Die Alle-Kinder-Bibel

Ein kritischer Essay

Andreas Mertin

Übersetzungen und Illustrationen

Die Bibel – vielleicht sollte man das vorab in Erinnerung rufen – ist kein illustrierter Text. Die Selbstverständlichkeit, mit der wir heute Bibelillustrationen als normal voraussetzen, darf nicht vergessen lassen, dass illustrierte Bibeln späte Produkte sind und illustrierte Kinderbibeln noch spätere. Und man sollte daran denken, wie stark die Bibelillustration an die ökonomisch-technologische Entwicklung und die Ideologie der bürgerlichen Klasse gebunden ist. Illustrierte Bibeln zur Zeit Martin Luthers waren selbst für eine Einzelgemeinde finanziell kaum zu stemmen, kolorierte Ausgaben schon gar nicht.

Die Bildauswahl wurde von Luther selbst penibel überwacht:

„Luther hat die Figuren in der Wittenbergischen Biblia zum Teil selber angegeben, wie man sie hat sollen reißen oder malen, und hat befohlen, dass man aufs einfältigst den Inhalt des Texts sollt abmalen und reißen, und wollt nicht leiden, dass man Überlei [überflüssige] und unnütz Ding, das zum Text nicht dienet, sollt dazu schmieren." (WA Bibel, Band 6, Seite 87)

Ein erster sich an Kinder wendender illustrierter „Text“ war das Orbis sensualium pictus des reformierten Theologen Johann Amos Co­me­nius (1592-1670), der mit Schaubildern in die lateinische und deutsche Sprache einführte. Dabei war eine gehobene Schicht angesprochen, deren Kinder für die Universität bzw. den Kleriker-Stand vorbereitet wurden. Der Theologe Johannes Melchior (1646-1689) schuf dann im 17. Jahrhundert eine reformierte Kinderbibel (ohne Bilder), die den Bibeltext auf das reduzierte, was man meinte, Kindern zumuten zu können.

Eine speziell für junge Menschen entwickelte christliche Ikonographie entwickelte sich dagegen spät. Erst im 19. Jahrhundert gab es mit der populären „Bibel in Bildern“ des Julius Schnorr von Carolsfeld (1794-1872) eine auch in der gesamten Bevölkerung verbreitete Volks- und Kinderbibel. Möglich machte dies die Technik des Holzstichs, welche hohe Auflagen bei illustrierten Büchern zuließ. Im 20. Jahrhundert wurden diese Bilderbibeln dann koloriert, um eine noch eingängigere Rezeption zu ermöglichen. Sie prägen den Bildsinn bis heute. Je nach Denomination, die sich diese Bilder aneignete, wurden auch Eingriffe in die Bildkonzeptionen vorgenommen, damit diese den theologischen und ideologischen Vorgaben entsprachen (vgl. dazu den Artikel Postkartentheologie in dieser Zeitschrift).

Bei all dem darf man nicht vergessen, dass illustrierte Bibeln, neben der schon mühevollen Übersetzungsarbeit aus einer fremden Sprache in eine andere, einen weiteren Übersetzungsakt stemmen müssen: den von einer (sprachlichen) Bilderwelt in eine andere. Visuelle Kultur ist eben auch eine Auslegung und Deutung der Texte. Bilder sind keinesfalls neutral, sondern eben immer auch visuelle Argumente.

Das gilt auch für Sprachbilder, wie Jürgen Ebach in seinem Aufsatz „Übersetzen – üb‘ Ersetzen“ am Beispiel von Jeremia 1,11f. gezeigt hat. Der Ursprungstext lautet in der Einheitsübersetzung: Was siehst du, Jeremia? Ich antwortete: Einen Mandelzweig sehe ich. Da sprach der Herr zu mir: Du hast richtig gesehen; denn ich wache über mein Wort und führe es aus. Das ist für heutige Verhältnisse kaum verständlich: was hat der Mandelzweig mit dem Wachen des Herrn zu tun? Die Lutherbibel von 1984 überträgt deshalb so: Jeremia, was siehst du? Ich sprach: Ich sehe einen erwachenden Zweig. Und der HERR sprach zu mir: Du hast recht gesehen; denn ich will wachen über meinem Wort, dass ich‘s tue. Sie greift damit ein Sprachspiel der hebräischen Bibel auf, die mit der Lautähnlichkeit von Mandelbaum und Wachen spielt. Ebach schreibt, es gäbe auch die Möglichkeit, dieses Sprachbild-Spiel im Deutschen nachzuvollziehen, indem man schlicht die Pflanze austauscht und vom „Wacholder“ spricht.

Man muss sich also zwischen Texttreue und Verständlichkeit entscheiden. Jedes Mal gibt es Reibungsverluste, über die man nachdenken muss. Das gilt noch einmal verschärft, wenn man die Konnotationen mitbedenkt, die (Sprach-)Bilder erzeugen oder tragen. Bei all dem geht es auch, um noch einmal Jürgen Ebach zu zitieren, „um das Recht des Textes der hebräischen Bibel und seiner jüdischen Hörer und Leserinnen gegen die christliche Rezeptionsgeschichte.“

Was wäre dann die angemessene Illustration eines Klippdachses aus der hebräischen Bibel übertragen für eine westeuropäische Bevölkerung, die die gleichen Assoziationen transportiert wie für die ursprüngliche Adressat:innen? Das zu beantworten ist gar nicht so einfach, denn in der hebräischen Überlieferung ist der Klippdachs – genauso wie der Hase – ein unreines Tier. Es ist einsichtig, dass die Assoziationen ganz unterschiedliche sein können. Wie wird man dem gerecht? Kann man sich einfach an der Fantasiewelt westeuropäischer Kinder orientieren (und zum Beispiel nordamerikanische Waschbären abbilden, die es in Israel nie gegeben hat) oder gilt es auch die intentio auctoris und die intentio operis zu berücksichtigen?

Jüdische Kinderbibeln

Bevor ich auf die Alle-Kinder-Bibel eingehe, möchte ich auf einen weiteren Text verweisen, der gut die Komplexität des Vorhabens zeigt. Dieser Text ist Dorothea M. Salzers Aufsatz über „Kinderbibeln als Mittel jüdischer Bibelauslegung“ in dem Buch „Deutsch-jüdische Bibelwissenschaft“. Ich bin auf diesen Text gestoßen, weil meine erste Reaktion auf die Alle-Kinder-Bibel der Gedanke war, dass die primären (kindlichen) Adressat:innen zumindest der hebräischen Bibel jüdisch waren, und fragte mich, wie das Judentum mit illustrierten Kinderbibeln umgeht und nach welchen Gesichtspunkten es das gegebenenfalls macht. Und das war sehr aufschlussreich.

