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Magazin für Theologie und Ästhetik


Im Untergrund der Londoner Tate Gallery

Karin Wendt

"Log on to the Tate website and behind the first window opened up in your browser you'll find another, its double. You're not on the receiving end of an information service about the galleries, but in the middle of a work of art."[1]

Ganz so direkt, wie hier angekündigt, hat sich die Tate Britain dann aber doch nicht unterwandern lassen. Nachdem einige Zeit nicht einmal klar war, ob das Projekt überhaupt ans Netz gehen würde[2], gelangt man heute nicht mehr zufällig, sondern nur sehr gezielt und auf konventionellem Weg dorthin, nämlich über den Link "Connections" -> "Arts Projects Online". Auf den Mirror-Seiten der offiziellen Webseiten zeigt uns der Netzkünstler Graham Harwood, Mitglied der Gruppe Mongrel (engl. "Bastard", "Mischling"), dann jedoch ein ganz anderes Bild der Tate, ein Bild von "Uncomfortable Proximity"

Harvood ist mit seiner Kamera in die Museumsdepots heruntergestiegen. Nicht mit dem distanzierten Blick eines Kurators, sondern eher wie ein pietätloser Schnüffler näherte er sich den Gemälden in extremen Zooms - und zwar gezielt den Meisterwerken der englischen Kunstgeschichte: Bildern von Gainsborough, Turner, Hogarth, Rossetti, Reynolds. Die Bildausschnitte hat er digital bearbeitet und montiert mit Fotos seines eigenen Körpers, der Haut und den Gesichtern seiner Freunde und Bekannten, und mit Fotos vom Schlamm, Schutt und den Pfützen am Ufer der Themse. In der Nahsicht geraten die Oberflächen der Gemälde und die Oberflächen der Haut in ein irritierendes, teils abstoßendes Morphing von Formen und Gesichtern, von Farbe und Fleisch. Der Blick switcht hin und her zwischen den Falten in einem Gesicht und den Rissen im Firnis, zwischen schuppender Haut und abplatzenden Farbpigmenten. Angestrengt versucht man, trennscharf zu unterscheiden zwischen eiternden Wunden und dem zarten Inkarnat eines Gainsborough-Portraits. Die eigene zwanghafte Suche nach der 'eigentlichen' Realität des Bildes erscheint unerträglich. Man will dem Gezeigten immer näher kommen, um das Material endlich in den Griff zu bekommen.

Harvood zeigt uns infizierte Gemälde, er hat sie "durch den Schlamm der Themse gezogen" (G. Harvood) und ihnen kranke Hautpartien eingepflanzt. Er wollte so eine persönliche Antwort auf die kulturellen Haltungen der Sammlung finden. In Geschichtsbüchern, Katalogen und Archiven hatte er die 'andere' Geschichte der Tate Gallery entdeckt. Die Gemälde, die Harvood seit seiner Jugend kannte, waren danach nicht mehr dieselben.

"From adolescence I had visited the Tate, read the Art books and generally pulled a forelock in the direction of the cult of genius, on cue relegating my own creativity to the Victorian image of the rabid dog. We know well enough that this was how it was supposed to be. The historical literature on 'rational recreations' states that, in reforming opinion, museums were envisaged as a means of exposing the working classes to the improving mental influence of middle class culture. I was being innoculated for the cultural health of the nation. I have tried in this collection to play with the broken links within the Tate's collection, grafting on the skins of people who are close to me, dragging parts of the collection through the mud of the Thames, and infecting some of it with a relevant disease. This is a personal response to the cultural attitudes that I found within the aura of the collection."

Harvood deckt unzählige "missing links" der Kunst-Geschichte auf, tolerierte oder verdeckte Zusammenhänge zwischen den Kunstsammlungen der englischen Klassengesellschaft und der Machtpolitik des Britisch Empire. Außer durch Bildcollagen kommentiert Harvood in Texten den historischen Kontext der Sammlung und des Museums. Wir erfahren etwa, dass England noch Ende des 18. Jahrhunderts Handel mit Sklavenarbeitern trieb, und dass es dem Künstler daher nicht zufällig scheint, wenn man mit dem englischen Wort "Patron" den "Kunstgönner" und den "Sklavenhalter" bezeichnete. Wenn wir Harvoods Turner "Mud/Slime from the Thames and Scabs 1840-2000" sehen, ahnen wir etwas von dem Grauen, das sich an den Ufern der Themse abgespielt hat, wenn Tote oder typhuskranke Sklaven über Bord geworfen wurden. Wir bekommen eine Vorstellung vom Gesicht und vom Geruch der Armensiedlungen am Millbank-Ufer, bevor dort ein Gefängnis errichtet wurde und später die Tate Gallery. Ein Sensorium für die bedrohliche Allianz von Gewalt und Technik, die Turners entfesselter Umgang mit Farbe und Form im Gegensatz zur gezähmten Landschaftsmalerei der englischen Schule visualisierte, müssen wir uns erst wieder erarbeiten. Wir sind heute viel mehr darin geschult, Turners 'malerischen' Umgang mit Form und Farbe zu erkennen, sein Abstraktionsvermögen im Blick auf die kommende Moderne. So werden Kunstwerke - dies erläutert Matthew Fuller - für uns in gewisser Weise mit der Zeit unsichtbar. Sie arbeiten sozusagen ihrer Ästhetisierung zu, meistens gegen ihre Ästhetik. In dem Maße, wie wir unseren ästhetischen Geschmack ausbilden, überführen wir die Realität hinter den Bildern in die Realität des Bildes:

