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Magazin für Theologie und Ästhetik


Über die Grenzen von Journalismus und Kultur

Eine Rezension

Andreas Mertin

Im Dezember 2001 erschien Hans Christoph Buchs "Blut im Schuh. Schlächter und Voyeure an den Fronten des Weltbürgerkriegs" als zweihundertvierter Band der Anderen Bibliothek. Es handelt sich um eine Sammlung von Reportagen von allen Un-Orten dieser Welt, Berichte von den "Bruchstellen der Weltgesellschaft", verbunden durch einen langen vierteiligen Essay über die Grenzen von Literatur und Journalismus. Das Buch reiht sich damit ein in eine Liste zahlreicher anderer Reportagebücher, die in den vergangenen zehn Jahren in der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Anderen Bibliothek erschienen sind, und von denen die herausragendsten aus der Feder von Ryszard Kapuscinski (Der Fußballkrieg; Imperium; König der Könige; Afrikanisches Fieber) stammen.

Zu Begründung und Motivation seiner Arbeit an den Grenz(ort)en der Humanität schreibt Hans Christoph Buch: "Es gibt existentielle Herausforderungen, denen ein Autor sich stellen muss, wenn er etwas über sich selbst und die ihn umgebende Welt herausfinden will, was er nicht schon vorher gewusst hat. Ich rede von Grenzsituationen wie Geburt und Tod, Gefängnis und Exil, Folter und Krieg, die man, weil die Einfühlung versagt, nicht zu Hause am Schreibtisch nachvollziehen kann, sondern nur, indem man sich von seinem Schreibtisch entfernt. Die Literatur hat das zu allen Zeiten getan." [18f.] Damit ist ein moralischer Maßstab benannt, an dem Buch sich messen lassen muss.

Freilich steht die Lektüre des Buches damit zugleich unter einer Voraussetzung, die seine eigene Sinnhaftigkeit dementiert. Wenn man Tod, Gefängnis, Folter und Krieg nicht zu Hause nachvollziehen kann, wenn jede Einfühlung notwendig versagt, was kann dann der Sinn einer Sammlung sein, die doch gerade davon - von Tod, Gefängnis, Folter und Krieg überall auf der Welt - Zeugnis ablegen will? Oder ist gerade diese Unmöglichkeit sprachlicher Vermittlung des Grauens - um die das Werk mit seinen Texten kreist - das zu Zeigende, ist also sein Scheitern die Botschaft? Denn die Gegenüberstellung kann ja nicht jene sein, die H. C. Buch selbst mehrfach hervorhebt, nämlich die zwischen der Knappheit einer Nachrichtenmeldung und der Ausführlichkeit eines literarischen Berichts. Wäre das der Kern der Sache (und nicht nur Ausdruck einer Aufgabenteilung einer zunehmend divergierenden Welt der Berichterstattung), dann hätte H. C. Buch sich selbst - wie seinerzeit Aleksandr Solschenizyn mit "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" - auf ein Geschehen konzentrieren und es literarisch bearbeiten müssen [Was er ja mit Kain und Abel in Afrika am Beispiel Ruandas auch getan hat). H. C. Buch pflegt aber in diesem Werk den literarisch-journalistischen Bericht über nahezu alle Katastrophenherde diese Welt, was ihn der journalistischen Tätigkeit notwendig näher bringt, als er es selbst wahrhaben will. Auf 340 Seiten entfaltet er seine erschreckenden Beobachtungen über die Normalität des Bösen, über die Zufälligkeit des Tötens und getötet Werdens wie auch über die Kontingenz von Humanität, verweist er auf die schwindenden und verschwimmenden Differenzen von Tätern und Opfern. Seine literarischen Reportagen führen den Leser nach Haiti, Sierra Leone und in den Kongo, Algerien und Ruanda, Albanien und in den Kosovo, Osttimor und Kambodscha, an die Grenze von Süd- und Nordkorea und auch zum jüngsten Konflikt um Afghanistan an die pakistanisch-afghanische Grenze.

Das alles ist insofern erschreckend und nachdenkenswert zugleich, weil es bei aller Unterschiedlichkeit der Krisenorte die Gleichförmigkeit des infernalischen Geschehens zeigt. Alle Spekulation über eine Humanisierung der Welt wird als unbedachtes Wunschdenken entlarvt: "Die internationale Gemeinschaft ist eine fromme Fiktion". Und nebenbei gesagt: auch die friedensstiftende Rolle der Religionen erweist sich als illusionär.

