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Magazin für Theologie und Ästhetik


Zeitgenössische Kunst

Eine Rezension

Andreas Mertin

Ein kleines, lesenswertes Bändchen über "Zeitgenössische Kunst" legt Catherine Millet in der Reihe "Mensch & Wissen" im Lübbe-Verlag vor. Die Kunstkritikerin Millet ist Mitbegründerin und Redaktionsleiterin der Zeitschrift Art press. Im vorliegenden Bändchen, im französischen Original 1997 [also zur Zeit der documenta X] erschienen, geht es um Die Welt der Kunst und Die Verwirklichung des Projekts "Moderne" nicht zuletzt unter dem Blickwinkel ihrer Musealisierung. Ergänzt werden die beiden Kapitel durch ein Glossar zu einigen Begriffen zeitgenössischer Kunst. Das Buch, so verlautbart der Klappentext, "liefert einen Überblick über Strömungen und Stilmittel zeitgenössischer Kunst und reflektiert den Kunstbetrieb. Welche Wege und Strategien können und müssen Künstler heute entwickeln? Welche Rolle übernehmen Kritiker und Museumskuratoren im Kunstbetrieb? Wie kann oder sollte der Betrachter mit den Objekten der zeitgenössischen Kunst umgehen?"

Das erste Kapitel Die Welt der Kunst [das nach der Konzeption der Buchreihe "Ausführungen zum besseren Verständnis" des Themas enthält] geht der Frage nach "Wo endet die moderne Kunst und wo beginnt die zeitgenössische Kunst"? Genauer, es untersucht die Frage, was denn zeitgenössische Kunst eigentlich sein könnte. Denn diese, darauf verweist Millet, gibt es als positive begriffliche Bestimmung noch gar nicht so lange, sie setzt sich erst in der Mitte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch. Lange Zeit bezeichnete "zeitgenössische Kunst" alles was zur jeweiligen Zeit mit dem Anspruch auftrat, Kunst zu sein, während "Moderne Kunst" jeweils die herausragende, innovative, neue Kunst war. Zeitgenössisch im positiven Sinne wird die Kunst erst, "indem sie uns von unserem alltäglichen Leben erzählt".

Das Problem entsteht da, wo Museen paradoxerweise beginnen, zeitgenössische Kunst zu sammeln und zu konservieren. Nun gehört zur Geschichte der Kunst immer schon der Drang ins Museum. Wie Hans Belting in seinem Buch "Das unsichtbare Meisterwerk" wiederholt deutlich macht, waren sich im 19. Jahrhundert die Zeitgenossen oft über den "Meistercharakter" eines gerade entstandenen Bildes im Klaren und suchten es im Museum zu platzieren. Was Millet aber beschreibt, ist weniger die Sicherung der Meisterwerke, sondern die Vergewisserung über eine unübersichtlich gewordene zeitgenössische Kunst: "Wir verspüren tatsächlich ein um so stärkeres Bedürfnis, die zeitgenössische Kunst zu historisieren, je chaotischer, unverständlicher und sinnloser sie uns erscheint."

Und je mehr Kunstwerke ein Teil dessen sind, was unser tägliches Leben ausmacht, desto schwieriger wird es, im Kontext des Museums angemessen mit ihm umzugehen. Millet erläutert das an verschiedenen Werken. Wenn z.B. in einem Werk von Nam Jum Paik nach einigen Jahren ein Fernseher ausfällt und er nicht zu reparieren ist, darf man ihn durch ein neuartiges = andersartiges Modell ersetzen? Und wenn ein zeitgenössisches Kunstwerk von Duane Hanson restauriert werden muss, sollen dann die Utensilien aus der Zeit der Entstehung des Kunstwerks, also dem Jahr 1970, oder sollen "zeitgenössische" Utensilien verwendet werden, welche die Zeitgenossenschaft des Kunstwerks wenn nicht zerstören, so doch verändern würden? Es geht um die im Kunstwerk inkorporierte Zeit, eben das, was ihre Zeit-Genossenschaft ausmacht.

