Gehalt oder Gestalt von Religion im virtuellen Raum

Über künstliche Grenzen und natürliche Schranken

Andreas Mertin

Prolog

Dieser Text wurde zunächst für einen anderen Kontext zusammengestellt, erscheint nun aber doch im Magazin für Theologie und Ästhetik. Er greift dabei auch auf bereits bestehende Veröffentlichungen im Magazin zurück, bündelt diese nun unter neu akzentuierter Fragestellung. Die Frage der virtuellen Räume beschäftigt das Magazin tà katoptrizómena ja schon seit über 20 Jahren: bereits das Heft 7 im Jahr 2000 widmete sich der virtuellen Religion, Heft 16 im Jahr 2002 der kulturellen Nutzung von Kirchenräumen und dabei auch der Konstruktion von religiösen Räumen. Mit Heft 36 im Jahr 2005 begann dann eine sich über fünf Ausgaben erstreckende Serie über bereits vorhandene virtuelle Räume. Diese eröffnete mit folgender Feststellung:

Simulationen von religiösen Räumen, virtuelle Begehungen von Kirchenräumen haben so gut wie nichts mit der Lebenspraxis und der Bedeutung von Religion zu tun. Sie können vielleicht ästhetische Erfahrungen simulieren (aber auch nur als Surrogatextrakt), aber keine religiösen. Das bedeutet aber nicht …, dass das Internet für die räumliche Vermittlung von Religion ungeeignet wäre. Vermittelt wird … nicht der Gehalt von Religion, sondern im besten Fall die (ganz unterschiedlichen) Gestalten von Religion.

An diese Feststellung knüpft der aktuelle Text an und führt ihn fort, indem er spätere und aktuelle Überlegungen und Erkenntnisse ergänzt und einbindet.

Retrospektive. Ein Blick zurück nach vorn

Etwa 20 Jahre ist es her, dass die EKD erste Ansätze zu virtuellen religiösen Räumen vorgelegt und erste Schritte zur Realisierung derselben initiiert hat. Es ging damals um eine von der EKD publizierte Web-Andacht, für die man sich den passenden religiösen Raum selbst zusammenstellen und dann mit Bitten füllen konnte. Diese Bitten durften jedoch nur 172 Zeichen umfassen. Ich habe das damals als virtuelles Gimmick[1] bezeichnet, weil man aus dem religiösen Raum einen frei gestaltbaren Gemischtwarenladen gemacht hatte. Es war eine DIY-Architektur, nicht einmal anständige religiöse Folklore. Von Interaktivität oder Begegnung mit anderen religiösen Subjekten konnte keine Rede sein. Das galt dann auch für konkurrierende Angebote, etwa der Marburger Elisabethkirche, bei der man schon 1999 scheinbar an einem virtuellen Gottesdienst teilnehmen konnte.[2]

20 Jahre sind in Zeiten der sich beschleunigenden Digitalisierung der Lebenswelten eine lange Zeit. Die Technik entwickelt sich rasant und was gestern noch eine Utopie war, könnte heute vielleicht schon täuschend echt realisiert werden. Aber dennoch: Schon um die Jahrtausendwende, als virtuelle Räume tatsächlich noch mehr Träume als Realitäten waren, gab es sehr viele virtuell zugängliche Räume, solche, die mit Hilfe von Apples Quicktime VR erschlossen wurden, insofern sie nur einmal mit entsprechenden 360°-Kameras erfasst waren. Das Versprechen der Anbieter lautete seiner­zeit:  

"Entdecken Sie Orte, die Sie vielleicht noch nie gesehen haben, indem Sie durch Raum und Zeit reisen und Ihr kulturelles Wissen erweitern, ohne Ihren Schreibtisch zu verlassen".

Das kulturelle Wissen zu erweitern, ohne den Schreibtisch zu verlassen – das ist ein brutal reduziertes Verständnis von kultureller Bildung im Sinne der bloßen Wissensakkumulation. Und selbst das klingt noch zu schön, um wahr zu sein, denn de facto wurde ja in Sachen Religion nur die äußere Umgrenzung[3] des religiösen Raumes wiedergegeben, manchmal allerdings mit etwas Gregorianik als Zugabe. Mit dem, was wirklich ein religiöser Raum ist, was Gottesdienst ist, mit der Liturgie als religiösem Vollzug (und manchmal auch harter Leibarbeit) hatten die Experimente um die Jahrtausendwende wenig zu tun. Sie waren nur begehbare 360°-Fotografien.

Wer 20 Jahre später einen dieser Räume aufsuchen will und dabei auf seinem Computer einen Werbeblocker eingeschaltet hat, bekommt folgende Mitteilung auf den Bildschirm: Werbeblocker entdeckt. Bitte deaktivieren Sie Ihren Werbeblocker und laden Sie diese Seite erneut. Mit anderen Worten: Keine Kirchenraumerkundung ohne begleitende Werbung. Und das nicht nur bei einer der Adressen. Das liegt daran, dass die Firma, die die virtuellen Erkundungen damals erstellt hat, heute vor allem kommerzielle Auftritte erstellt und daran Geld verdienen will. Trotzdem gibt es diese virtuellen Räume weiterhin, nur unter anderen Internet-Adressen.

 

Und unbestritten ist der so erreichbare 3D-Blick in den Mailänder Dom weiterhin zumindest für Kulturbürger:innen beeindruckend. Der Dom ist menschenleer, die Prachtschinken zwischen den Säulen (die normalerweise dort nicht hängen) können in aller Ruhe betrachtet werden. Es ist eine perfekte Überwältigungsinszenierung – genau dafür entworfen und so auch erfahrbar.