Viele Sätze H.C. Buchs in "Blut im Schuh" sind Provokationen, die zum Nachdenken anregen können und müssen. Etwa wenn er den Erfolg der Roten Khmer "im buddhistischen Erbe der Weltabgewandtheit und Entsagung" entdeckt und darin "eine der Ursachen für den Erfolg dieses ideologischen Massenwahns" sieht [161]. Der Buddhismus als Hintergrund, vor dem Pol Pot und seine Schergen ihr Treiben erst durchsetzen konnten - da wird manchem westdeutschen Salonbuddhisten vermutlich flau im Magen. Inzwischen sieht Buch die Taliban als Erben der Roten Khmer an - mit entsprechend kritischem Blick auf den Islam. http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,161785,00.html

Ob H.C. Buchs literarische Reportagen den Menschen näher kommen "als jeder Spendenaufruf und jede Fernsehreportage" - wie der Klappentext schreibt - bezweifle ich. Mich stört schon der sportive Komparativ in diesem Vergleich (der nicht nur den Klappentext bestimmt, sondern auch Teil des Buches selbst ist). Das ist nicht nur billig, sondern vermutlich auch unzutreffend. Es vergleicht die Leistung von Literatur in Zeiten, in denen es noch keine Massenmedien gab und diese zudem auch noch abbildende Funktion hatte, mit einer Mediengesellschaft, in der die Literatur die ausdifferenzierte Funktion des Nach-Denkens, des Verstörens, der sprachlichen Durchformung übernommen und das Illustrative weitgehend abgestreift hat. Deshalb lässt sich beides - die Vermittlung des Elends über Bilder und/oder über das Wort - meines Erachtens nicht miteinander vergleichen. Und selbst wenn: Ob man es wirklich auf eine Konkurrenz der literarischen Reportage H.C. Buchs etwa mit der explizit massenmedial arbeitenden Initiative Menschen für Menschen Karlheinz Böhms ankommen lassen sollte? Hier macht ein Komparativ wenig Sinn.

Natürlich bilden H.C. Buchs literarische Reportagen einen Widerpart zu einer Gesellschaft, die der Fit-and-Fun-Story, der volkstümlichen Hitparade - folkloristisch in Dubai aufgeführt - oder auch der Eröffnung einer Galerie zur Kunst des 19. Jahrhunderts - nur allzu zu gerne mehr Raum gibt als dem Nachdenken über das Grauen, das der Mensch ist. Es ist während der Lektüre des Buches kaum zu fassen, dass dies alles in der gleichen Dekade geschieht: das Morden in Haiti, Ruanda, Sierra Leone oder Afghanistan und der gemütliche Kommerz in Westeuropa, der sich allenfalls Sorgen darüber macht, dass nach den Anschlägen auf das WTC die Nachfrage nach Urlaubsflügen drastisch zurückgegangen ist. In der Desillusionierung entfaltet die Sammlung literarischer Reportagen ihre Stärke. Am Besten sind Buchs Beobachtungen dort, wo er direkt an der Sache ist, in der Beschreibung des Entsetzens über das, was Menschen Menschen antun können.

"Beim ersten Rundgang durch das vom Bandenkrieg verwüstete Monrovia hatte ich ... das Gefühl eines Déja-vu. Die Straßen waren mit verwesenden Leichen gesäumt, an denen Aasvögel und Hunde herumzerrten ... Jeden Morgen ... begrüßten wir die Toten wie alte Bekannte, die über Nacht ihr Aussehen ein wenig verändert hatten - ganz zu schweigen vom Geruch. Obwohl man beim Überqueren einer Straßenkreuzung sein Leben riskierte, stellten die Bandenkrieger bei der Annäherung der Journalisten das Feuer ein und forderten die hinter Autowracks verschanzten Kämpfer der anderen Seite durch Zurufe auf, die Fremden passieren zu lassen. Alle Bürgerkriegsparteien hielten sich daran - ein Phänomen, das ich nur mit der von den Medien ausgehenden Faszination erklären kann. Die durch Gewaltvideos scharfgemachten Jugendlichen wünschten nichts sehnlicher, als selbst im Fernsehen aufzutreten, und stellten sich in Rambo-Pose vor den TV-Teams zur Schau. Ein Menschenleben war in Monrovia nicht mehr als fünf Dollar wert, und die bewaffneten Teenager ... waren auch für weniger Geld bereit, vor laufender Kamera eine Geisel zu exekutieren.

Die Stunde der Wahrheit schlug, als Corinne Dufka, eine Reuters-Photographin aus Nairobi, zufällig Zeugin wurde, wie NPFL-Soldaten ein mutmaßliches Mitglied der Krahn-Miliz misshandelten. Sie zogen den Mann nackt aus und machten Anstalten, ihn mit einem Buschmesser zu kastrieren - aus Sadismus oder, was mir plausibler erscheint, um der Reporterin zu imponieren. Nachdem sie die Szene photographiert hatte, kaufte Corinne Dufka den Gefangenen frei und überredete seine Peiniger, ihn unbehelligt zu lassen. Sie war stolz darauf, einem Menschen das Leben gerettet zu haben, aber am nächsten Morgen lag der Mann erschossen vor der Auffahrt zum Hotel.

Als ich einen etwa sechzehnjährigen Jungen, der sich selbst als 'Field-Marshall Rommel' bezeichnete, fragte, warum er seine afrikanischen Brüder und Schwestern töte, meinte er achselzuckend: 'Why not?' Schon ein Jahr zuvor, bei meinem ersten Besuch in Monrovia, hatte mein damaliger Gewährsmann Molly auf die gleiche Frage geantwortet: 'Sie brauchen keinen Grund, um dich zu töten.'