Eine weitere Entwicklung ist die radikale Individualität und Pluralität bei gleichzeitiger Universalität, welche die bisher vertraute Vertikalität des Kunstsystems erodieren lässt: "Die Pyramide, die in der Macht des Direktors eines großen Museums oder eines Händler-'Trusts' gipfelt, wird von den Termiten kleiner lokaler Mächte zerfressen ... Die Netze sind zu zahlreich und zu verzweigt, als dass sich eine einzelne vorherrschende Macht noch durchsetzen könnte". Was bleibt, ist die "Welt der Kunst", wie es amerikanische Kunsttheoretiker nennen: "Ein Kunstwerk ist das, was innerhalb einer sozialen Gruppe, die die 'Welt der Kunst' konstituiert, als solches anerkannt wird." Das aber wäre - worauf Millet zurecht hinweist - ein Modell, das an soziale Exklusivität gebunden wäre und seine Plausibilität verlöre, sobald die Kunst sich allgemein durchzusetzen begänne. An dieser Stelle bricht Millet ihren Überblick über die zeitgenössische Kunst ab, um ein neues Diskussionsfeld zu eröffnen.

Das zweite Kapitel Die Verwirklichung des Projekts "Moderne" [das nach der Konzeption der Buchreihe "Anregungen zum Nachdenken" beinhaltet] eröffnet scheinbar spektakulär: "Müde der 'niederen materiellen' Probleme, mit denen die Museumskonservatoren konfrontiert sind, nicht geeignet zu bedauern, dass eine merkantile Gesellschaft Kunstwerke wie gewöhnliche Waren behandelt, erschöpft von der Auflistung der Werke, die die Banalität unseres täglichen Lebens reflektieren, schlage ich eine Luftveränderung vor. Ich möchte zu den ätherischen Gegenden gelangen, zu denen übrigens die Kunst früherer Zeiten führte, Gegenden der transzendenten Werte, des Erhabenen."

Das klingt nun - knapp fünf Jahre nach seiner Formulierung - gar nicht mehr so spektakulär, denn das Erhabene ist inzwischen so inflationär geworden wie vorher das Alltägliche. Derartige Besinnungen auf die Enden der Moderne, unter welcher Fokussierung sie auch stattfinden, reißen niemanden mehr vom Hocker. So wie Millet es füllt, ist es zunächst und vor allem ein Plädoyer für eine "Präsenz" der Kunstwerke, die nicht mehr vom Diskurs überfremdet werden soll. Ähnliches hatten wir einige Jahre zuvor ja auch schon vom Literaturwissenschaftler George Steiner gehört, der für "Real Presences" plädiert hatte und gegen die Macht der wuchernden Kommentierung polemisierte. Und beide - Steiner wie Millet - bekommen in ihrem jeweiligen Plädoyer am Ende vielleicht nicht ganz zufällig ein schwer erträgliches religiöses Timbre. "Eine der wesentlichen Funktionen der Kunst besteht von nun an darin, das Potenzial der Humanität, das die Religion nicht mehr übernimmt und das die Wissenschaft nicht berücksichtigen kann, sichtbar zu machen und zu verschieben." Worum es gehe, sei eine Neubewertung des Kunstwerks, eine Besinnung darauf, dass die Kunst wieder "Spuren hinterlässt". Und wie Steiner gerät auch Millet in einen performativen Selbstwiderspruch, ist doch ihr Diskurs wiederum nur ein parasitär sekundärer. Dies eingestehend, endet ihr kleiner Essay mit den Worten: "Seien wir ehrlich: Wenn man heute ein kleines Buch über die 'zeitgenössische Kunst' schreibt, dann aus dem Grunde, weil man viel über diese zeitgenössische Kunst spricht. Und 'zeitgenössische Kunst', das sind nichts als Worte, eine bequeme Art, sehr verschiedene und widersprüchliche Werke zusammenzufassen und zu demonstrieren, dass die soziale Gemeinschaft sich eine Kunst wieder aneignet, die ihre Fähigkeit bewiesen hat, ihr entschlüpfen zu können. Glücklicherweise sind 'zeitgenössische Kunst' nur Worte, während die Realität ihrer Werke uns manchmal noch immer unseres didaktischen Gesprächs berauben kann".

Gerade wegen der Herausforderung zum Widerspruch, den der zweite Teil der Ausführungen auf sich zieht, aber auch wegen ihrer Einführung in die Strömungen zeitgenössischer Kunst seit 1960 ist Catherine Millets Bändchen für die Lektüre sehr zu empfehlen.


© Andreas Mertin 2002
Magazin für Theologie und Ästhetik 15/2002
https://www.theomag.de/15/am45.htm

 
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Catherine Millet, Zeitgenössische Kunst, Bergisch-Gladbach 2001