisch missbraucht werden kann, auch missbraucht worden ist und wird. Auf der anderen Seite stehen akzeptierte Beispiele: Man denke an bei Beethoven an die Freiheitsrhetorik der Eroica-Symphonie oder an seine Oper Fidelio, an das Pathos einer Erneuerung von Religion und Philosophie in Wagners Ring, man denke an die politischen Interventionen von Komponisten neuer Musik wie Boulez, Nono, Schönberg. Stets findet sich die gleiche Verschränkung von politischem oder philosophischem Anspruch, der in die Musik hineingelegt wird, der bis in den inneren Kern der Komposition hineinreicht, der politisch rezipiert und diskutiert werden kann – und dennoch Musik bleibt, die sich solcher Funktionalisierung immer wieder, wenn nicht verschließt, so doch in ihrer musikalischen Verarbeitung anderes anspricht als Engagement und Intellekt.

Wenn es sich nicht um eine Äquivokation handeln würde, würde ich jetzt behaupten, Musik habe ihre eigene Würde. Diese Redeweise aber könnte zu Verwechslungen führen. Stattdessen spreche ich vorsichtiger von einer auf Menschenwürde bezogenen Binnenlogik der Musik. Man kann diesen Aspekt kompositorisch, aufführungspraktisch oder rezeptiv hervorheben, aber kein Komponist, Dirigent, keine Musikerin und Zuhörerin wird in diesen Denkzusammenhang hineingezwungen.

Für Schola Heidelberg und ensemble aisthesis gilt: Es zeichnet die Aufführungen, einschließlich Konzerten und vieler in Auftrag gegebener Kompositionen gerade aus, dass sie von diesem produktiven Miteinander von Musik, Menschenwürde, Lebenskunst und Philosophie im Innersten leben. Und das bemerken Komponisten, die mit dem Ensemble zusammenarbeiten, die beteiligten Musiker und schließlich die Zuhörer, an die sich die Konzerte richten. Es wären nun eine Vielzahl von Beispielen, Projekten und Programmen aufzuzählen. Ich beschränke mich auf drei Beispiele.

Anfänge

Über die Jahre hat sich ein Stammpublikum herausgebildet, das regelmäßig die Konzerte des Klangforums besucht, vor allem in Heidelberg. Als ich, noch als Student anfing, regelmäßig die Aufführungen in der Johanneskirche und anderswo zu besuchen, hörte ich bei Chor und Orchester ein strenges, kompromissloses Musizieren, das vor keiner Probe zurückschreckte, um bei der Aufführung ein ergreifendes Hörerlebnis zu schaffen. Auch ein musikalischer Laie konnte diesen Unterschied sofort hören, es war der Unterschied zwischen Präzision und Biederkeit, zwischen Ernsthaftigkeit, Souveränität und Kompromisslosigkeit auf der einen und Schludrigkeit, Ungenauigkeit und Gleichgültigkeit auf der anderen Seite. Das ergab eine musikalische Haltung dar, die sich bei anderen Konzerten, die ich besuchte, so nicht fand. Es war ein anderer, neuer – wieder ein Begriff Pierre Bourdieus - Habitus zu spüren.

Jerusalem

Vor ein paar Jahren saß ich an einem Freitagabend in der Neuen Aula der Universität Heidelberg und hörte ein Konzert der Schola Heidelberg. Unter dem Titel „Jerusalem. Stätte zweier Frieden“ versammelte dieses Konzert alte und neue Musik, alte sephardische und alte persische Stücke, Rezitationen aus der hebräischen Bibel, dem Koran und der Vulgata. Zum Abschluss erklang Olivier Messiaens „Couleurs de la Cité Céleste“.

Das Konzert ging nicht auf in der Reproduktion einer Reihe von Werken. Vielmehr handelte es sich um eine Collage von ganz heterogenen Musikstücken, aus deren Kombination etwas Neues entstand. Die ‚Kuratoren‘ des Konzerts nahmen sowohl die aufgeführte Musik wie auch die rezitierten Texte ernst. Sie entwickelten ihre Fragen weiter, mit denen sie selbst an die Werke herangegangen waren. Und so konnten die Zuhörer plötzlich Gemeinsamkeiten zwischen den Vierteltönen moderner Musik und der Mikrotonalität alter persischer Gesangstechnik wahrnehmen. Man hörte Ähnlichkeiten zwischen einem Jahrhunderte alten sephardischen Wiegenlied und den zerrissenen singenden Melodien des Cellostücks eines palästinensischen Komponisten der Gegenwart. Man hörte wie moderne Komponisten in Auftragsstücken die Borduntechniken alter europäischer Kirchenmusik wieder aufnahmen.  Nußbaums Collage von Musikstücken aus drei Religionen setzte zum einen Akzent in dem, was man gemeinhin den „Dialog“ dieser Religionen nennt. Anstatt sich aber abstrakt auf zu diskutierende gemeinsame Formeln zu konzentrieren, setzte dieses Konzert auf einen respektvollen Dialog dreier musikalisch-religiöser Traditionen, in dem sich Stücke nebeneinander erhellen, erklären und befruchten konnten. Die Anlage des Konzerts, die Collage der Stücke sorgte für einen Dialog im tieferen Sinn, der sich nicht in Vereinfachungen und Klischees flüchten konnte und sollte. Die Zuhörer waren davon so überrascht, dass sie ganz am Ende beinahe vergessen hätten zu applaudieren. Und genau aus dieser Überraschung konnte dasjenige Nachdenken entstehen, das über die Dauer des Konzerts hinauswirkte. Vergleicht man dieses Konzert in seinen religionsphilosophischen Inhalten mit dem, was in konventioneller Kirchenmusik aufgeführt wird, so wurde es – in der Aula einer Universität – zum sprechenden Kommentar über den gegenwärtigen Zustand der protestantischen Kirchenmusik, die zunehmend in der routinierten Aufführung stets derselben Großchorwerke erstarrt.