Als Adaptionen des autoritativen biblischen Textes, die darauf abzielen, diesen einem jungen jüdischen Lesepublikum nahezubringen und seine Relevanz für das zeitgenössische Leben zu vermitteln, folgen diese Kinderbibeln der pädagogischen, philosophischen, aber oftmals auch politischen Agenda ihrer Verfasser. [116]

Man könnte auch sagen: Kinderbibeln sind immer auch ideologische Projekte zur Prägung kommender Generationen. Deshalb braucht nun auch niemand beim Erscheinen einer Alle Kinder Bibel aufzuschreien und zu beklagen, dass hier ein ideologisches Konzept vorläge. Derartiges ist allen Kinderbibeln inhärent. Es ist allenfalls die Frage, ob man die jeweilige Ideologie teilt.

Dorothea M. Salzer listet fünf Mittel auf, durch die sich jüdische Kinderbibeln charakterisieren lassen, sozusagen fünf Entscheidungen, die sie für ihr jeweiliges Projekt treffen müssen. Und jede dieser Entscheidungen, das zeigt sich schnell, ist mit bestimmten Wertungen verbunden:

1)   die gezielte Textauswahl,

2)   die Einteilung in kleine Erzähleinheiten und die Herstellung
formal und inhaltlich neuer Textversionen,

3)   die Kommentierung der biblischen Texte,

4)   den Zusatz sonstiger Peritexte,

5)   sowie Illustration. [117]

Das wichtigste Mittel der Gestaltung ist die Textauswahl. Prinzipiell kommt ja die gesamte hebräische Bibel in Frage, aber die Auswahl erfolgt nicht zufällig, sondern ist pädagogisch motiviert. „Immer wieder genannt wird in diesem Zusammenhang der Begriff der ‚Sittenlehre‘, die es nach Ansicht der Autoren mit Hilfe der biblischen Texte zu vermitteln gelte.“ [119] Insbesondere die Sexualität und die Familienverhältnisse der biblischen Figuren sind dabei heikle Themen. Aber auch unter dramaturgischen Aspekten werden ganze Teile der Bibel ausgelassen. So etwa die Prophetengeschichten, insofern sie sich nicht an herausragende handelnde Figuren binden konnten. Die Textauswahl ist jedenfalls der ideologieanfälligste Teil des Unternehmens.

Die Einteilung in kleine Erzähleinheiten und die Herstellung neuer Textversionen einschließlich konsistenter Figurendarstellungen ist ein Charakteristikum fast aller Kinderbibeln, sie erlauben es, Geschichten so zu formen, dass es den Intentionen der Urheber:innen entspricht: „Unter dem Aspekt der Moralisierung wird dies in Bezug auf die Figurengestaltung sehr deutlich: Der Charakter biblischer Protagonisten wird als konsistent dargestellt und charakterliche Ambivalenzen der Figuren werden dabei vereinfacht, das heißt, sie werden zu positiven Identifikationsfiguren oder aber auch als abschreckende Negativbeispiele gestaltet, ohne dabei Changierungen zuzulassen.“ [122]

Die Kommentierung, das Framing der Texte kann eine weitere Form der Kinderbibeln sein. Diese Kommentierungen ordnen das vorher erzählte in einen lebensweltlichen Kontext ein. Es geht sozusagen um die Moral der Geschichte. Es gibt dabei auch Kommentare, die sich direkt in unmittelbarer Ansprache an die Kinder wenden.

Die Zufügung von Peritexten. Zu den Peritexten zählt Salzer neben historischen Erläuterungen auch die erkenntnisleitenden Zwischenüberschriften, „die den Fokus oder die Interpretationstendenz der einzelnen Erzähleinheiten verdeutlichen.“

Als letztes nennt Dorothea M. Salzer schließlich die Illustrierung der ausgewählten Texte. Für sie sind „Illustrationen zu biblischen Texten nichts anderes als Interpretationen der Texte.“ Und sie zeigt im Vergleich zweier unterschiedlicher Illustrationen, wie durch die Konstruktion der Bilder (orientalisierend, rationalisierend) unterschiedliche Akzente gesetzt werden.

So wurde ich auf die Kinder-Bibel von Otto Geismar aus dem Jahr 1928 aufmerksam, ganz im Jugendstil angelegt. Hermeneutisch überträgt der Künstler zwar die Situationen durchaus auch in die Gegenwart, vereindeutigt sie aber nicht, indem er nur eine spezifische Lesart zulässt. Ganz im Gegenteil, er überlässt es den Nutzer:innen, die Bilder erzählerisch in ihrem eigenen Sinn zu füllen. Otto Geismars Bilder-Bibel ist sicher ein ästhetischer Maßstab für alle späteren Projekte.

In der Zusammenfassung konstatiert Salzer, dass die Mehrzahl jüdischer Kinder-Bibeln durch eine „moralisch-praktische Anwendung der biblischen Lehren ausgerichtete Hermeneutik“ gekennzeichnet ist, wodurch „das innerweltliche Erlebnis des Einzelnen in den Vordergrund gerückt, und als rein äußerlich oder gar inhaltsleer gedeutete Rituale ... vernachlässigt“ wurden.

Im Gegenzug werden dadurch die bürgerlichen Tugenden und Werte „sakralisiert“: „Moralisierung, Individualisierung, Verinnerlichung und die Wertschätzung bürgerlicher Tugenden waren klassische Bestandteile bürgerlicher religiöser Praxis. Wenn diese Tendenzen sich nun auch in jüdischen Kinderbibeln nachweisen lassen, so verdeutlicht dies, dass der Rückgriff auf die Hebräische Bibel dazu diente, die jüdische religiöse Praxis in den Horizonten bürgerlicher Werte zu deuten und zu verändern, und andererseits Religion und Tradition zu Trägern und Multiplikatoren dieser Werte zu machen.“ [134]

All das gerade Erörterte gilt es auch für die in den Blick zu nehmende Alle-Kinder-Bibel zu bedenken. Wie kommt sie zu ihrer konkreten Textauswahl, was wird weggelassen? Wie werden biblische Texte reformuliert, entspricht diese Veränderung zumindest der intentio operis, wenn schon nicht auf die intentio auctoris Rücksicht genommen wird? Findet eine Kommentierung der Bibeltexte statt? Werden Texte durch Peritexte (z.B. Überschriften) gegliedert? Und schließlich: Wie ordnet sich die Illustration in die Geschichte dieser Medialisierung eines Textes ein?