"It is this, how painting corresponds or becomes invisible to the learned eye, how art history consists of a succession of conflicts between techniques of perception, that Harvood deals with in the series of images which place sections of paintings next to close-ups of photographes of the Thames shore."[3]

Harvoods bildnerische Wiederbelebungen sind brutal, geschmacklos, schockierend. Sie zeigen uns, wie sehr wir die Bilder in einem Museum mit der Zeit optisch versiegeln gegenüber dem widersprüchlichen Kontext, in dem sie entstanden sind. Harvood geht es dabei nicht um eine vordergründige Kritik an der Praxis der Musealisierung in einem Kunstmuseum, die aus einem Ding erst ein Kunstwerk macht. Das moderne Museum ist ja, wie Boris Groys schreibt, genau "der Ort, an dem sich die moderne Subjektivität als solche unmittelbar manifestiert - jenseits der Arbeit, des Werks, der Selbstobjektivierung, der Entfremdung."[4] Wovor Harvood vielmehr indirekt warnt, ist unsere Tendenz zur Musealisierung des Blicks, unser Hang, Kunstwerke verobjektivierend auf einen Kontext, eine Lesart, eine Wahrnehmungsmöglichkeit festzuschreiben. Auch das moderne Museum kann nie ein Ort der völligen Selbstaufklärung sein, aber es kann versuchen, nicht zuletzt in der Selbstdarstellung im Internet, sich immer wieder mit den Prozessen der "kulturellen Kosmetik" (Graham Harvood) auseinander zu setzen.

Anmerkungen
  1. Matthew Fuller: Breach The Pieces, in: www.tate.org.uk/webart/mat2.htm. Fullers Einführung und seine Aufsätze zu weiteren Netzarbeiten bei Tate ebd. www.tate.org.uk/webart/#fuller.
  2. Armin Medosch berichtete am 29. Mai 2000 in Telepolis: "Laut der Zeitung 'The Guardian' habe Gansallo gesagt, man sei nun dabei, das Projekt einer genaueren Betrachtung zu unterziehen und Änderungsvorschläge 'in enger Zusammenarbeit mit dem Künstler' auszuarbeiten. Der markanteste dieser 'Vorschläge' ist, vor jeder Verwendung des Wortes 'Tate' auf Harwoods Site das Wort 'Mongrel' davorzusetzen, damit es auch jedem Betrachter völlig klar ist, dass es sich um eine 'mongrelisierte' ('mongrel', engl.: Mischling, Bastard) Fassung der Tate-Site handelt. Davon ist der Künstler, der sich zur Zeit in Australien aufhält, naturgemäß wenig begeistert. Eigentlich hätte die Mongrel-Tate-Site circa gleichzeitig mit der Eröffnung der Tate-Modern-Galerie ans Netz gehen sollen. Weniger als Hack sondern eher als eine Art Schatten- oder Chamäleons-Site hätte sich die Mongrel-Variante jedesmal dann in einem eigenem Fenster öffnen sollen, wenn ein User die offizielle Tate-Site aufruft. Viele User hätten dieses zweite Browser-Fenster wahrscheinlich gar nie bemerkt, da es sich im Hintergrund geöffnet hätte, manche aber schon. Gansallo, der bislang laut Harwood ausgesprochen unterstützend gewesen war und ihm Archivmaterialien zur Verfügung gestellt hatte, scheint von seinen Vorgesetzten bei Tate in die Schranken gewiesen worden zu sein und ob die Mongrel-Tate-Site jemals ans Netz gehen wird, ist derzeit sehr ungewiss." (Armin Medosch: Die Schattenseiten der Kunst
  3. Matthew Fuller: Breach The Pieces, a.a.O.
  4. Boris Groys: Das Museum im Zeitalter der Medien, in: Logik der Sammlung. Am Ende des musealen Zeitalters, [Edition Akzente, hg. von Michael Krüger], München/Wien 1997, S. 10]

© Karin Wendt 2002
Magazin für Theologie und Ästhetik 15/2002
https://www.theomag.de/15/kw10.htm