Von der Verabschiedung Gottes zum Verlust des SubjektsDas neue Leiden im FilmInge Kirsner |
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"Unsere populäre Kultur entstand vor allem aus dem zersprungenen Text des einen, heiligen Buches", so schreibt der Filmkritiker Georg Seeßlen im Jahr 2000 (in "DER TAGESSPIEGEL", Berlin am 21.10.2000). Es ist der Zustand der Postmoderne, in der jede Einheitsideologie abgeschafft ist und das Ende der großen Geschichte(n) eine Vielzahl kleiner Geschichten freigesetzt hat, die sich aus dem religiösen Steinbruch bedienen und dessen Elemente neu verbinden. Der Bruch erfolgte zugunsten einer "religiösen Vielfalt" und zugleich einer "religiösen Psychose", die Filme wie z.B. "Dogma" (Kevin Smith, USA 1999) zu semiotischen Abenteuerspielplätzen machten. Die im folgenden vorgestellten Filme zeugen jedoch von einem neuen Ernst jenseits aller Verspieltheit, vielleicht sogar von einem Drang zu einer Form des (Mit-)Leidens, der dem aristotelischen Katharsis-Begriff eine nachmoderne Gestalt verleiht. Dancer in the Dark (Lars von Trier, DK/USA 2000)Mit Lars von Triers Musical-Film "Dancer in the Dark" hat im Kino das "Projekt einer weiblichen Wiedererfindung der Religion im Kino" begonnen, so Seeßlen. Die lange Geschichte des cineastischen Frauenopfers gewinne hier eine neue Qualität; die von Björk gespielte Hauptfigur Selma bringe sich selbst(bestimmt) zum Opfer, und ihr Opfertod am Galgen sei der "Jeanne d'Arc- Augenblick für die Pop-Moderne"[1]. "Das Reich und die Herrlichkeit" (The Claim, Michael Winterbottom, GB/Kanada 2001)Wie Trier von Björk das Äußerste in ihrer Rolle abverlangte, so dass das Spiel im Laufe des Drehens immer ernster wurde bis hin zur existenziellen Bedrohung, so versetzte auch der englische Regisseur Winterbottom für "The Claim" seine Filmtruppe in eine eisige Winterlandschaft. Er zog das Drehen an einem abgelegenen Ort Kanadas bei 30 Grad unter Null den Studiobauten vor, und die Anstrengung während des Drehens werden im Film auf den Gesichtern der Schauspielenden sichtbar. Es ist ein (gelungener) Versuch, in einem derart künstlichen Medium wie dem Kino so etwas wie Authentizität herzustellen[2]. Der profan klingende englische Titel "The Claim" erhielt die ziemlich abgehobene deutsche Übersetzung "Das Reich und die Herrlichkeit". Dieser Titel, der an eine Zeile aus dem Vater Unser erinnert, kommt durch den Namen der Stadt, in dem die Geschichte spielt, zustande. "Kingdome Come" - das Reich kommt oder komme - ist die Gründung von Dillon, einem Mann mittleren Alters, der seine Stadt beherrscht als Sheriff, Richter, Finanzier. Das Goldgräberstädtchen wurde Ende des 19.Jahrhunderts gegründet in der Sierra Nevada mithilfe einiger Goldbrocken, die Dillon erhalten hat - im Tausch gegen seine Frau und sein Baby. Nun ist sein Tresor voller Goldbarren und seine Seele leer und verwüstet; auch seine Stadt kann sich nicht weiter entfalten, solange sie keine Anbindung an die Verkehrsadern in Form der gerade entstehenden Eisenbahn hat. Mit den Eisenbahnern, die das Land sichten und vermessen, kommt eine neue Zukunftsperspektive in die Stadt; und mit ihnen kommt auch die verratene und 18 Jahre zuvor verkaufte Frau Dillons nach Kingdome Come, und mit ihr Hope, wie die gemeinsame Tochter heißt. Elena ist todkrank und kommt nur, um die Zukunft der mittellosen Hope zu