In memoriam Christian Polke (1980-2023)

Wolfgang Vögele

Es wäre übertrieben zu sagen, wir seien befreundet gewesen, aber wir begegneten uns immer wieder, zum ersten Mal in Berlin Anfang der Nullerjahre, als ein Theologiestudent namens Christian Polke ein vierwöchiges Praktikum in der Evangelischen Akademie absolvierte. Er half mir dabei, Tagungen vorzubereiten und Vortragsveranstaltungen zu organisieren. Aus der Ferne nahm ich dann seine Dissertation zur Kenntnis, hörte, dass er in Hamburg eine Assistenzstelle versah. Jahre später, in Wien beim Theologenkongress erzählte er mir, dass er eigentlich in Karlsruhe sein Vikariat habe antreten wollen. Aber bevor das geschah, nahm er den Ruf auf seine erste Professur in Göttingen an. Ich bedauerte, dass er nicht nach Karlsruhe gezogen war. Es hätte uns die Möglichkeit zum Gespräch gegeben. Später entdeckte ich seinen Namen in Kongressbänden, die ich für die Theologische Literaturzeitung rezensierte. Seine Beiträge über politische Ethik und pragmatische Philosophie stachen stets hervor.

Im Frühjahr des Jahres 2023 traf ich ihn in Speyer wieder. Er hielt bei einer kleinen Tagung ein Referat über Anthropologie und politische Ethik. Der Titel von Christian Polkes Vortrag lautete: Der Mensch als zoon politikon. Er entwickelte eine politische Ethik von Aristoteles her, und am Ende kam er auf die theologische Ethik der Politik zu sprechen. Er verwahrte sich gegen die theologische Skepsis des Luthertums gegenüber der Politik. Aber er hielt daran fest, dass anthropologische Aspekte der menschlichen Sünde für die politische Ethik eine gewichtige Rolle spielen. Deswegen müsse, so seine Folgerung, eine christliche Ethik des Politischen zwischen Weltgestaltung und Weltüberwindung, zwischen Prophetie und Pragmatik balancieren. Das war der Kern seines theologischen Denkens, irgendwo zwischen Luthertum, Pragmatismus und öffentlicher Theologie; von dort aus erschloss sich alles andere. Es kam dann in Speyer zu einer freundlichen, aber kontroversen Diskussion darüber, wie solch eine Balance auszusehen habe.

In der Nacht, die diesem Vortrag folgte, kamen wir im Partykeller des Speyerer Priesterseminars, wo die Tagung stattfand, bei einer Flasche Pfälzer Wein ins Gespräch. Ich war am Anfang vorsichtig, denn ich hatte die theologische Pointe seines Vortrags kritisiert, aber davon ließ er sich in keiner Weise beirren. Er war stets gesprächsbereit und stets freundlich, ganz gleich ob er mit Kollegen, Studierenden, Freunden diskutierte. Neben theologischen Argumenten tauschten wir biographische Erinnerungen an Berlin und Wien aus. Am nächsten Morgen kam ich zum Frühstück, da war er schon abgereist.

Nach Speyer schrieb ich ihm eine Mail, samt den Dateien von zweien meiner Aufsätze, versehen mit einer Warnung, dass meine Überlegungen nicht mit seiner theologischen Denkrichtung kompatibel seien. Er antwortete ein paar Tage später, bedankte sich und endete mit der Hoffnung, dass wir unser Gespräch bald persönlich fortsetzen würden: „…und auf eine baldige Wiederholung, nicht erst mit dem gleichen zeitlichen Abstand hoffend…“

Dazu ist es nicht mehr gekommen. Nach dem 25.April 2023 erhielt die theologische Community die erschütternde Nachricht von seinem viel zu frühen Tod.[1]


[1]    Der offizielle Nachruf der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen:
https://www.uni-goettingen.de/de/nachruf+auf+professor+dr.+christian+polke/65035.html.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/143/wv081.htm
© Wolfgang Vögele, 2023