Nur es ist kein religiöser Raum, allenfalls kulturgeschichtlich. Denn im Blick auf das Verstehen religiöser Räume, ihre ja doch in der Regel leiblich vollzogene Erfahrung, bringen diese Begehungen wenig: die spezifische Form der normalerweise physischen Annäherung, der Blick auf die Kirche aus weiter Entfernung, das Näherkommen des Kirchturms im Rahmen des Kirchgangs, das beiläufige Hören der Glocken, die zum Kirchgang rufen, das Betreten des Kirchenraumes durch ein Portal, die je nach Denomination unterschiedlich gehaltenen Gerüche, Klänge und Geräusche eines Raumes, die Logik der architekturbedingten Ausrichtung des Raumes, die Kommunikation mit anderen Gemeindegliedern vor dem Gottesdienst, mit anderen Worten: die gesamte Atmosphäre einer Kirche noch vor Beginn des eigentlichen Gottesdienstes wird hier vernachlässigt. Selbst ganz banale Sachen wie die beschränkte Zugänglichkeit des Altarraumes in einer katholischen Kirche wird schlicht unterlaufen und damit auch nicht mehr als Raum des Heiligen erfahrbar. Das, was nach Michel Foucault den religiösen Raum ausmacht, nämlich ein Heterotop[4] zu sein, wird im 3D-Modell zerstört – ob man sich eine U-Bahn-Station vergegenwärtigt oder einen Dom macht kaum einen Unterschied. In der Regel klickt man auf eine Kirchentür, ist dann drinnen und kann sich umsehen. Es ist eben nur scheinbar eine Virtualisierung realer religiöser Räume und ihrer religiösen Erfahrung, eher schon eine Form von Architektur-Religion. Auf Anthropologie wurde keine Rücksicht genommen, Hauptsache man konnte am Desktop einen religiösen Raum erkunden und so tun, als habe das etwas mit Religion zu tun.

Es ist aber auch keine Annäherung im Sinn des Probehandelns der performativen Religionspädagogik.[5] Die Komplexität religiöser Raumerfahrung, die ja seit den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts empirisch erforscht wurde, findet keine Berücksichtigung.[6] Der religiöse Raum wird als irgendwie Gegebenes begriffen, im Sinne von: wir schauen jetzt mal eine Kirche von innen an. Und die ist dann mal romanisch, mal gotisch, mal barock, seltener Jugendstil, ganz selten eine Betonarchitektur, weil die Mehrzahl der Web-Designer:innen den Sinn dieser Architektur nicht versteht. Was virtualisiert wird, ist in der Regel nicht ein Ausdruck von Religion im Zeitalter nach Rudolf Bultmann, geschweige denn des 21. Jahrhunderts, sondern ein Derivat religions-touristischer Erschließung von Kirchen – oftmals gar des historistischen 19. Jahrhunderts.

Im besten Falle geht es um eine digitale Form der Kirchenraumpädagogik. Und auch die zeichnet sich oft dadurch aus, dass historisierte Räume imaginiert werden und nicht reale Räume mit ihren Nutzungsspuren begangen werden. Die Kirchenraumpädagogik, dabei bleibe ich auch nach 20 Jahren, ist allzu oft die Vorstellung einer Kirche als Jurassic Park.[7] Man erklärt das Objekt zunächst für ausgestorben, um es dann um so effektvoller wiederbeleben zu können. Das droht auch den virtualisierten Kirchenräumen. Auch hier gilt meine Vermutung: der Idealraum der Virtualisierungen ist der katholische Kirchenraum vor dem Zweiten Vatikanum, als der Gottesdienst noch mystisch, das Heilige noch heilig, die Messe noch lateinisch und der Kirchenraum voller Geheimnisse war. Deshalb auch die Vorliebe für gregorianische Choräle als Hintergrundmusik.

Ich mag mich irren, aber ich sehe nicht, dass so etwas wie eine Theologie nach Auschwitz in der virtuellen Welt eine Rolle spielen würde. Daran haben deren Konstrukteure überhaupt kein Interesse. Letztlich geht es ihnen um Religion im Rahmen der Unterhaltungsindustrie.

Unterscheidungen. Vom Video zur Virtualität

Man muss bei all dem zwei Dinge unterscheiden, die häufig miteinander vermischt werden. Zum einen gibt es natürlich Live-Übertragungen von Gottesdiensten in ganz unterschiedlichen Kirchen, die nachher auch bei Youtube online gestellt werden. Man kann also mit einer in der Regel statischen Kamera, manchmal aber auch mit mehreren Kameras den Gottesdienst verfolgen. Das ist dann kein realer Raum, aber auch kein virtueller Raum, sondern wie bei einer Gottesdienstübertragung im Fernsehen ein gefilmter Gottesdienst. Manchmal werden auch keine Gottesdienste übertragen, sondern z.B. Pilgerströme zu den Gräbern berühmter Heiliger.

Ich verfolge so häufiger zwei Webcams der Basilika des Hl. Antonius in Padua: die eine zeigt rund um die Uhr das Grabmal des Heiligen Antonius: Wie sich die Menschen dem Grab nähern, dort ein wenig verweilen und dann zu den anderen religiösen Schwerpunkten dieser Kirche weiterziehen. Ich war nun schon viele Male vor Ort genau an diese Stelle, habe sie mit Freunden und Freundinnen, mit Lehrer.innen und Pfarrer:innen begangen, es ist jedes Mal etwas ganz Besonderes.

Nichts davon kann die Webcam einfangen. Die Webcam hat etwas davon, was Günther Anders „analphabetisches Voyeurstum“[8] nennt, sie lässt einen auf die Pilger:innen schauen, nicht auf das Religiöse, das ja Anlass zur Pilgerfahrt war. Noch einmal mit Günther Anders: „Und solche Narren sind wir, die wir hier gaffend herumstrolchen und uns einreden, die wahre Geschichte in den Kirchen und in den Museen finden zu können.“[9] In der Regel aber haben auch die Besucher:innen selbst Handys in der Hand, mit der sie ihren Besuch dokumentieren. Denn „das Sehen ist überholt und abgeschafft. Und ersetzt durch das Photographieren.“