Zwischenschritt: Kinderbuch Bibel?

Diese Fragen stellen sich somit nicht nur an jüdische Kinderbibeln, wie Dorothea M. Salzer es oben getan hat, sondern an all die anderen, ich hätte beinahe geschrieben unzähligen, Kinderbibeln.

Das Religionspädagogische Amt der Ev. Kirche von Hessen-Nassau hat 2006 einen Überblick über 30 Kinderbibeln erstellt. Und sie fragen dort gegenüber christlichen Kinderbibeln Ähnliches, wie Salzer für die jüdischen. Nur, dass sie noch einige weitere Fragen stellen müssen, z.B. nach dem Verhältnis von hebräischer Bibel und neutestamentlicher Deutung – auch in empirischer Hinsicht. Oder auch nach der Qualität der Illustrationen (wobei – abgesehen von einer Bibel für junge Leute – keine der untersuchten Kinderbibeln das Niveau zeitgenössischer Kunst erreicht – das war bei der Kinderbibel von Geismar anders.)

Dann wird nach der theologischen Ausrichtung gefragt, was ja immerhin schon voraussetzt, dass jede dieser Bibeln nur eine bestimmte Perspektive widerspiegelt. Und schließlich wird über Einsatzmöglichkeiten nachgedacht. Auch diese Bewertungen und Charakterisierungen sind durch ihre Zeit geprägt, aber sie geben zumindest einen Einblick in die Vielfalt der Szene der Kinderbibelproduzent:innen.

Die Alle Kinder Bibel

Karimé, Andrea (2023): Alle-Kinder-Bibel. Unsere Geschichten mit Gott. Unter Mitarbeit von Anna Lisicki-Hehn. Neukirchen-Vluyn.

[Klappentext] Die Bibel ist vielfältig! Ebenso wie die Menschen, von denen sie berichtet. Die 21 ausgewählten Bibelgeschichten werden von Andrea Karimé rassismus- und di­ver­sitätssensibel, einfühlsam und poetisch, lebendig und kindgerecht erzählt. Die liebevoll gestalteten Illustrationen von Anna Lisicki-Hehn zeigen Held*innen, mit denen sich kleine Leser*innen mit unterschiedlichen Erfahrungen und Hintergründen identifizieren können. Online-Zusatzmaterialien unterstützen Vor­leser*innen zu Hause und in pädagogischen Einrichtungen dabei, einen weltoffenen Glauben zu vermitteln. Eine Kinderbibel, die alle Kinder feiert. Für das Vor- und Grundschulalter. Mit einem Vorwort von Sarah Vecera (Autorin von 'Wie ist Jesus weiß geworden?') [/Klappentext]

Das Buch umfasst 110 Seiten, die Kinderbibel selbst füllt dabei 90 Seiten. Hinzu kommen Vorwort, Einleitung und erläuternder Schlussteil. Die Erzählungen zum Ersten Testament gehen mit 11 Geschichten von Seite 9 bis 65 (also 56 Seiten), die des Zweiten Testaments mit zehn Geschichten von Seite 67 bis 99 (also 32 Seiten).

Die unterschiedlichen Schrifttypen und -größen, die verwendet werden, haben jeweils spezifische Funktionen. Die Überschriften und Merksätze sind größer gesetzt, der Vorlesetext kleiner. Punkt 9 Schrift finde ich allerdings schon nicht mehr (vor-)lesefreundlich, zumindest gilt das nicht mehr als barrierefrei. Da die Alle-Kinder-Bibel auch gegen Ableismus kämpft, wäre hier etwas Sensorium für die Behinderungen älterer und/oder sehbehinderter Menschen, die Kindern aus dem Buch vorlesen, angebracht gewesen. Und wenn man sich für eine illustrierte Alle-Kinder-Bibel entschieden hat, sollte es meines Erachtens keine Seiten geben, die rein aus Text bestehen. Oft ist die Situation ja auch die, dass man zusammen mit einem Kind am Tisch sitzt, vorliest und das Kind dann entsprechende Menschen, Tiere oder Pflanzen auf dem Blatt entdeckt und identifiziert. Bei den klassischen Pettersson-und-Findus-Büchern, die ebenfalls mit dem Kindergartenalter ansetzen, klappt das ja auch bestens.

Insgesamt gefällt mir die Alle Kinder Bibel aber ausgesprochen gut. Einleitend und im Nachwort werden die zentralen Kriterien der Erstellung benannt. Das ist gut und nachvollziehbar dargelegt.

Fragen der Inkulturation

Begründet wird die Notwendigkeit der Alle-Kinder-Bibel (im Sinne einer Not, die nun gewendet wird), mit der falschen Inkulturation, die traditionelle Kinderbibeln immer noch vornehmen. Tatsächlich inkulturieren diese visuell die dargestellten Figuren für weiße Mittelschichtskinder. Das ist die Programmatik der visuellen Kultur des Christentums eigentlich seit der konstantinischen Wende. Man bildet nicht die Vielfalt der Schöpfung oder der Menschheit ab, sondern fokussiert sich auf eine (weiße) Zielgruppe. Das war kein Unfall, sondern geschah bewusst.

Niemand glaubt, dass die biblische Geschichte im Rheintal stattgefunden hat, auch wenn Matthäus Merian sie in der Merian-Bibel 1625-30 dort platziert hat. Er machte sie durch diese Einbindung den Adressat:innen nur einsichtiger. Erst das 19. Jahrhundert wird dann mit seinem Hang zum Orientalismus – einer Folge des Kolonialismus – dazu übergehen, biblische Geschichten zu orientalisieren.

Trotzdem blieb das Problem, dass, wenn man sich an den Adressat:innen orientiert, die Bilderbibeln die gesellschaftliche Wirklichkeit heute zunehmend nicht mehr spiegeln. Das Motiv des Spiegels (also das katoptrische Universum) ist ja zweifach zu denken: als Spiegelung der Ursprungssituation oder als Spiegelung der Gesellschaft der Adressat:innen. Das Argument, dass Jesus nicht weiß war, ist ein veristisches Argument im Blick auf die Ursprungssituation, das Plädoyer, die diversen Rezipientinnen abzuholen, ist ein Argument im Blick auf die jeweilige Gegenwart.

Während das eine argumentiert, man müsse die Wirklichkeit des Jahres 30 in den Bildern spiegeln, argumentiert das andere damit, man müsse die Wirklichkeit der Rezipient:innen der Gegenwart in den Bildern spiegeln. So platziert etwa die Bilderbibel von Otto Geismar die Segnung Jakobs in eine Krankenhausszene der 20er Jahre.