sichern, die nicht ahnt, dass Dillon ihr Vater ist. Dillon jedoch will nicht nur Hope als Tochter annehmen, sondern durch eine neuerliche Heirat den Bund mit Elena auffrischen. Unter einer Bedingung: sie darf Hope nicht sagen, dass er ihr Vater ist und was er getan hat. Die Kette des Nicht-Eingestehens, Verschweigens geht immer weiter, Dillon verlässt nahezu kommentarlos seine momentane Geliebte und heiratet Elena, die ihrer Tochter diese plötzliche Heirat nicht erklären kann und will. Der Verrat pflanzt sich als nicht eingestandene Schuld fort wie ein Geschwür, und als Elena stirbt, will Hope Kingdome Come verlassen. Mit ihr haben auch die Eisenbahner Abschied genommen von der Stadt, deren unwegsame Umgebung sich für den Gleisbau als zu schwierig erwiesen hat. Fast alle Einwohner haben die Stadt daraufhin verlassen, um eine neue Stadt direkt an den Gleisen zu gründen, und Kingdome Come, das Erbe Hopes, dass sie nicht will, wird immer leerer. Als der verzweifelte Dillon, um Hope am Weggang zu hindern, ihr schließlich die Wahrheit eingesteht, verlässt sie ihn entsetzt. Herr über die leere Stadt, zündet Dillon alle Häuser an und legt sich zum Sterben irgendwo in den Schnee. Es ist Winter, dennoch lecken die Flammen in kurzer Zeit das Holz auf. Das Feuer ist sichtbar bis zur neugegründeten Stadt, Hope eilt zusammen mit dem Chef der Eisenbahner, den sie liebt, dorthin; als sie schließlich ankommen, ist die Stadt nicht mehr zu retten, sie finden Dillon erst am nächsten Morgen, tot. Eines der wenigen Bilder der Hoffnung in diesem ganzen Film, in dem der Winter jedes Licht der Seelen und Herzen zu ersticken scheint, ist das Ende, wenn Hope, die Hoffnungsträgerin, mit ihrem Geliebten den Ort des Todes verlässt. Die Kamera fährt am Ende nach oben, als würde der Zuschauer nun den Platz einnehmen, den sonst das Auge Gottes hat: er allein sieht, wie die Geschichte weitergeht, aus einer Perspektive, die das Ganze im Blick hat, die die ganze Geschichte kennt; und diese, die Geschichte der Liebe, scheint niemals zu enden, dem Tod des einzelnen, dem Verlöschen jeder individuellen Hoffnung zum Trotz. Die alte Stadt "Kingdome Come" ist verwüstet, die Hoffnung auf das Kommen des Reiches konnte sie nicht verwandeln; aber es gibt eine neue Stadt, eine neue Liebe, eine neue Hoffnung. Aber um welchen Preis; der Abschied von Gott ist längst vollzogen, das Königreich, erbaut aus Schweiß, Verrat und Nuggets, ist von dieser Welt und der Mensch Herrscher seines Schicksals. Aber dem König dieser Stadt mit dem transzendenten Namen entgleitet sein Schicksal; mit dem Augenblick des Verrats, der im trunkenen Zustand erfolgte, hat ihn sein eigentliches Selbst verlassen, und mit der Rückkehr der verkauften Frau steht er plötzlich wieder sich selbst gegenüber. Er versucht, die Geschichte der Schuld umzuschreiben in eine Geschichte des guten Willens, aber es ist zu spät. Mit dem Tod der Frau und dem Eingeständnis seiner Schuld verliert er auch die Tochter, und mit dem Weggang Hopes verliert Dillon endgültig jeden Grund für eine weitere Existenz. Auch dieser Film macht die Zuschauenden zu Teilhabern einer Passion, er wirkt wie eine Bußpredigt, die läutern und reinigen soll. Das melodramatische Pathos dieser Bußpredigt wird aufgehoben, indem der Regisseur die Bebilderung der extremen Gefühle weitgehend dem Publikum überlässt; auch dadurch gewinnt