Intermezzo: Günther Anders – Götzendienst

Weitgehend ist diese Verdrängung der Wirklichkeit natürlich ein Infantilismus: die Rückverwandlung der zu schwierigen Welt in ein ungefährliches Bilderbuch. Aber diese Rückverwandlung hat ungeheuerliche Folgen, Folgen, die, wie mir scheint, in anderer  als  theologischer  Sprache  schon  gar  nicht  mehr  formuliert werden  können.  Denn  sie  wird  zu  einer  Spielart  von  Götzendienst. Und zwar zu einem Götzendienst, der noch inferiorer ist als alles, was frühere Zeiten an Götzendiensten gekannt hatten. Während man nämlich im üblichen Götzendienst Bilder deshalb verehrt hatte, weil diese als Götter galten, vergötzt man Bilder hier deshalb, weil diese Bilder sind – also völlig wahllos. Und während man früher Götterbildern trotz der Tatsache, dass diese menschengemacht waren, anhing, hängt man nun diesen Bildern deshalb und allein deshalb an, weil sie von Menschen, besonders aber von einem selbst, gemacht sind.[10]

Das scheint es mir zu sein, worum es in der Sache tatsächlich geht.


Die andere Webcam in der Basilika des Hl. Antonius in Padua zeigt temporär zu angekündigten Zeiten (in der Regel täglich um 18 Uhr) die Messen in der Kirche. So etwa besonders beeindruckend der Gottesdienst in der Osternacht 2023, bei der die Kamera minutenlang die völlig verdunkelte Basilika zeigt, deren Portal dann geöffnet wird und die Priester und die Gemeinde mit ihren Kerzen einziehen und nach und nach die ganze Kirche erleuchten. Das ist ein über zwei Stunden sich erstreckender Gottesdienst, der aber viel von der religiösen Praxis der örtlichen Gemeinde abbildet. Aber man ist und bleibt Beobachter, läuft währenddessen nicht durch den Raum, kann ihn nicht einmal betreten, nur verlassen, indem man sich ausklinkt. Es ist eben nur eine beeindruckende Fernsehübertragung. Schon der entscheidende Moment am Anfang, wenn die Gemeinde die völlig dunkle Kirche betritt, wird aus einer Perspektive vom Altar gezeigt. Darum geht es aber in der Liturgie nun gerade nicht, es geht um das Betreten des verdunkelten Raumes in dem dann das Licht des Herrn erscheint.

Ich würde das noch nicht virtuell nennen, weil der immersive Anteil gegen Null geht. Ich bin nicht Teil dieses Gottesdienstes, ich beobachte ihn nur aus knapp 1000 Kilometer Entfernung, abhängig von der Kameraführung. Selbst wenn ich die Lieder mitsingen und die Gebete mitsprechen würde, wäre es für mich nur ein Gottesdienstsurrogatextrakt, ein – wie Günther Anders schrieb – ungefährliches Bilderbuch anstelle eines lebensverändernden Gottesdienstes. Virtuell würde ich dagegen solche Räume nennen, die im Netz oder auf dem Computer aufgesucht werden können und die ein Minimum an Immersivität aufweisen. Als es noch keine Computer im heutigen Sinn gab und das Fernsehen entwickelt wurde, hielt man auch dessen Übertragungen für immersiv, glaubte, sie repräsentierten „Erlebnisse mit allen Sinnen“. Heute wissen wir, dass das nicht einmal ansatzweise stimmte, es war nur Propaganda. Erst mit den Computerspielen späterer Zeiten entwickelten sich immersive Welten, die diesen Begriff wenigstens ansatzweise verdienten. Also das Eintauchen in konstruierte 3D-Welten mit aktiver Steuerung durch die Teilnehmer:innen.

Aber im Blick auf den religiösen Raum bleiben dennoch Fragen. Zum einen, was genau das spezifisch Religiöse an der Immersivität ist. Das Herumlaufen durch einen virtuellen Raum mag zwar immersiv sein, aber es ist noch nicht religiös. Nun könnte man sagen, dass auch normale Gottesdienstbesucher:innen nicht wirklich immersiv am Gottesdienst beteiligt sind. Dass ist ja aktuell ein Vorwurf, dass diese nur passive Teilnehmer:innen seien und den Gottesdienst über sich ergehen lassen müssten. Nur wird aus dem Manko des einen kein Argument für das Andere.

Die andere Frage bleibt die, was das spezifisch Religiöse an der Raum-Virtualisierung darstellen soll. Wenn die architekturtheoretische Einheit „Sakralbau“[11] dreidimensional abgebildet wird, ist das auch schon ein religiöser Raum im theologischen Sinn? Ab wann können wir von einem religiös genutzten Raum sprechen? Das scheint mir noch weitgehend ungeklärt zu sein.

Zeitschienen. Wo ist die Virtualisierung religiöser Räume sinnvoll?

Das bedeutet aber nicht, dass man nicht versuchen könnte, mit den aktuell zur Verfügung stehenden technologischen Möglichkeiten religiöse Räume (im kulturgeschichtlichen Sinn) zu vergegenwärtigen. Aber solche Räume können nicht willkürlich ‚gebastelt‘ werden, sie sind selbst Ergebnis komplexer religiöser Prozesse, die nicht Knall auf Fall einen Kirchenraum entstehen lassen. So müsste man zunächst fragen, ob sich im Sinne des "sola scriptura" überhaupt so etwas wie ein Modell einer dem christlichen / evangelischen / lutherischen oder reformierten Glauben angemessenen Form des Raumes ergibt.[12]

Und tatsächlich kann man ja die Geschichte der jüdisch-christlichen Religion als eine Geschichte "religiöser Räume" lesen. Auf diese Weise entsteht, wie Klaas Huizing das einmal genannt hat, eine „Physiognomie religiöser Raumkultur“.[13] Vom "flexiblen Wohnen der Erzväter", den "Wahrzeichen Ägyptens" und dem "Panorama Libanons", über den "Genius Loci der Antike" und die gotische "Charakterschrift des Mittelalters" sowie den "neuen Illuminationen" der Renaissance bis hin zu den "Stadtgesichtern der (Post)Moderne" lässt sich ein faszinierendes Bild menschlicher Religionsgeschichte entwerfen:

„mit Säulen, Mauern, Dächern und Leerräumen schreibt die inkarnierte Vernunft ihre geschichtliche Behausung in der Doppelung fester und beweglicher Züge.“[14]

Während die beweglichen Züge als jeweils Neues leicht zu erkennen sind, gilt das für die festen Züge nicht. Man findet kaum eine Kontinuität im religiösen Bauen, die von den Zelten der Erzväter bzw. den Privatquartieren der frühen Kirche und den ersten Basiliken über die großen Kirchenbauten des Mittelalters bis in die Gegenwart reichen würde. Die Geschichte des Kirchenbaus gibt zwar viele Hinweise auf die jeweilige Zeit und die Kontexte, lässt aber wenige Rückschlüsse auf darin zum Tragen kommende verbindliche Raumkonzeptionen zu. Was wäre dann der Erkenntniswert einer kontingenten historischen Raumgestalt?