In diesem Sinn kann man auch die Alle-Kinder-Bibel als den Versuch beschreiben, das zweite Argument der Spiegelung von Realitäten in Bildern stark zu machen: Der Ansatzpunkt ist dann nicht, wie es war, sondern woraufhin es heute gesagt werden muss. Und diejenigen, die die Alle-Kinder-Bibel kritisieren, müssen zeigen, unter welchem Aspekt sie denn das Geschehen für Kinder in Bild und Text evident machen wollen: veristisch im Blick auf die Ursprungssituation (da landet man, so fürchte ich, in einem schlecht kaschierten Orientalismus), oder orientiert an den Adressat:innen (dann führt an der Konzeption der Alle-Kinder-Bibel kein Weg vorbei).

Aber auch die Entscheidung für eine zeitgenössische Inkulturation bewahrt nicht vor veristischen Kriterien. Die biblischen Geschichten sind nicht frei gestaltbare Erzählmasse, sondern sind durchaus mit einer intentio auctoris und einer intentio operis verbunden, die auch bei einer zeitgenössischen Umsetzung mitbedacht werden sollten.

Übersicht der Geschichten und ihrer Überschriften

1

Wie die Welt auf die Welt kam

nach Genesis 1

2

Ein Schiffhaus voller Tiere 

nach Genesis 6-9

3

Ein Lachzelt und ein Engel in der Wüste

nach Genesis 12-21

4

Mutige Frauen, ein kluges Mädchen und ein Schilfjunge

nach Exodus 1-2

5

Mose und das Feuerwunder – Der brennende Dornbusch

nach Exodus 3-4

6

Mose und das Meereswunder 

nach Exodus 13-15

7

Mose und die Steintafeln

nach Exodus 19-20

8

Die mutige Rut

nach Rut 1-4

9

Jeremia hat Gottes Wörter im Mund 

nach Jeremia 1-2

10

Nabots Weinberg

nach 1. Könige 21

11

Hallelujah

nach Psalm 113

-

12

Maria singt ein Lied

nach Lukas 1-2

13

Eine Familie muss fliehen

nach Matthäus 1-2

14

Jesus, der Mond, die Eidechse und die Kinder

nach Markus 10

15

Bartimäus, die Biene und das Licht

nach Markus 10

16

Das Festessen im Himmel 

nach Lukas 14

17

Zachäus im Lächelmantel 

nach Lukas 13

18

Jesus stirbt

nach Markus 14-15

19

Jesus lebt

nach Markus 16

20

Windsprache und Wunderregen

nach Apostelgeschichte 2

21

Paulus schreibt einen Brief

nach Galater 3

                                                                    

Wäre dieses Projekt vorgelegt worden unter dem Titel „21 Bibelgeschichten voller Vielfalt“, so wie es auf der Rückseite des Buches steht, wäre ich ganz einverstanden. Denn genau das bietet dieses Buch. Und könnte so in Zukunft durch weitere aufregende und anregende biblische Geschichten voller Vielfalt erweitert werden. Als „Bibel“ sehe ich das Projekt dagegen (noch) nicht wirklich. Dazu ist mir die Wahl der Geschichten theologisch zu willkürlich (und gleichzeitig zu konventionell – da fehlte evtl. der Mut) und nicht die Breite der biblischen Erzählwelt abdeckend.

Die Schöpfungsgeschichte zu erzählen, ohne das Ende des menschlichen Lebens im Garten Eden und dessen Folgen zu thematisieren, die ja gerade die besondere Verantwortlichkeit der Menschen betonen, erscheint mir theologisch nicht plausibel. Wenn auf den „Sündenfall“ verzichtet wird, warum dann überhaupt noch die Geschichte von der Kreuzigung erzählen? Weil es sich um ein bedauerliches Geschehen rund um einen bedeutenden Menschen handelt? In den klassischen heilstypologischen Gegenüberstellungen der Kirchen- und Kunstgeschichte antwortet die eine Geschichte doch auf die andere. Kain und Abel wegzulassen kann man bewahrpädagogisch begründen, versucht dadurch aber von Anfang an, alles Befremdende auszuräumen. [Die jüdische Kinderbibel von Geismar macht das nicht.]

Der Noach-Geschichte werden immerhin zehn Seiten des Buches gewidmet, auch hier wird manches weggelassen. Obwohl die gesamte Menschheit mit Ausnahme einer Familie stirbt, wird die Drastik der göttlichen Intervention nicht deutlich. Die jüdische Kinderbibel von Geismar aus dem Jahr 1928 zeigt hier (etwa im Blatt 7) trotz ihrer minimalistischen Darstellung mehr Realismus. Ich verstehe, dass man das vermeiden will, aber die Bibel ist nun einmal voll von solchen Geschichten. Erst der bürgerliche Teil der Aufklärung hat beschlossen, Kinder davor zu bewahren.

Dass die Geschichte vom Turmbau fehlt, ist unter dem Aspekt der wahrnehmbaren Vielfalt der Welt schade und nimmt damit auch der Pfingstgeschichte ihre heilstypologische Logik. Von Abraham und Sarai wird erzählt, von Jakob und Esau nicht, ebenso wenig von Josef und seinen Brüdern (das hat Folgen bei der Selbstvorstellung Gottes, weil dann nur noch vom Gott Abrahams und Sarais gesprochen wird).

Von den Mose-Geschichten wird zunächst die Geburtsgeschichte erzählt. Das ist naheliegend und entspricht auch einer sehr frühen visuellen jüdischen Tradition, als sich erstmalig Bilder explizit an Kinder wendeten: dem unteren Bildpanel der Bilderwand von der Synagoge in Dura Europos, von dem man ausgeht, dass es für Kinder entworfen wurde (vgl. The Torah, Retelling the story of Moses). An dieser Stelle hätte ich mir angesichts der anschaulichen Geschichte auch mehr Illustration in der Alle Welt Bibel gewünscht.

Der brennende Dornbusch wird nun gerade unter ihren Wunderaspekten und nicht unter der Erfahrung der Selbstvorstellung Gottes akzentuiert. Von den Zeichenhandlungen werden dann aber nur Stock und Schlange, nicht aber die weiße Haut und das blutige Wasser erwähnt. Diese Logik erschließt sich mir nicht. Die Dramaturgie der Dornbuschgeschichte ist außerordentlich bewegend und führt tief in das Verstehen traditioneller Religion ein. Die herausgehobenen Orte, der heilige Boden, der mit Schuhen nicht betreten werden darf – das alles sind Realitäten, denen wir auch heute noch in interkulturellen Gesprächen begegnen. Darauf zu verzichten ist eigentlich schade. Zwar wird visuell gezeigt, dass Mose die Schuhe ausgezogen hat, aber warum, erschließt sich nicht.