der Film etwas sehr (Alp-)Traumhaftes. Als Nastassja Kinski, die die Exfrau verkörpert, gefragt wird, wie sie mit dem düsteren Stoff einer einstigen, schließlich verratenen Liebe, die sich nur erahnen ließe, zurechtgekommen sei, antwortet sie: "Man muss sich die Liebe der beiden einfach vorstellen. Sie wird nicht gezeigt"[3]. Dieses Nicht-Zeigen kennzeichnet einen transzendentalen Filmstil, der sich von dem Triers zwar unterscheidet; aber sie gleichen sich jenen Merkmalen, wie sie ihr Sujet jeweils erzählen. Die Unbedingtheit, das Pathos, der absolute Ernst findet sich auch, in anderer Weise, in dem neuen Film der Coen-Brüder, in dem das Selbst die Leerstelle ist, um die die Handlung kreist. The Man who wasn't there (Joel Coen, USA 2001)"Wer bist du? Wer bist du, Mann??" wird Ed Crane, die Hauptfigur von "The Man who wasn't there" mehrere Male eindringlich gefragt. Er weiß es selbst nicht; er versucht, so die Ausgangsposition des Films, sich selbst zu (er-)finden, und diese eine, die einzige Tat, die von ihm selbst ausgeht, stürzt die Menschen in seiner Umgebung in Chaos, Verzweiflung und Tod. Irgendeine Form von Nähe, die eine Identifikation mit dem Protagonisten erlauben würde, ermöglicht das extrem künstliche Kino Coens nicht, das mit seinen Schwarz/Weiß-Bildern den film noir wieder erstehen läßt. Auch die Off-Stimme Cranes, der seine Geschichte erzählt, macht einem diese Figur nicht vertrauter, die sich selbst nicht verlieren kann, weil sie niemals ein (selbstbestimmtes) Subjekt war. Crane ist höchstens ein Subjekt im wörtlichsten Sinne: ein Unterworfenes, unterworfen dem Willen der Frau, die ihn geheiratet hat, unterworfen der Geschwätzigkeit seines Schwagers, der ihm einen Job verschafft hat, und dem jeweiligen Mitteilungsdrang der Kunden im Friseurladen. Crane ist fast so ungreifbar wie der Rauch der Zigaretten, die er pausenlos im Mundwinkel hängen hat. Einmal dringt bei Crane etwas durch die Rauchschwaden durch: ein Kunde erzählt, dass sein Geschäftsvorhaben wegen Geldmangel zu platzen droht. Plötzlich interessiert sich Crane dafür, wahrscheinlich zum ersten Mal in seinem Leben nimmt er Anteil an etwas. Er besucht den überraschten Geschäftsmann in seinem Hotel und verspricht ihm, das mangelnde Geld zu beschaffen, wenn er dafür der Geschäftspartner werden würde. Sie werden sich einig, und Crane schreibt einen Erpresserbrief an den Geliebten seiner Frau. Diese Tat - die erste selbstbestimmte seines Lebens - setzt das Geschehen in Gang, in dessen Verlauf Crane unwillentlich zum Totschläger wird, seine Frau als mutmaßliche Mörderin ins Gefängnis kommt und sich dort umbringt und schließlich Crane für einen weiteren Mord, den er nicht begangen hat, zum Tod durch den elektrischen Stuhl verurteilt wird. Dieser Tod reißt nicht wirklich eine Lücke, weil da, wo Crane sein sollte, schon zuvor eine Leerstelle war. "The Man who wasn't there" ist der Mann ohne Eigenschaften, der als weiße Wand fungiert und so die Leere der Subjekte um ihn herum deutlich macht, indem er sie handeln und reden lässt und sie so zwingt, sich selbst als Nichtse zu offenbaren. Aufgeblasene, eitle, sich selbst Bedeutung verleihen wollende Nichtse, die mit diesem Mann, der nicht da ist, nichts anzufangen wissen. Er ist der Spiegel, der denen, die hineinschauen wollen zeigt, was sie sind: Un-Tote. Un-Tote haben kein Spiegelbild, und wenn