Die erste zentrale Frage an die kulturgeschichtliche Virtualisierung religiöser Räume lautet also: Welche Räume wollen wir denn vorstellen und damit als religiöse Räume den Schüler:innen nahebringen: Bauten aus Israel, aus der der Antike, der Romanik, der Gotik, der Renaissance, des Barock, des Rokoko, des Historismus oder die Betonarchitektur der architektonischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts? Müsste es nicht jede dieser ja auch mit theologischen Konzepten verbundenen Formen sein? Vielleicht reicht aber auch eine Simulation im Sinne des Bildwörterbuchs des Dudens, die scheinbar Unverzichtbares im Raum benennbar macht.[15] Aber auch der Duden muss von Ausgabe zu Ausgabe die Darstellung anpassen, weil es „den“ religiösen Raum eben nicht gibt, sondern im Fluss ist.

Die zweite Frage ist für mich: Welche ‚Not‘ wendet die Virtualisierung des Kirchenraumes und ihre religionspädagogische Erschließung eigentlich? Oder machen wir es nur, weil wir es technisch können? Die Begrenzungen infolge der Corona-Krise können ja nicht der Grund dafür sein, die Epidemie liegt hinter uns und rechtfertigt nicht ein Programm des Verzichts auf das Lernen in außerschulischen Lernorten. Ich kann mir nun durchaus vorstellen, dass es Notwendigkeiten gibt, sich mit virtuellen Räumen im Religionsunterricht zu beschäftigen, aber betrifft das auch die religiösen Räume? Wo wenden virtuelle Räume eine Not?

Ich hatte um die Jahrtausendwende bemerkt, dass für Schüler:innen das Internet keine sinnlich erfahrbare zeitliche Logik in der Kunstbegegnung vermittelt. Sie konnten die Differenz zwischen gotischen und barocken christlichen Kunstwerken nicht erfahren. Deshalb entwickelte ich zusammen mit dem rpi-virtuell und einem Grafikbüro ein dreidimensional anmutendes virtuelles Museum, bei dem man durch eine Flucht von Räumen von der Steinzeit bis ins 20. Jahrhundert wandert und so die Abfolge der Kunstgeschichte (und z.T. auch der Kirchenbauten) kennenlernt. Die später so genannte Eule-der-Minerva (www.eule-der-minerva.de) reagierte also auf eine bestimmte Not der theo-ästhetischen Vermittlung. Zwar gab es die Webgallery of Art (www.wga.hu), in der man sich alle Bilder holen konnte, die man im Religionsunterricht braucht, aber sie war ohne räumlich erfahrbare Zeitdimension. Im Internet ist jedes Bild immer nur wenige Klicks entfernt, aber damit entsteht kein Gefühl für die zeitliche Entwicklung von Kunst. Auch innerhalb der religionspädagogischen Fragestellungen erwies sich ein derartiges virtuelles Museum als hilfreich, denn es hate einen Flügel mit christlicher Ikonographie, der zeigte, mit welchen theo-ästhetischen Argumenten etwa die Renaissance und wie der Barock Weihnachten umsetzte und auf welchen Erfahrungen das basiert. Das ist schwer abstrakt zu vermitteln, mit einer Abfolge von Räumen gelingt das wesentlich besser. Und dieses virtuelle Museum war insofern erfolgreich, als es nicht nur von Unterrichtenden des Faches Religion, sondern auch der Kunst genutzt wurde und selbst 20 Jahre später noch tausende Besucher:innen hat. Es ist heute nicht mehr auf dem aktuellen Stand der zur Verfügung stehenden Bildauflösungen, aber für das, was es vermitteln soll, reicht es immer noch – es ist sozusagen ‚nachhaltig‘.

Was ein derartiges virtuelles Museum nicht einmal ansatzweise vermitteln kann, ist jedoch die sinnliche Qualität der Kunst-Objekte. Es reduziert sie auf zweidimensional abgebildete Flächen. Nichts vom pastosen Pinselauftrag, von der Intensität der originalen Farben ist wirklich vermittelbar.[16] Die Detailauflösung ist zwar im Internet oftmals vielfach besser als vor Ort, aber die sinnliche Wahrnehmung ist extrem begrenzt.[17] Das ist die Grenze einer solchen Virtualisierung.

Kulturgeschichte. Welche Not-Wendigkeit besteht für die Virtualisierung?

Was lässt sich daraus für die Virtualisierung religiöser Räume folgern? Welche Not wird mit ihnen gewendet? Welche „Religion“ wird überhaupt mit und durch virtuelle Räume vermittelt? Das Zweite Vatikanum hat der gesamten Welt vor Augen geführt, dass es durchaus Theologien gibt, die mit konkreten Raumgestalten verbunden sind, raumgebundene Theologie, die man befürworten oder ablehnen kann.[18] Und nicht umsonst sehnen sich katholische Traditionalisten nach den Raum­inszenierungen und -begehungen vor dem II. Vatikanum zurück – weil damit eben auch eine andere Theologie verbunden ist.