Dass Gott sich selbst in einem Lied als queer besingt – geschenkt, mir ist es zu ostentativ. Intuitiv hätte ich gesagt, es wäre besser gewesen, jene Lösung zu wählen, die die Bibel in gerechter Sprache für das Gebet nach Jesu Anweisung macht: „Du bist uns Vater und Mutter im Himmel“. Dementsprechend könnte man ein Lied von Mose formulieren, in der Gott aus der sexuellen Attribuierung herausgenommen wird, ihm aber eine Vielfalt der Wahrnehmungen zugeschrieben wird – was der hebräischen Erzählwelt ja durchaus auch entspräche.

Das Gespräch mit dem Pharao und die Zehn Plagen werden nicht erzählt, obwohl sie durch die Stock-Schlange-Zeichenhandlung ja eigentlich vorbereitet sind. Es folgt die Durchquerung des Schilfmeeres. Das ist nun eine der brutalsten Geschichten, so dass selbst der Babylonische Talmud vom Protest Gottes berichtet, als die Engel anschließend zum Lobpreis ansetzen wollen. „Die Geschöpfe meiner Hände versinken im Meer – und ihr singt vor mir?“ (Megilla 10b, Sanhedrin 39b) Das wäre die Gelegenheit für einen tollen Peritext gewesen.

Die Zehn Gebote werden auf zwei Seiten abgehandelt und hier schlägt die theologische Konzeption voll durch. Wer korrekt sein will, muss hier offenbar zwingend in den Text eingreifen und vom Ursprungstext abweichen. Zunächst einmal orientiert sich die Gebotsliste an der jüdischen und reformierten Zählung, wertet das Bilderverbot also als eigenständiges Gebot. Die Aufzählung beginnt mit dem ersten Gebot, das nun lautet: Dein*e Gott bin ich. Das kann man machen, wendet sich aber dezidiert an Erwachsene, die über abweichende Sprachformen nachdenken (können). Es gibt aber bessere Lösungen. Die Bibel in gerechter Sprache entscheidet sich für das Wort „Gottheit“, was das sprachliche Problem löst, weil es auch die inklusive Lesart nun ästhetischer lesen lässt. Das zweite Gebot lautet Mach dir kein Bild von mir. Da finde ich die aktuellen Lösungen fast aller anderen Bibeln besser, also „Mache dir kein Gottesbild“, „Mache dir kein Kultbild“ oder vielleicht noch am präzisesten „Mache dir keine Skulptur von mir“. So aber wird den Kindern nahegelegt, es ginge um Bilder, von denen die Bibel aber nun gerade nicht spricht. Missbrauche meinen Namen nicht. Das bekommt nun einen völlig anderen Sinn, weil ein expliziter Name Gottes nicht eingeführt wurde. Stattdessen wurde die Übersetzung „Ich bin mit dir“ vorgestellt. Was bedeutet das nun für das dritte Gebot. Soll man nicht „Ich bin mit dir“ sagen? Oder soll man keinen expliziten Gottesnamen sagen? Ich fürchte, in der vorliegenden Fassung läuft es auf das bürgerliche „Du sollst nicht mit religiösen Bezügen fluchen“ hinaus. Jene großartige Konsequenz, die das Judentum aus diesem Gebot gezogen hat, verblasst nun. Ruhe am siebten Wochentag. Tut mir leid, das ist mir schlicht zu wenig. Der siebte Tag ist kein Ruhetag, sondern ein heiliger Tag, an dem nicht einmal das Vieh arbeiten soll. Die nun gewählte Formulierung mag dem konventionellen Verhalten heutiger Menschen entsprechen, verfehlt aber jeglichen religiösen Sinn. Kümmere dich um die, bei denen du aufwächst. Angesichts dessen, dass wir heute in der Lage sind, zwischen biologischen und sozialen Elternteilen zu unterscheiden, ist die ostentative Vermeidung der Bezeichnung „Vater“ und „Mutter“ fragwürdig. Hier liest man gegen den Text. Die hebräische Bibel verwendet an dieser Stelle das Wort kavod, das hier besagt, dass die Eltern „Gewicht haben sollen“. Kavod ist aber auch die erfahrbare Erscheinungsweise Gottes, sein göttlicher Glanz. Auch damit spielt die Gebotsformulierung. Töte nicht. Steht nun einmal so lapidar in der Bibel. Zerstöre keine Beziehungen – auch das reagiert auf heutige Lebensverhältnisse, hat aber nicht die Radikalität der Formulierung, die in der Bibel in gerechter Sprache genutzt wird: Geh nicht fremd.

Das achte Gebot lautet hier Nimm anderen nichts weg. Das gefällt mir ehrlich gesagt besser als die Formulierung Sei kein Dieb aus der Bibel in gerechter Sprache, weil so dieses Gebot leichter auch auf Umweltfragen und Fragen weltweiter Gerechtigkeit bezogen werden kann. Lüge nicht – das finde ich für eine Kinderbibel zu moralisierend, da gefällt mir das „Verleumde nicht deinen Mitmenschen“ aus der Bibel in gerechter Sprache besser, auch wenn es sprachlich nicht der Weisheit letzter Schluss ist. In einer Alle-Kinder-Bibel müsste m.E. irgendwie zum Ausdruck kommen, dass man nicht despektierlich über andere redet. Sei nicht gierig auf das, was anderen gehört – das zehnte und letzte Gebot ist von bestechender Aktualität.

Nun kommen wir quasi von der Pflicht zur Kür, nämlich zur Geschichte von Rut. Die Erzählung von Rut ist eine durch und durch ästhetisch konstruierte Geschichte – voller erzählerischem Potential auch für spätere und gegenwärtige Fragestellungen. Leider verlässt sich die Alle-Kinder-Bibel hier eher auf das Wort. Zwar eröffnet die Szene mit einem doppelseitigen Bild, das sich aber ganz auf die innige Beziehung von Rut und Boas fokussiert und narrativ nur wenig entfaltet. Was sich im Buch Rut als gesellschaftliches Geschehen entfaltet, wird hier individualisiert. Da wäre mehr drin gewesen. Auf den zweiten Blick ist die Rut-Geschichte natürlich für eine Kinder-Bibel, die gegen Ableismus und für Inklusion kämpft, ein zweischneidiges Schwert. Denn der Gewinner ist der Potente (Boas), der die starke Frau kauft, die Loser sind schwächlich und gebrechlich (Machton und Kiljon) – nicht gerade das, was die Alle-Kinder-Bibel zeigen will.