Seufzer

Zuletzt besuchte ich im September 2022 ein Konzert der Schola, das im Karlsruher Zentrum für Kunst und Medien stattfand. Es trug den Titel „Künstliche Intelligenz und das Seufzen der Kultur“ und versammelte Stücke von Bach, Brumel, Josquin, Finnendahl, Xenakis, Stockhausen und anderen. Es war ein langes Konzert, und es enthielt in der Mitte einen Vortrag von zwanzig Minuten. Das Konzerte drehte sich um die Frage, ob künstliche Intelligenz, also Computer, Programme und Algorithmen, in der Lage sind, menschliche Komponisten und Werke zu ersetzen. Komponisten wie Xenakis und Stockhausen haben beim Komponieren stets den Computer zu Hilfe genommen, bei weitem nicht nur für elektronische Zuspiele über Lautsprecher. Einige der Stücke basierten auf ‚menschlichem‘ kompositorischem Material, das mit Hilfe eines Computers bearbeitet, variiert und modifiziert worden war. In der elektronischen Bearbeitung war das Ursprungsstück nicht mehr zu hören.

Es stellte sich wieder der Eindruck der Paradoxie ein, die für die Argumente dieses Essays ganz entscheidend ist. Komponierte Musik stellt Ansprüche, die beim Hören so gar nicht eingelöst werden können. Dafür müssen nicht unbedingt Computer und Lautsprecher aufgebaut werden. Die Zahlensymboliken, die Bach in vielen Kompositionen versteckte, können gar nicht gehört werden. Die philosophischen Überlegungen, die viele Komponisten Neuer Musik mit ihren Stücken verbinden, können nicht unmittelbar ‚gehört‘ werden, sondern die Zuhörer müssen sie sich reflexiv erschließen. (Neue) Musik ist also offen und hermetisch zugleich.

Nach der Pause zeigt sich die Paradoxie auf eine andere Weise in der Motette „Der Geist hilft unserer Schwachheit auf“. Geschrieben wurde das Werk als Trauermusik für einen verstorbenen Kollegen Bachs. Trauer bedeutet Sprachlosigkeit, die Bach dann in das paulinische Zitat aus dem Römerbrief kleidete, wonach der sprachlose Mensch beim Beten auf die Hilfe des Heiligen Geistes rechnen können. Trauer und Sprachlosigkeit erhalten so eine Ausdrucksform, die Paulus in die stellvertretende Tätigkeit des Geistes, Bach wiederum in Musik kleidet. Musik ersetzt die Trauer des sprachlosen Menschen, der in seiner Verzweiflung zu nichts anderem fähig ist als zu einem Seufzer. Ein Seufzer drückt ein Gefühl aus, aber er versprachlicht es (noch) nicht. Wer seufzt, tut einen vernehmlichen tiefen Atemzug. Das Seufzen ist also mit dem Sprechen verwandt, aber nicht mit ihm zu identifizieren. Die erwähnte paradoxe Binnenlogik der Musik besteht in dem, was zugleich ihre – im tieferen Sinne des Wortes – Sprachlosigkeit (trotz Liedern, Opern und Singspielen) und ihre Vieldeutigkeit ist. Die Programmplanung des Karlsruher Konzert ließ sich auf das musikalische Spiel mit dem Seufzer ein und wollte trotz Rationalität und Intellektualität des Menschen ernst nehmen. Noch einmal: Darin liegt das Überraschende und Verblüffende der Konzertprogramme.

Fermate

Der Vortrag, der in diesen Konzertabend eingebettet war, konzentrierte sich auf die Frage, ob künstliche Intelligenz einmal Intellekt, Musikalität, Würde und Person des Menschen ersetzen kann. Die Antwort, die der Heidelberg Mathematiker Vincent Heuveline darauf gab, klang skeptisch. Schwache Formen künstlicher Intelligenz sind ohne weiteres heute schon möglich. Ihre ‚starken‘ Formen aber, die Denken, Person und Würde des Menschen ersetzen könnten – davon ist die Naturwissenschaft noch weit entfernt. Bis es so weit kommt, braucht es statt Bildschirmen, Lautsprechern und Rechnern noch Komponisten, Sängerinnen, Instrumentalisten, Dirigentinnen und Zuhörer.

Auch das ist Würde: singen, streichen, trommeln, dirigieren, hören, reflektieren, klingen lassen.

Literatur

Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, Berlin 2017; Philipp Sarasin, 1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart, Berlin 2021; Wilhelm Schmid, Philosophie der Lebenskunst, Frankfurt/M. 1999; Wolfgang Vögele, Menschenwürde zwischen Recht und Theologie. Begründungen von Menschenrechten in der Perspektive öffentlicher Theologie, Öffentliche Theologie Bd. 14, Gütersloh 2000; ders., Weltgestaltung und Gewißheit. Alltagsethik und theologische Anthropologie, Protestantische Impulse für Gesellschaft und Kirche 4, Münster 2007; ders., Con moto agitato. Ein kirchenmusikalisches Thema mit zwölf Variationen und einer Coda, tà katoptrizómena, Heft 103, Oktober 2016, https://www.theomag.de/103/wv26.htm.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/142/wv079.htm
© Wolfgang Vögele, 2023