Ich wüsste allerdings nicht, wie das im Blick auf die Vielfalt der Ausformungen des Protestantismus fruchtbar gemacht werden könnte.[19] Es ist vielleicht nicht falsch, an dieser Stelle noch einmal Martin Luthers berühmten Verweis auf den Schweinestall zu zitieren, der durchaus religionskompatibel sein kann, während der ostentative Kirchenbau oft religiös in die Irre, oder wie Luther schreibt, zum bösen Geist führt:

„Da lässt [der böse Geist] uns hübsche Kirchen bauen, viel stiften, pfeifen, lesen und singen, viele Messen halten und ein maßloses Ge­pränge treiben; dafür ist ihm nichts zu schade. Ja, er hilft noch dazu, dass wir ein solches Treiben für das Beste halten und uns einbilden, wir hätten‘s damit wohl ausge­richtet. Aber dass dieses allgemeine, starke, fruchtbare Kirchengebet daneben untergeht und wegen solchen Blendwerks unvermerkt unterbleibt: Da hat er erreicht, was er sucht! Denn wenn das Gebet darniederliegt, wird ihm niemand mehr etwas nehmen, auch niemand wider­stehen. Wo er aber gewahr würde, dass wir dieses Gebet üben wollten, wenn es gleich unter einem Strohdach wäre oder in einem Saustall, würde er es ganz sicher nicht hingehen lassen, sondern sich weit mehr vor diesem Saustall fürchten als vor allen hohen, großen, schönen Kirchen, Türmen, Glocken, wo immer sie sein mögen, wenn nur solches Gebet nicht drin wäre! Es liegt gewiss nicht an den Stätten oder Gebäuden, in denen wir zusammen­kommen, sondern allein an diesem unüberwindlichen Gebet: daran, dass wir dies in rechter Weise zusammen tun und vor Gott kommen lassen.“[20]

Es ist bemerkenswert, dass dieser religiöse Realismus so selten berücksichtigt wird, der ja auch mit Schleiermachers Haltung übereinstimmt. Beide eint die Überzeugung, dass Religion eben nicht präsenter wird, wenn wir uns mit den Umgrenzungen des religiösen Raumes beschäftigen. Als Element der Kulturgeschichte lassen sich die religiösen Bauten gut vermitteln und das sollte auch geschehen. Nur bedingt erscheinen für die Vermittlung des Gehalts von Religion geeignet.

Jurassic Park. Was vergegenwärtigen virtualisierte religiöse Räume?

Die Frage ist aber: was sollen, was könnten virtuelle religiöse Räume in religiöser Perspektive vergegenwärtigen, was könnten sie leisten? Wenn es vorrangig (nur) darum geht, dass Schüler:innen, die vielleicht noch nie einen religiösen Raum von innen gesehen haben, mit den Gegebenheiten dieser Räume vertraut gemacht werden, würde ein Schaubild reichen. Vor allem aber würde sich der Besuch dieser Räume als außerschulischer Lernort nahelegen. Aber auch hier stellt sich die Frage: welches Schaubild und welche Kirche? Das ist gar nicht so einfach. Vor Ort ist es vermutlich die Kirche vor Ort – eine wahrscheinlich ernüchternde Realität. Und nicht so hübsch aufbereitet wie die kulturindustriellen Produkte der Touristikbranche.

Aber es muss ja offenbar auch einen Mehrwert der virtuellen Annäherung geben, der nicht nur darin liegen kann, dass man mit einer Generation kommunizieren will, die an virtuelle Welten oder an Computerspiele bereits gewöhnt ist. Nein, es geht um mehr. Wie bei einem Flugsimulator soll das reale Geschehen aus der Lebenswelt „lebensecht“ simuliert werden, angeblich um es einzuüben. Und das ist ja auch ein verführerischer Gedanke. Was bei Pilot:innen funktioniert, könnte ja auch bei Gläubigen klappen. Warum man sich dann aber in die Gestalt von Gebäuden und nicht in den Gehalt von religiösen Lehren und religiösem Leben einfühlt, ist nicht so recht klar. Das machen Flugsimulatoren doch anders, dort lernt man eher fliegen als den Aufbau und die Ausstattung von Flughäfen. Ich lerne ja auch nicht Philosophie, wenn ich eine antike Agora simuliere. Ich lerne allenfalls etwas über den Alltag antiken Philosophierens, müsste mich aber dennoch mit den philosophischen Gedanken selbst beschäftigen. Könnte es sein, dass die Verfechter:innen der Virtualisierung religiöser Räume von einer eigenständigen Wirkungsmacht des virtuellen Raums ausgehen, ihm also einen genuin religiösen Gehalt zusprechen, also glauben, die Beschäftigung mit simulierten Flughäfen würde einem das Fliegen beibringen?

Nach einem Aphorismus von Theodor W. Adorno aus den Minima Moralia muss man allerdings in eine Tradition hinein sozialisiert werden, um sie entsprechend goutieren zu können.

Der von den Ästhetikern verbreitete Glaube, das Kunstwerk wäre, als Gegenstand unmittelbarer Anschauung, rein aus sich heraus zu verstehen, ist nicht stichhaltig. Er hat seine Grenze keineswegs bloß an den kulturellen Voraussetzungen eines Gebildes, seiner »Sprache«, der nur der Eingeweihte folgen kann. Sondern selbst wo keine Schwierigkeiten solcher Art im Wege sind, verlangt das Kunstwerk mehr, als dass man ihm sich überlässt. Wer die Fledermaus schön finden will, der muss wissen, dass es die Fledermaus ist: ihm muss die Mutter erklärt haben, dass es nicht um das geflügelte Tier, sondern um ein Maskenkostüm sich handelt; er muss daran sich erinnern, dass ihm gesagt ward: morgen darfst du in die Fledermaus. In der Tradition stehen hieß: das Kunstwerk als ein bestätig­tes, geltendes erfahren; in ihm teilhaben an den Reaktionen all derer, die zuvor es sahen. Fällt das einmal fort, so liegt das Werk in seiner Blöße und Fehlbarkeit zutage. Die Handlung wird aus einem Ritual zur Idiotie, die Musik aus einem Kanon sinnvoller Wendungen schal und abgestanden. Es ist wirklich nicht mehr so schön.[21]

Das Gleiche gilt meines Erachtens nun auch für religiöse Räume, die keinesfalls aus sich heraus ihre religiöse Wirkung entfalten, sondern lebensweltlich und liturgisch kontextualisiert sein müssen, um heute noch ihre Wirkung entfalten zu können. Zwar dürfte auch für heutige Menschen der Kirchenraum als Heterotop[22] erscheinen, aber nicht mehr in dem Sinn, in dem Michel Foucault dies einmal expliziert hat.[23] Wir haben es heute im besten Fall vor allem mit Baedeker-Christen zu tun, die durchaus kulturgeschichtlich interessiert sind, aber kaum auf der Suche nach zeitgenössischer Religion oder zeitgenössischer religiöser Ausdrucksform. 