Die Berufung des Jeremia wird stark psychologisiert. Ich mag diese Form der Einfühlungsästhetik eigentlich nicht, sie legt meist mehr in die Personen hinein, als dass sie einen Erkenntnisgewinn produziert. Das beginnt schon mit dem Klischee des malenden Jungen. Wenn es kein proleptischer Verweis auf Johannes 8, 6.8 sein soll, adaptiert es die „Berufungsgeschichte“ die jungen Giotto in der Schilderung durch Ghiberti, der selbst schon auf einen festen literarischen Topos zurückgriff. Im biblischen Text steht davon aber nichts. Eigentlich finde ich es das Schöne des biblischen Textes, dass es völlig offenlässt, woher die Berufung kommt und sie nicht modern ins Innere oder gar den Bauch des Berufenen verlegt. Aber da gibt es wohl unterschiedliche Geschmäcker.

Gerechtigkeit ist das Thema des nächsten Abschnitts, die Geschichte von Nabots Weinberg. Wieder eine Geschichte von rauer Realität: Nabot wird gesteinigt, Isebel wird von Hunden zerrissen (was hier aber unterschlagen wird), Ahabs Kinder getötet. Aber Gerechtigkeit wird durch Gottes Intervention hergestellt. Auch hier hätte ich mir eine narrativere Illustration gewünscht.

Den Schluss des ersten Teils bildet eine Adaption von Psalm 113, aber der Text hätte durchaus auch eigenständig ohne konkreten biblischen Bezug stehen können, zumal er den Akzent vom emphatischen Gotteslob zum Lob der Ermächtigung des Menschen durch Gott verschiebt.

Das zweite Testament wird mit dem Lobpreis der Maria eröffnet (Maria singt ein Lied nach Lukas 1-2). Das ist gar nicht so selbstverständlich, wie man denken könnte, denn spätmittelalterliche Bildzyklen eröffnen oftmals mit der Vorgeschichte, also dem Leben von Joachim und Anna, den Eltern der Maria, was ihrer Aufwertung diente. Hier aber beginnt es mit der lukanischen Version der Geburtsgeschichte. Warum allerdings auf dem einleitenden Bild (neben einer Katze, einem gegenreformatorischen Element) Ochs und Esel gezeigt werden, erschließt sich mir nicht, es ist einfach schrecklich. Im biblischen Text kommen Ochs und Esel nicht vor, in die Krippendarstellungen geraten sie, weil das Christentum schon sehr früh das Judentum herabsetzen wollte. Man bezog sich auf Jesaja 1,3: Der Ochse kennt seinen Besitzer und der Esel die Krippe seines Herrn; Israel aber hat keine Erkenntnis, mein Volk hat keine Einsicht. Ochs und Esel sind eines der frühesten antijudaistischen Motive in der Christenheit, es taucht bereits im frühen 4. Jahrhundert auf Sarkophagen auf und wird später – verstärkt etwa durch Augustin – seine fatale Wirkungsgeschichte im Christentum nicht zuletzt in den Gegenüberstellungen von Ecclesia und Synagoge entfalten. So etwas sollte in einer Bibel für alle Kinder nicht auftauchen! Man spiegelt hier, so viel sei zur Verteidigung der Alle-Kinder-Bibel gesagt, nur die gemeindlichen Verhältnisse in der Gegenwart, aber das macht es eigentlich nicht wirklich besser. Hier wird die Glaubwürdigkeit des engagierten Projektes berührt und beschädigt. Mag sein, dass niemand mehr vom Antijudaismus dieses Motivs weiß, angesichts der schrecklichen Wirkungsgeschichte sollte man aber in dieser Frage höchst sensibel sein.

Es folgt die Geschichte der Sterndeuter und der Flucht nach Ägypten (Eine Familie muss fliehen nach Matthäus 1-2), wobei zu Recht der sog. Kindermord von Bethlehem ausgelassen wird.

Der Abschnitt „Jesus, der Mond, die Eidechse und die Kinder“ (nach Markus 10), thematisiert die Geschichte, die wir unter dem Zitat „Lasset die Kinder zu mir kommen“ kennen. Das ist wie die Überschrift schon erkennen lässt, mit Hilfe einer begleitenden Eidechse strukturiert. Nun ist die Eidechse seit den frühen Ausgaben des Physiologus auch ein christologisches Motiv, hätte dann aber eines Weinstocks bedurft. An diesem Abschnitt gefällt mir nur eines nicht: dass beschriebenes Geschehen und illustriertes Geschehen auf zwei unterschiedliche Seiten verteilt wurden. Das ist ungeschickt und verhindert die parallele Lektüre von Text und Bild.

Bartimäus, die Biene und das Licht (nach Markus 10), eine der Lieblingsgeschichten in vielen Kinderbibeln. Das Motiv taucht früh in der christlichen Kunstgeschichte auf und hat fast immer eine hierarchische visuelle Struktur. Entsprechend der metaphysischen Bedeutung wird Christus größer dargestellt, Bartimäus kleiner oder eben kniend. Es ist der Vorteil der Alle.Kinder-Bibel, dass sie diese visuelle Diskriminierung vermeidet und beide Protagonisten auf eine Stufe stellt. Auch das geschieht wieder über ein gehöriges Maß an Einfühlungsästhetik. Man fühlt sich in die innere Welt des blinden Bartimäus ein und versucht von dort aus, die Geschichte zu entschlüsseln. Dass Bartimäus Jesus mehrfach als Nachkommen Davids anredet, spielt aber (leider) keine Rolle, im Vordergrund steht die Heilung des Blinden.

