01. Juni 2023

Liebe Leserinnen und Leser,
am 24. Mai 2023 ist Tina Turner im Alter von 83 Jahren gestorben. Sie war die vielleicht bedeutendste Rock‚n‘Roll Sängerin des 20. Jahrhunderts, eine Ikone des Empowerments. Dazu gehörte auch ihre Befreiung aus einengenden Grenz­(be)ziehungen. In Nutbush City Limits schildert sie 1973 das Leben in einer Gemeinschaft, die strukturierte Sicherheit gibt und im Gegenzug alle Freiheiten nimmt:

A church house, gin house
A school house, outhouse
On Highway Number Nineteen
The people keep the city clean
They call it Nutbush

Twenty-five was the speed limit
Motorcycle not allowed in it
You go t’the store on Fridays
You go to church on Sundays
They call it Nutbush, little old town.

Es ist ihr Leben bei ihrer Großmutter in dem Dorf Nutbush in Tennessee, heute mit gerade einmal 290 Einwohnern und dafür aber mit einer Baptisten- und einer Methodistenkirche. Es gibt kaum etwas Trostloseres, ein klassischer Lost Place, im frühen 19. Jahrhundert für die Baumwollernte gegründet. Ein Ort von dem man sich emanzipieren muss. Das gelingt ihr nur über Umwege. Viel später schreibt Tina Turner: „Das Studium und das Praktizieren der buddhistischen Prinzipien gaben mir die Kraft, mich zu befreien. Das rettete mir buchstäblich das Leben. Als ich anfing, mich spirituell zu stärken, wurde mir klar, dass ich zwar keine direkte Kontrolle darüber hatte, was mir widerfuhr, aber ich hatte die Kontrolle darüber, wie ich damit umging“. Das ist beeindruckend, aber nicht untypisch für viele Künstler.innen dieser Zeit.

Einige Feuilletons waren sich unmittelbar nach Bekanntwerden ihres Todes sicher, dass Tina Turner nun im Himmel sei (nachdem sie vorher in frühen Jahren durch die Hölle gegangen war):  'Heaven has gained an angel'. Das ist interessant, weil die Feuilletonist:innen sich offensichtlich wenig um den konkreten Glauben der Verstorbenen kümmern, sondern einfach religiöse Restbestände des Christentums in Anschlag bringen. Wir kommen schließlich alle in den Himmel – das Feuilleton ist popkulturell ein Vertreter der Allversöhnungslehre. Aber eigentlich müssten sie sich doch die für uns Irdische viel hoffnungsvollere Frage stellen, wo, wann und als was Tina Turner wiedergeboren wird. So aber reicht ihnen der Verweis auf den Buddhismus nur dazu, die vitale Fröhlichkeit der Künstlerin zu erklären. Das ist eigentlich schade.

Wir aber können eine außerordentliche Künstlerin ehren, die die ganze Welt begeistert hat. Auf die Frage, wie sie in Erinnerung bleiben möchte, hat sie 2023 gesagt: „Als Königin des Rock ’n’ Roll. Als Frau, die anderen Frauen gezeigt hat, dass es in Ordnung ist, zu eigenen Bedingungen Erfolg zu haben.“

***

Die Beiträge in der aktuellen Ausgabe von tà katoptrizómena stammen von den beiden verantwortlichen Herausgebern. Sie kreisen um Verstehensvollzüge: wie lässt sich die Veränderung der Haltung zur Kunst in den letzten Jahrzehnten und wie die von Kirche und Theologie nachvollziehen?  Und welche Rolle spielt die Digitalisierung dabei?

Am Anfang aber stehen zwei Erinnerungen an jüngst verstorbene evangelische Theologen: wir betrauern den Religionspädagogen Bernhard  Dressler (1947-2023) und Systematischen Theologen Christian Polke (1980-2023).

Im Hauptteil VIEW folgt Andreas Mertin bestimmten Spuren der Kunstsoziologie von Pierre Bourdieu und fragt, welche Bedeutung dessen Beobachtungen zu den „feinen Unterschieden“ in der Gegenwart zukommt, welche Folgen das für die Einschätzung der Bedeutung von Kunst und Kultur hat und inwiefern die Kirche einer bestimmten Form der Kunstwahrnehmung verbunden ist. Und er ergänzt diese Frage dahingehend, ob die bei den Künstlichen Intelligenzen abrufbaren Bildbeschreibungen unsere Kunstwahrnehmung klassenspezifisch verändern werden.

Wolfgang Vögele geht in einem theologischen Grundsatzbeitrag der Frage nach, wie sich aktuell der Protestantismus wandelt, welchen Anteil dabei die Digitalisierung hat und wie das das Verständnis des Christentums verändern könnte.

In der Rubrik VIRTUELLE WELTEN fasst Andreas Mertin seine bisher verstreut in diversen Ausgaben von tà katoptrizómena erschienenen Einsichten zum Thema des virtuellen religiösen Raumes zusammen und äußert sich skeptisch darüber, ob hier wirklich eine Zukunft der Kirche liegen könnte. Weder Gehalt noch Gestalt von Religion findet er hier wieder.

In den CAUSERIEN fragt Andreas Mertin anhand von drei konkreten Beispielen, ob es so etwas wie zufälligen Antisemitismus oder Antijudaismus im Kontext des aktuellen Protestantismus gibt oder ob mehr dahintersteckt: nämlich eine bodenlose Gedankenlosigkeit zum Thema Judenhass.

In den RE-VIEWs bespricht Andreas Mertin die gerade erschienene antirassistische Alle-Kinder-Bibel, sieht in ihr einige Schwächen, kommt aber insgesamt zu einem positiven Fazit. Das gelingt ihm bei dem anderen von ihm besprochenen Buch über den digitalen Gott nicht. Er bricht seinen Essay schließlich ab, weil er sich diese Glossolalie des Digitalen nicht mehr antun will.

Unter POST finden die Leser:innen eine Notiz von Andreas Mertin zu den aktuellen Erinnerungen an Dorothee Sölle. Er findet, es gebe bessere Anlässe als ausgerechnet eine runde Jahreszahl, um ihrer zu gedenken.

Und schließlich noch die Notizen aus dem Theomagblog.

Für dieses Heft wünschen wir eine erkenntnisreiche Lektüre!

Andreas Mertin und Wolfgang Vögele
in Verbindung mit
Karin Wendt, Jörg Herrmann und Horst Schwebel


Nächstes Heft

Die Ausgabe 143, die im August erscheint, fragt danach, wie Bilder zur Sprache finden. Falls Sie dazu einen Beitrag liefern möchten, setzen Sie sich gerne mit der Redaktion in Verbindung. Wir suchen vor allem noch einen Beitrag, der sich mit dem Verhältnis von einfacher und/oder leichter Sprache zum Umgang mit Bildern beschäftigt. Während es für das Pflichtmodul für Lehramtsstudierende in NRW „Deutsch für Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungsgeschichte“ (DSSZ) bereits entsprechende Erfahrung über den Einsatz von und die Arbeit mit Bildern gibt, fehlt Entsprechendes für die einfache und/oder leichte Sprache.



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