Geht es also um die Vermittlung der Gestalt oder um den Gehalt von Religion? Bei beidem bin ich skeptisch. Den Gehalt von Religion sehe ich weiterhin eher „realpräsentisch“ in den Gemeinden vor Ort vermittelt, die man aufsuchen kann. Die Gestalt von Religion wäre dann vermittelbar, wenn eben nicht nur religiöse Räume, sondern eben auch religiöse Vollzüge virtuell vermittelbar wären. Denn ich glaube nicht, dass sich Religion von ihren Vollzügen trennen lässt.

Der dreidimensionale Blick in die Sixtinische Kapelle[24] erschließt mir zunächst ein Kulturgut, das vor 500 Jahren aus religiösen Impulsen entstanden ist und nach und nach fortentwickelt wurde. Mit meinen Erfahrungen vor Ort, mit den Atmosphären des Raumes, mit meinen theologischen oder auch nur religiösen Überlegungen hat es sehr wenig zu tun. Es ist aseptisch clean und im wörtlichen Sinn nichtssagend. Erst wenn man es zu einer Rahmung in Beziehung setzt, wird es sprechend.

Der dreidimensional anmutende Blick in die Klosterkirche in Loccum[25], um ein näherliegendes Beispiel zu wählen, macht es nicht wirklich besser. Wenn jemand noch nie ein Zisterzienserkloster und eine Zisterzienserkirche von innen gesehen hat, wenn er die Bewegung der Zisterzienser nicht kennt, die reduzierte Geste ihre Räume, wird er meines Erachtens zwar auf einen beeindruckenden kulturgeschichtlichen Ort stoßen, aber in Sachen konkreter Ausgestaltung dieser Form der christlichen Religion wenig erfahren.

Da Loccum auch ein VR-Arrangement anbietet, wäre die Frage, was sich die Schüler:innen tatsächlich beim Begehen des Raumes erschließen. Für die Erfahrung der Architektur ist das sicher sehr produktiv – aber religiös? Was vom religiösen Denken des Bernhard von Clairvaux ist virtuell erschließbar? Erst im Nach-Denken vor Ort, in der leibhaften Begehung kann einem die konkrete „Geste des religiösen Raumes“[26] einsichtig werden. Sonst aber reduziert sich die Beschäftigung mit dem virtualisierten Raum auf ihren medialen Charakter. Sie wird zu einem Medium wie ein Film, ein Text, ein Musikstück. Und hier kann sie durchaus hilfreich und anschaulich sein und eingesetzt werden.

Aber warum erinnern einen dann die Mehrzahl der vorhandenen religiösen Räume im World Wide Web doch eher an die Europa- oder Venedig-Besuche kamerabewehrter[27] amerikanischer Tourist:innen aus den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts, wie wir sie bei „Traum meines Lebens“ mit Audrey Hepburn verfolgen können: voller Klischees und Stereotypen, und zudem weit entfernt von der Lebenswirklichkeit? Eine Hollywood-Traumwelt statt Spiegelung des Lebens?

Wenn die Virtualisierung religiöser Räume doch eigentlich den versprochenen neuen Himmel und eine neue Erde erschaffen sollen, warum sehen die religiösen Räume im Netz (etwa bei Second Life) dann so ewig gestrig aus mit schneebehangenen Tannen im Hintergrund und orthodoxen Ikonen als Schaustücke, so dass es einen graust?

Perspektive. Von der leibhaften zur körperlosen Religion?

Aber vielleicht geht es langfristig gar nicht darum, sich vorhandene religiöse Räume durch Virtualisierung zu vergegenwärtigen, sondern darum, den virtuellen Raum ganz allgemein als religiösen zu entdecken, also eine neue, nun rein im Virtuellen verbleibende Form evangelischen Glaubens zu begründen. Denn Klaas Huizings Hinweis auf die sich fortentwickelnde Physiognomie religiöser Raumkultur lässt sich ja auch so deuten, dass sich der Kirchenbau im 21. Jahrhundert weiterentwickelt, und sich vielleicht dabei auch von der physischen Form der Architektur lösen könnte und langfristig ins Virtuelle wechseln könnte. Es ginge dann um eine fluide Form von Religion, eine Church of Cyberspace, die es ja schon einmal gegeben hat, die aber nun technologisch perfekter umgesetzt würde. Eigentlich war es ja genau das, worum schon die legendäre Cyberpunk-Trilogie von William Gibson mit ihren metaphysischen Implikationen im zweiten und dritten Teil kreiste.[28] Letztlich geht es aber wohl auch um Ideen der Perfektionierung der Menschen, wovon sich Amerikaner wie Elon Musk bis heute inspirieren lassen.[29]

Nun reden wir bei der Virtualisierung religiöser Räume für die religionspädagogische Arbeit ja noch nicht über die Digitalisierung der Kirche[30] bzw. der Religion, obwohl das Internet ja seit seinen frühen Anfängen eine deutliche techno-spirituelle Dimension hat.[31] Der erste Satz in der Ankündigung der ersten Internetkonferenz im CommuniTree-Netz 1978 lautete: „Wir sind wie Götter und könnten darin ganz gut werden“. Und wie man bereits vom Stil der Ankündigung vermuten kann, ging die erste Konferenz mit dem Titel 'Ursprünge' um künftige Religionen. Dem Internet ist also diese Idee quasi in die Wiege gelegt.