Mit dem Festessen im Himmel (nach Lukas 14) steht erstmals ein Gleichnis Jesu im Zentrum, natürlich ein sozialkritisches. Als solches wurde es schon häufiger in der Kunst aufgegriffen, etwa vom Braunschweiger Monogrammisten in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Und dieses Bild ist wirklich sozialkritisch, denn mehr als die Hälfte der Anwesenden gehören zu den Randgruppen der Gesellschaft, den Marginalisierten, den Versehrten und Kriegsopfern. In der Alle-Kinder-Bibel fokussiert man sich auf die Kinder der Welt und deren Haustiere, die von Gott im Himmel versorgt werden. Ob Jesus damals an Katzen und Hunde (im Himmel) gedacht hat, erscheint mir zweifelhaft, zumindest Katzen kommen in der Bibel nicht vor, Hunde werden dagegen eher abschätzig angesehen. Aber die alten weißen Männer der frühneuzeitlichen Klosterkultur hätten der Festbeteiligung ihrer tierischen Mitbewohner wohl zugestimmt, wie sich 1440 beim Abendmahl von Stefano d’Antonio Vanni ablesen lässt:

Zachäus im Lächelmantel (nach Lukas 13) ist die nächste Geschichte, eine Geschichte von enormer politischer Sprengkraft in der Gegenwart, weil Jesus hier quasi einen Stasi-Mitarbeiter besucht und mit einem Lächeln beschenkt. In der Alle-Kinder-Bibel ist mir die Geschichte fast schon zu evangelikal von ihrem Ende her erzählt, wo der reuige Sünder seine vorherigen Schandtaten kompensiert. Bei Lukas ist es aber so, dass er nur die Hälfte seines Besitzes abgibt. Mir persönlich wird die Geschichte hier zu glatt erzählt, ihre wahre Sprengkraft nicht entfaltet.

Jesus stirbt (nach Markus 14-15) erzählt in knappen Worten die Passionsgeschichte. Sie ist ästhetisch so gestaltet, dass die Seiten schwarz gefärbt sind. Als einzige Figur erscheint Maria Magdalena (oder Maria) unter dem Kreuz. Von Jesus sieht man nur die Füße am Kreuz, die zwar in einer Drei-Nagel-Haltung gekreuzt sind, aber keine Stigmata aufweisen. Inhaltlich wird die sog. Tempelreinigung erwähnt, das Abendmahl (ohne Judas zu erwähnen), keine Fußwaschung, kein Ringen Jesu am Ölberg. Wohl aber der Kuss des Judas. Nach der Festnahme von Jesus werden die Verleugnung durch Petrus und die Verhöre knapp erzählt, nicht aber Verspottung und Geißelung. Pilatus verurteilt Jesus zur Kreuzigung um den jüdischen Anklägern einen Gefallen zu tun. Longinus, Stephaton oder die beiden Schächer Dismas und Gestas kommen nicht vor. Danach werden Kreuzabnahme und Beerdigung erwähnt.

Alles läuft auf die Auferstehung hinaus: Jesus lebt (nach Markus 16) – auch wenn der Ton der Seite sich nur von Schwarz auf Dunkelgrau verfärbt hat. Dafür freuen sich die Maria des Jakobus, Maria aus Magdala und Salome, dass sie ein leeres Grab vorfinden. Und weil man nach dem Markusevangelium erzählt, können weder das Noli me tangere noch der Ungläubige Thomas Platz finden. Schade. Aber die Rolle der Frauen bei der Entdeckung der Auferstehung Jesu wird gut herausgearbeitet.

Pfingsten, präsentiert unter der Überschrift „Windsprache und Wunderregen“ (nach Apostelgeschichte 2), ist dann wieder bunt und es wird wunderreich erzählt. Als verpasste Chance empfinde ich es, dass hier nicht stärker an der biblischen Vorlage gearbeitet wurde, ist diese doch gerade an dieser Stelle eine Steilvorlage für das Anliegen der Alle-Kinder-Bibel:

»Seht euch das an! Sind nicht alle, die da reden, aus Galiläa? Wieso hören wir sie dann in unserer je eigenen Landessprache, die wir von Kindheit an sprechen? Die aus Persien, Medien und Elam kommen, die in Mesopotamien wohnen, in Judäa und Kappadozien, in Pontus und in der Provinz Asien, in Phrygien und Pamphylien, in Ägypten und in den zyrenischen Gebieten Libyens, auch die aus Rom Zurückgekehrten, von Haus aus jüdisch oder konvertiert, die aus Kreta und Arabien kommen: Wir hören sie in unseren Sprachen von den großen Taten Gottes reden.« Sie alle konnten es nicht fassen und waren unsicher; sie sprachen zueinander: »Was mag das sein?« [Bibel in gerechter Sprache]

Paulus schreibt einen Brief (nach Galater 3) schließt die Kinderbibel ab und fasst noch einmal die Prinzipien des Projekts zusammen.

Kleine Anmerkungen

Ikonographisch sind es Kleinigkeiten, die mich irritieren. Im Garten Eden verspeist ein Storch einen Fisch. Das kann man machen, auch auf dem Grabower Altar des Meister Bertram von Minden und bei Hieronymus Bosch finden sich derartige Details. Die waren aber von einer Theologie getragen, wonach nicht die Menschen, sondern die gefallenen Engel für die Sünde und den Tod auf der Erde verantwortlich sind. Deshalb ist der Engelsturz auf den entsprechenden mittelalterlichen Bildern auch zu sehen. Das ist hier nicht der Fall. Was motiviert dann dieses Detail? Diese wunderbare Geschichte einer veganen Kultur im Garten Eden – warum lässt man sich das entgehen? An manchen Stellen hätte ich mir, wie vorgehend geschildert, mehr visuelle Narrativität gewünscht. Und vor allem, dass Text und Bild besser zueinander geordnet werden.

Nur im Klappentext zur Alle Kinder Bibel heißt es, man zeige „Held*innen, mit denen sich kleine Leser*innen mit unterschiedlichen Erfahrungen und Hintergründen identifizieren können“. Aber was sagt uns das, wenn wir davon ausgehen, dass wir inzwischen in einer postheroischen Gesellschaft leben? Einmal unterstellt, die Bezeichnung „Held*innen“ sei kein Ausrutscher, weil man stattdessen genauso gut Figuren oder Vorbilder hätte sagen können, dann fragt sich doch, was die geschichtspsychologische Absicht dahinter ist? Aber vielleicht sind wir seit der ‚Zeiten­wende‘ auch schon wieder in post-postheroischen Zeiten und finden Held*innen wieder ganz sympathisch. Trotzdem hätte ich mir hier ein anderes Wort gewünscht, das nicht so stark wie das des „Helden“ mit Kampf, Krieg und Tod verknüpft ist.

Insgesamt verstehe ich die Notwendigkeit zur Reduktion, aber warum dann nicht gleich der Verzicht auf den Anspruch, die Bibel abzubilden und stattdessen eine Sammlung der besten Erzählungen von der biblischen Vielfalt. Jene Geschichten, die mich nach dem Aufkommen der zum Teil heftigen Diskussionen um Diversität fasziniert und bereichert haben, fehlen etwa ganz: die kuschitische Frau des Moses, die diesem erst den Zugang zu Gott ermöglicht, oder die Erzählung vom ersten Christen, ein schwarzer, queerer Kapitalist. Das wären Geschichten, die man neu in die Wahrnehmung biblischer Vielfalt produktiv einbringen könnte.