Dieser Text beinhaltet all die Ambivalenz, die das Buch und das in ihm Dargestellte auszeichnet. Hans Christoph Buch geht in seinen Erkundungen sehr weit, nervenaufreibend weit, er begleitet den Massenmörder in seiner familiären Normalität und der Verleugnung/Verdrängung seiner Taten ebenso interessiert wie die verzweifelten weltweiten Helfer der so genannten Non-Government-Organizations, die sich oft genug selbst im Wege stehen.

Was man nach der Lektüre des Buches jedenfalls nicht mehr sagen kann, ist, dass etwa die seinerzeitigen unsäglichen Äußerungen eines Taliban-Ministers, die UNO möge in Kabul nicht nur ein Sportstadion, sondern auch eine Hinrichtungsstätte finanzieren, damit die Hinrichtungen nicht mehr im Sportstadion stattfinden müssten, unerklärliche Ausnahmen an Inhumanität, aber eben nur Ausnahmen seien. Nein, Hans Christoph Buch zeigt, dass solches Denken (und Handeln) überall in der Welt anzutreffen ist, dass man derartiges im Gespräch mit den Kriegsherrn in Kambodscha, im Kosovo oder in Afrika antrifft. Nicht die Humanität ist normal, sondern die Inhumanität.

Und selbst dort, wo Hans Christoph Buch Dinge zusammenschreibt, die man nicht hören und lesen will, weil sie einen nahezu physischen Widerwillen auslösen, etwa wenn er auf gut einer Seite eine Voodoo-Priesterin, die Absicht zum Nichtrauchen und den Todeskult der Nazis literarisch verbindet, auch dort bietet er Material und Impuls zum verstörten Nach-Denken.

Nicht alles an der vorgelegten Sammlung kann jedoch überzeugen. Natürlich ist das Alles nicht für ein Buch geschrieben worden, sondern für verschiedene Zeitschriften wie DIE ZEIT, LETTRE INTERNATIONAL oder den TAGESSPIEGEL. Insofern mögen Doppelungen erklärbar sein. Ärgerlich sind die sich mehrfach wiederholenden Formulierungen und Abschnitte (z.B. S. 98f. und S. 201) dennoch, vor allem deshalb, weil Hans Christoph Buch sich selbst ja mit der literarischen Bezugnahme auf Tolstoj, Kleist, Goethe, Lessing und allem, was literarisch gut und wertvoll ist, in einen anspruchsvollen schriftstellerischen Kontext stellt. Dass er nicht Journalist, sondern Schriftsteller sei, wird dem Leser als Credo immer wieder gesagt. Aber die mehrfach wiederholte Bezugnahme auf den Schlussvers von Goethes Faust zur Charakterisierung des Schreckens in den Katastrophengebieten der Welt lässt danach fragen, ob H. C. Buch tatsächlich mit Kugelschreiber und Notizblock arbeitet und nicht eben doch mit Textbausteinen einer Textverarbeitung wie seine journalistischen Kollegen. Ärgerlich auch manche daneben geratene Metapher, die vielleicht aus dem Entsetzen geboren wurde, dennoch aber eher zur Verunklärung beiträgt, als zur literarischen Durchdringung des entsetzlichen Geschehens. Ärgerlich schließlich auch die künstlich aufgebauten Frontstellungen gegenüber journalistischen Kollegen, wo doch jeder, der kontinuierlich über das Entsetzen der Welt vor Ort berichtet, unvermeidbar zum "Katastrophentouristen" (taz) wird. So bekommt die Sammlung unter der Hand etwas von einem Besserwisser-Gestus. Das alles hat Hans Christoph Buch nicht nötig und es schadet seinem literarischen Engagement.

Um noch einmal auf seine Motivation zurückzukommen: "Es gibt existentielle Herausforderungen, denen ein Autor sich stellen muss, wenn er etwas über sich selbst und die ihn umgebende Welt herausfinden will, was er nicht schon vorher gewusst hat. Ich rede von Grenzsituationen wie Geburt und Tod, Gefängnis und Exil, Folter und Krieg, die man, weil die Einfühlung versagt, nicht zu Hause am Schreibtisch nachvollziehen kann." Bei allem unbestrittenem humanem Engagement trägt diese Beschreibung Züge dessen, was man "geborgtes Leid" nennen könnte. Das scheint der Preis zu sein, wenn man die Grenzen von Literatur und Journalismus thematisieren und zugleich über sie hinaus will. Insofern zeigt Hans Christoph Buch mit "Blut im Schuh" aber auch ganz praktisch die weiterhin geltenden und nicht überwundenen "Grenzen von Literatur und Journalismus" auf.


© Andreas Mertin 2002
Magazin für Theologie und Ästhetik 15/2002
https://www.theomag.de/15/am44.htm

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Hans Christoph Buch, Blut im Schuh. Schlächter und Voyeure an den Fronten des Weltbürgerkriegs, Frankfurt 2001