Religionspädagogisch finde ich es aber durchaus interessant, mit Schüler:innen darüber zu sprechen, was wäre, wenn die gesamte Religion grundsätzlich in das Virtuelle verlegt würde.[32] In der Regel sind mir die Überlegungen in dieser Hinsicht allerdings viel zu wenig radikal, denn normalerweise beschränkt man sich darauf, wie oben bereits dargelegt, religiöse Zeremonien im Netz zu übertragen oder vorhandene religiöse Räume bloß zu digitalisieren. Im Buddhismus werden immerhin schon religiöse Aufgaben an Roboter übertragen, so dass sie zeremoniell auch Beerdigungen übernehmen können. Und in Zeiten von BigData wären auch die Predigten viel zielgenauer – und die Beichten viel folgenreicher.

Auch im literarischen Science-Fiction-Genre kommt die Virtualisierung des Religiösen vor, allerdings mit überaus skeptischen und ironischen Untertönen, quasi als Abgesang auf die Religion. Schon 1987 hatte Douglas Adams die Idee eines elektrischen Mönches entwickelt, der uns im Glauben vertreten sollte, eine gut mittelalterliche Idee:

„Der Elektrische Mönch war ein Gerät zur Arbeitseinsparung wie ein Geschirrspüler oder Videorecorder. Geschirrspüler spülten für einen das langweilige Geschirr und ersparten einem so die Mühe, es selber spülen zu müssen; Videorecorder sahen sich für einen langweilige Fernsehprogramme an und ersparten einem so die Mühe, sie selber ansehen zu müssen; Elektrische Mönche glaubten für einen gewisse Dinge und ersparten einem damit, was allmählich zu einer immer beschwerlicheren Aufgabe wurde, nämlich alle Dinge zu glauben, die zu glauben die Welt von einem erwartete. Leider hatte sich bei diesem Elektrischen Mönch ein Fehler eingeschlichen, und zwar hatte er begonnen, mehr oder minder wahllos und ziellos alle möglichen Dinge zu glauben. ... Dieser Mönch hatte zum ersten Mal nicht einwandfrei funktioniert, als er eines Tages schlicht und einfach zu viel glauben musste. ... Der Mann aus dem Mönch-Elektroladen sagte, er bräuchte eine völlig neue Grundplatine, wies aber dann darauf hin, dass die neuen verbesserten Mönch-plus-Modelle zweimal so stark seien ... Das war's. Peng. Der defekte Mönch wurde in die Wüste geschickt, wo er glauben konnte, was er wollte“.[33]

Wenn der Elektrische Mönch bloß das Substitut von Pfarrer:innen respektive von Religionslehrer:innen ist, warum sollte es dann nicht auch Avatare als Substitute der religiösen Subjekte geben? Das ist bei Adams ja angedacht, wenn der Roboter für einen glaubt. So könnten nach und nach alle(!) am religiösen Prozess Beteiligten elektronisch substituiert werden einschließlich Gottes, er würde, was sich manche ja erträumen, zum Digitalen Gott[34].

Letztendlich entstünde so eine autonome „Welt am Draht“[35] – ganz ohne irgendwelche beteiligten realen Subjekte und Objekte. Die Idee, ausschließlich die religiösen Virtuosen und den Raum zu substituieren bzw. zu simulieren, scheint mir daher entschieden zu kurz gedacht. Viel logischer wäre es, gleich alles zu simulieren. Wenn schon, denn schon.

Nebenbei bemerkt: In Fassbinders „Welt am Draht“ kann man sich gar nicht sicher sein, welche Ebene der Simulation man gerade beobachtet. Sieht man nur eine „Welt am Draht“ oder gehört die beobachtete reale Welt selbst zu einer „Welt am Draht“ die ihrerseits eine „Welt am Draht“ beobachtet? Und schaut man als Fernsehzuschauer auf eine Welt am Draht in der eine Welt am Draht beobachtet wird oder ist die eigene Wirklichkeit vielleicht auch eine Welt am Draht? Gar nicht so einfach, das zu überprüfen. Ebenso wie die Frage, ob in Zeiten künstlicher Intelligenzen es diesen gelingen könnte, von der einen Ebene auf die andere zu kommen.

Jedenfalls stellt sich angesichts der denkbaren Simulation des religiösen Prozesses die dringende Frage, ob die sich als real empfindenden Subjekte auch wirklich vom religiösen Benefit ihrer vermeintlich künstlichen Avatare profitieren oder sich nicht eher nur parallele temporäre autonome religiöse Welten auftun. Wenn man den Menschen vermitteln könnte, dass die Anwesenheit von Avataren als virtuelle Voti in virtualisierten religiösen Räumen auch wirklich denselben Zweck erfüllt, wie die persönliche Anwesenheit der Menschen bei realen Gottesdiensten, dann könnte dieses Modell vielleicht funktionieren.

Noch aber sind wir nicht so weit.

Anmerkungen

[1]    Vgl. Verf. (2004): Virtueller Kirchenbau zur heiligen Einfalt. Gimmicks oder: Die populäre Anästhetik des Religiösen. In: tà katoptrizómena, Jg. 6, H. 27. http://www.theomag.de/27/am105.htm.

[2]    Vgl. dazu Mertin, Andreas (2001): Internet im Religionsunterricht. 2. Aufl. Göttingen S. 140ff.

[3]    So hebt Schleiermacher hervor, dass „die Umgrenzung des Raumes nur eine äußere Bedingung, mithin Nebensache, nicht ein Teil des Kultus selbst ist“. Schleiermacher, Friedrich Daniel (1977): Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen. 4. Aufl., Nachdr. der 3., kritischen Ausg., Leipzig 1910. § 289.

[4]    Vgl. Foucault, Michel (2002): Andere Räume. In: Barck, Karlheinz; Gente, Peter; Paris, Heidi; Richter, Stefan (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik ; Essais ; [mit Künstlersprüchen]. 7 Aufl. Leipzig: Reclam (Reclam-Bibliothek, 1352), S. 34–46.