sie Crane fragen, wer er sei, wollen sie eigentlich wissen, wer sie selbst sind, weil sie nicht glauben wollen, was er spiegelt: Nichts. Mit diesem Film scheinen die Coen-Brüder ihre endgültige Abrechnung mit der Postmoderne vollzogen zu haben, die in "The Big Lebowski" noch so leicht, so verspielt und ironisch daherkam. Wenn uns der Film diese leeren Subjekte zeigt, deren äußeren Hüllen uns auf der Leinwand an ihren Handlungen und Gedanken teilhaben lassen, und uns keine Form der Identifikation gelingt, wir hinterher eher weniger über die Figuren wissen als vorher, weil es vielleicht gar nichts zu erfahren gibt: so ist der Film der Spiegel, der uns nichts mehr offenbart als die eigene Leere. "Das Zimmer meines Sohnes" (Nanni Moretti, Italien/Fkr 2001)Kann man in "Dancer in the Dark" noch an dem Abschied von Gott bzw. seiner Fleischwerdung im menschlichen Subjekt teilhaben, so zeigt uns "Das Reich und die Herrlichkeit" die Aussichtslosigkeit jener Subjekte, die das Reich auf Erden schaffen wollen. Sie verlieren sich selbst, weil das Projekt der Gott- wie der Menschwerdung scheitert. In "The Man who wasn't there" sehen wir wie im Spiegel die ins Leere greifenden Handlungen jener, die sich längst verloren haben. Es ist der ernsteste Film eines bisherigen Komödianten, der sein Ich stets in den Mittelpunkt seiner Filme stellte. Dieses Ich ist erwachsen geworden und stellt sich nun einem Thema, das nicht gerade kinospezifisch ist. Der Tod ist den Kinobildern ein vertrauter Begleiter, aber die Trauer stellt den Filmemacher wie die Filmrezipierenden vor eine neue Aufgabe: im Medium der bewegten Bilder den Stillstand zu zeigen und zu ertragen, den der Tod auslöst. Der Tod reißt ein großes Loch in das Netz der Beziehungen, das den einzelnen bisher trug; das Gegenüber, durch das sich das Subjekt mit konstituierte, ist verschwunden. Die Worte, die Bewegungen verlaufen ins Leere; der bisher als Psychotherapeut arbeitende Vater gibt seine Praxis auf. Dann geschieht wieder etwas: die Brieffreundin des Sohnes taucht auf, sie beginnt durch ihr Dasein, die Erstarrung zu lösen. Mit ihr und ihrem neuen Freund fährt die Familie, das Ehepaar mit der Tochter, los, Richtung französische Grenze. Diese Autofahrt, erster Aufbruch nach der Starre, bringt die Familie erneut zueinander und verweist den einzelnen wieder auf das Gegenüber, das noch da ist. Der Leere folgt eine Rückbesinnung auf die Tatsache, dass man sich die Einsamkeit wenigstens mit-teilen kann. Es ist die gleiche Art der Mitteilung, wie sie sich auch im und durch das Kino vollzieht. Die Schatten an der Wand spiegeln dem Schauenden sich selbst; sie sind gleichzeitig nur da, indem diese Form der Mitteilung stattfindet. Der Film wird zum Gegenüber; die Projektion fungiert als Hoffnungsmodell, das in eine Art Absolution mündet. Das Pathos des Melodrams "Dancer in the Dark"; die Ungebrochenheit eines fast antiken Dramas wie "Das Reich und die Herrlichkeit"; die absolute Leere von "The Man who wasn't there"; der Ernst des Todes in "Das Zimmer meines Sohnes" - und mit der Wiedergewinnung des Lebens eine neue Authentizität: alle diese Geschichten zeigen, wie mit der Nach-Moderne auch eine Form von Religion als Absolutes und Absolution im Kino wieder Gestalt gewinnt, die mit der Postmoderne verloren schien. Anmerkungen
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