Loop: Zur Kritik der Kritik an der Kritik der Alle Kinder Bibel

Natürlich ist die Arbeit an der Alle Kinder Bibel nicht ohne Kritik geblieben – nicht zuletzt von evangelikaler Seite. Einiges an dieser Kritik leuchtet ein, anderes nicht. Das kann niemand überraschen. Aber man kann und sollte derartige Kritiken auch akzeptieren oder sie wenigstens einfach mal so stehen lassen können. Wer aus einem evangelikalen Kontext kommt, wird Schwierigkeiten mit der Vorstellung haben, dass die Bibel in Erzählungen und Illustrationen für Kinder für bestimmte Interessen einfach modifiziert oder instrumentalisiert werden kann. So gesehen kann ich es nachvollziehen, dass manchen schummrig wird, wenn Leute an heiligen Texten oder Heiligen Schriften einfach rumwerkeln – und sie nicht nur unter neuen Einsichten neu deuten. Mich verstört das auch manchmal– obwohl ich nicht aus dem evangelikalen Kosmos komme. Nicht einmal mit Literatur sollte man so umgehen, dass man sie einfach passend umschreibt, sie sich quasi unterwirft. Man sollte sie in ihrer Fremdheit oder meinetwegen auch Falschheit als Zumutung stehen lassen. Aber das wird aktuell zunehmend anders gesehen. Auch das muss man wiederum als eine Möglichkeit des Umgangs so stehen lassen. Was man nicht machen sollte, ist, gegenüber derartigen divergenten Ansichten zu sagen, sie seien es nicht wert, überhaupt erörtert zu werden. So einen Satz finde ich erschreckend. Und er ist so unjesuanisch, wenn ich an Lukas 15, 1-7 denke. Natürlich diskutieren wir mit fundamentalistischen Geschwistern, weil es sich immer lohnt, auch mit jenen zu sprechen, die unsere Perspektiven nicht teilen können. Einen Rückfall in das alte Freund-Feind-Schema von Carl Schmitt sollten wir uns nicht leisten, diese Zeiten sollten vorbei sein. Was mich darüber hinaus stört, ist der Habitus, der meint dekretieren zu können, was diskutabel ist und was nicht. Um es mit Worten zu spiegeln, die aktuell freilich in einem ganz anderen Kontext geäußert wurden:

Diese Klassensprecherüberheblichkeit, diese Allianz von Phantomerfahrungsschmerz und Besessenheit ... Aber auf einem empiriefreien Niveau sich zur Stimme anderer zu erheben, empfinde ich – bei aller ausgetauschter Erfahrung und woher auch immer geholtem Wissen – als anmaßend. [Sascha Andersons]

Genauso empfinde ich das auch. ‚Klassensprecherüberheblichkeit‘ ist ein treffendes Wort. Man könnte auch von Aufklärer:innen-Arroganz sprechen. Statt selbst zu zeigen, wie und wo die neue Kinderbibel produktiv genutzt werden kann, wo sie fortentwickelt werden könnte und wo sie Grenzen aufweist, greift man lieber deren Kritiker:innen an, indem man ihr Weltbild, ja ihre Religion für indiskutabel hält und bezeichnet. Dabei lebt das Geschäft von der produktiven Auseinandersetzung, von Kritik und Gegenkritik. Das setzt aber voraus, das Gegenüber für diskussionswürdig zu halten.

Anstößig erscheint manchen nun auch die Kritik des ostentativen Woke-Seins, die einige Evangelikale im Zusammenhang mit der Alle-Kinder-Bibel geäußert haben sollen (Belege dafür habe ich nicht gefunden, es muss wohl in den sozialen Medien gewesen sein oder in Leserkommentaren bei Buchrezensionen). Nun wird diese Kritik nicht exklusiv von alten weißen Männern und Frauen evangelikaler Prägung geäußert, vielmehr wird sie seit Jahren auch innerhalb der Bewegung artikuliert, weil, wie Ex-Präsident Obama in einem Interview süffisant sagte:

"Wenn ich etwas darüber poste, dass jemand anderes etwas falsch gemacht oder das falsche Verb benutzt hat, kann ich mich zurücklehnen und mich gut fühlen. Nach dem Motto: 'Schau, wie woke ich war, ich habe dich angeprangert.'"

Woke ist ein Szenebegriff, meinetwegen eine Selbstbeschreibung oder Selbstverpflichtung. Aber es ist kein wissenschaftlicher Begriff. Im Sinne der von der hebräischen Bibel oft genutzten Lautähnlichkeit für die Bewusstmachung von Kontexten sage ich oft statt woke: en vogue. Mich persönlich stört die pseudoreligiöse Konnotation des Wortes, ihre strukturelle Analogie zu den religiösen Erweckungsbe­wegungen früherer Jahrhunderte (Wherefore he saith, Awake thou that sleepest, and arise from the dead, and Christ shall give thee light. Eph. 5, 14). Ja, auch die woke Bewegung ist in diesem Sinn eine Erweckungsbewegung. Wenn sich jemand daran reibt, bestreitet er nicht das konkrete Anliegen der Bewegung, für Diskriminierungen sensibel zu sein, für mangelnde soziale Gerechtigkeit und für Rassismus aufmerksam, sondern deren missionarisches Auftreten. So verstehe ich jedenfalls Barack Obamas Intervention. Und ich finde diese Reaktion legitim. Natürlich ist der Vorwurf, etwas sei doch „nur woke“ inzwischen ein rechtes Mem, aber das macht noch nicht jeden/jede, der/die diesen Vorwurf erhebt, zum/zur Rechten (das hätte ich sprachlich schöner ausdrücken können). Man ist auch nicht cool, wenn man Worte wie cis oder Ableismus nutzt, man zeigt nur, dass man zu einer neuen Distinktions-Elite gehört.

Freuen wir uns also über jede Kritik an der Alle Kinder Bibel – solange sie sich nicht nur auf das bezieht, was man auf dem Klappentext lesen kann. Denn das ist auffällig bei manchen – aber nicht allen – Kritiken bei den Buch-Versandhandlungen: die Kritik reagiert auf den Klappentext, nicht auf den Inhalt der Bibel. Das allerdings ist nicht diskutabel. Kritik erweist sich als legitim, wenn sie sich am kritisierten Gegenstand abarbeitet. Das sollte man erwarten dürfen.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/143/am794.htm
© Andreas Mertin, 2023