[5]    Klie, Thomas; Leonhard, Silke (Hg.) (2008): Performative Religionsdidaktik. Perspektiven und Unterrichtspraxis.

[6]    Vgl. dazu Schmidtchen, Gerhard; Seitz, Manfred (1973): Gottesdienst in einer rationalen Welt. Religionssoziologische Untersuchungen im Bereich der VELKD. Stuttgart.

[7]    Vgl. Verf. (2002): Die Kirche als Jurassic Park. Oder: Lässt sich religiöses Raumgefühl pädagogisch klonen? In: Glockzin-Bever, Sigrid; Schwebel, Horst (Hg.): Kirchen - Raum - Pädagogik. Münster, S. 115–145.

[8]    Anders, Günther (2020): Italien-Tagebuch 1954. Florenz. In: Anders, Günther: Schriften zu Kunst und Film. Herausgegeben von Reinhard Ellensohn und Kerstin Putz. München: C.H. Beck (C.H.Beck eLibrary), 307-329, hier S. 312.

[9]    Ebd.

[10]   Ebd. S. 320.

[11]   Vgl. dazu Stegers, Rudolf (2008): Entwurfsatlas Sakralbau. Basel: Birkhäuser.

[12]   Vgl. dazu: Verf., Freiräume(n). Zur Diskussion um den heiligen Raum. Wie religionsfähig sind Kirchen? Vortrag Ev. Akademie Arnoldshain 1996. https://www.theomag.de/16/am51.htm

[13]   Klaas Huizing, Das erlesene Gesicht. Vorschule einer physiognomischen Theologie, Gütersloh 1992, S. 172ff.

[14]   ebenda, S. 172. Die vorherigen Zitate sind Zwischenüberschriften des Kapitels über Archi-Textur.

[15]   Krohn, Nicole (Hg.) (2012): Duden Allgemeinbildung - wie heißt das Dingsda? Ein Bildwörterbuch. Mannheim, Zürich

[16]   Verf. (2021): Was ist ein Weihnachts-Bild Und warum und wie sollte man es einsetzen? In: tà katoptrizómena, Jg. 23, H. 134. https://www.theomag.de/134/am739.htm.

[17]   Mertin, Andreas (2016): Das Gesangbuch der Gesandten. Eine kirchenmusikpolitische Erkundung. In: tà katoptrizómena, Jg. 18, H. 103. http://www.theomag.de/103/am552.htm.

[18]   Lorenzer, Alfred (1984): Das Konzil der Buchhalter. Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Eine Religionskritik. Frankfurt/M.

[19]   Vgl. dazu Verf. (2008): Raum-Lektüren. Suchbewegungen. In: tà katoptrizómena, Jg. 10, H. 54. http://www.theomag.de/54/am248.htm, sowie Verf. (2009): Differenzgestaltung. Raum-Lektüren II - Ein Vergleich. In: tà katoptrizómena Jg. 11, H. 60. http://www.theomag.de/60/am291.htm.

[20]   Martin Luther (1982), Ausgewählte Schriften, hrsg. v. Karin Bornkamm und Gerhard Ebeling, Bd. 1: Aufbruch zur Reformation, Frankfurt a. Main, 94f.

[21]   Adorno, Theodor W. (2004): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Aphorismus 143.

[22]   Vgl. Verf. (2004): Kirchenbau als Heterotop. In: Lienhardt, Conrad (Hg.): Sakralraum im Umbruch. Kirchenbau der Katholischen Kirche in Oberösterreich. Regensburg: Schnell & Steiner (Reihe Kirchenbau, Bd. 4), S. 12–14.

[23]   Foucault, Michel (2002): Andere Räume. In: Barck, Karlheinz; Gente, Peter; Paris, Heidi; Richter, Stefan (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. 7 Aufl. Leipzig, S. 34–46.

[26]   Vgl. Verf. (2013): Die Geste des weißen Raumes. White Cube – oder: Gibt es eine Szenografie reformierten Glaubens? In: tà katoptrizómena, Jg. 15, H. 83. http://www.theomag.de/83/am439.htm.

[27]   Gedreht wurde der Film im gleichen Jahr, in dem sich Günther Anders über die Kamera-bewehrten Amerikaner in Italien lustig machte. Aber nicht nur das karikierten amerikanische Ehepaar im Film ist so, auch Audrey Hepburn ist nie ohne Kamera zu sehen, sie will ja den „Traum ihres Lebens“ festhalten.

[28]   Gibson, William (1987): Neuromancer, München, ders., (1988): Biochips. München; ders., (1989): Mona Lisa Overdrive. München.

[29]   Vgl. Torres, Énile P. (2021): Why longtermism is the world’s most dangerous secular credo. In: Aeon Magazine, 19.10.2021.
https://aeon.co/essays/why-longtermism-is-the-worlds-most-dangerous-secular-credo.

[30]   Vgl. zum Folgenden Mertin, Andreas (2018): Was „Digitalisierung“ in der Kirche nicht heißen kann. Kursorische Notizen. In: tà katoptrizómena - Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 20, H. 112. Online verfügbar unter https://www.theomag.de/112/am623.htm.

[31]   Vgl. Verf., Herrmann, Jörg (1996): Im Wettstreit mit Gott. Das Internet als Impuls für die Theologie. In: Zeitzeichen: evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft. S. 481-484.

[32] Vgl. dazu Mertin, Andreas (2001): Internet im Religionsunterricht. 2. Aufl. Göttingen, S. 131ff.

[33]   Adams, Douglas (1988): Der elektrische Mönch. Dirk Gently's holistische Detektei. Hamburg

[34]   Bayreuther, Rainer (2023): Der digitale Gott. Glauben unter technologischen Bedingungen.  München.

[35]   Vgl. Galouye, Daniel F. (1989): Simulacron-drei. Science Fiction-Roman. 2. Aufl. München.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/143/am797.htm
© Andreas Mertin, 2023