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Magazin für Theologie und Ästhetik


Im Labyrinth VII

Erscheinungen im Cyberspace

Karin Wendt

Progetto Mosè [www.progettomose.it]

Die Restaurierung eines Kunstwerks beinhaltet im besten Fall immer auch die Rekonstruktion seiner Genese und die Wiederbelebung seines geschichtlichen Ortes. Beides erarbeitet man seit dem vergangenen Jahr in besonders zeitgemäßer Weise an einem der Hauptwerke der italienischen Kunstgeschichte: Auf drei Webcameras kann online mitverfolgen, wie Michelangelos Moses-Skulptur, Teil des päpstlichen Julius-Grabmals in der Kirche San Pietro in Vincoli, restauriert wird.

Kurz nachdem Papst Julius II im März 1505 Michelangelo den Auftrag erteilte, ein Grabmal für ihn zu entwerfen, wurde das Projekt aufgeschoben, um an seiner Stelle zunächst ein anderes gewaltiges Projekt in Angriff zu nehmen: die Ausmalung der Decke der Sixtinischen Kapelle. Das Grabmal wurde in seiner ursprünglichen Fassung nie vollendet. Im Scheitern dieses Großprojekts sah Michelangelo selbst die große Tragödie seines Lebens.

Der erste Entwurf für das Grabmal entsprach einer ganz ähnlichen Absicht wie die Sixtina. Michelangelo plante ein freistehendes Monument mit Nischen und allegorischen Figuren im Sockelgeschoss und einen pyramidialen Aufbau als Abschluss, der den Sarkophag tragen sollte. Die Staffelung konnte man verstehen als Andeutung einer "Apotheose" des Papstes. 1513 starb Julius II. Die Erben wollten nun ein geschlosseneres Monument, zwar blieb die Ordnung erhalten, die Fassade wurde jedoch mit einem Bogen gekrönt. Im Vergleich der Fassungen fällt heute auf, wie das letztlich realisierte Wandmonument deutlich hinter das Niveau der ursprünglichen Planung zurückfällt, "un'opera resecata" - eine 'vertrocknete' Arbeit - , wie Michelangelo bitter bemerkte. So wurde in den sechs verschiedenen Versionen, die der Künstler in den darauf folgenden Jahren von 1505 bis 1545 ausarbeitete, auch das Skulpturenprogramm immer weiter reduziert. Besonders eindrücklich ist der Epilog: Nachdem schließlich vertraglich alles geregelt war, griff Michelangelo noch einmal ein und entfernte selbst zwei Figuren: die sogenannten "Gefangenen" ("I Prigioni"), die den Moses flankieren sollten. An ihre Stelle setzte er Allegorien der "vita attiva" und der "vita contemplativa", zwei sehr konventionell gearbeitete Skulpturen. Der Grund für seine Entscheidung, die für die Auftraggeber einen letzten Affront bedeutete, war sicher auch die päpstliche Zensur, der in der Zwischenzeit seine Malerei in der Sixtina zum Opfer gefallen war. Während die "Gefangenen" einen sehr konkreten Bezug zum Aufstellungsort des Grabmals herstellen - die Kirche San Pietro in Vincoli war im fünften Jahrhundert errichtet worden, um dort die Ketten aufzubewahren, mit denen Paulus in Jerusalem gefangen gehalten wurde - formulieren die neuen Skulpturen auch programmatisch einen eher allgemeinen Reflex auf die zwei Pole des religiösen Lebens und des päpstlichen Amtes. Von dem antiken Triumphgedanken, von der körperlichen Präsenz, die auch die Figuren in der Sixtina charakterisiert, kündet zuletzt nur noch die kraftvolle Gestalt des Moses, dessen berühmte Schulterpartie allein die Nische und die gesamten Dimensionen der Grabmalsarchitektur zu sprengen scheint.

Stationen und Hintergründe dieser spannenden Geschichte kann man auf den Internetseiten umfassend studieren. Fachleute haben unter Percorsi ein regelrechtes Michelangelo-Archiv zur thematischen Vertiefung zusammengestellt: Briefe und Verträge zwischen dem Künstler und seinen hochrangigen Auftraggebern, Kunstkritiken von Zeitgenossen und späteren Generationen, Aufsätze zur Ikonographie des Moses, zur Rezeptionsgeschichte von Michelangelos Kunst durch Philosophie und Theologie und eine Bibliographie mit weiterführender Literatur. Die beiden "Gefangenen", deren Dramatik den Einfluss der antiken Laokoon-Gruppe verrät, sollte man sich per webcam im Louvre anschauen, dort betitelt als "Sklaven" und noch bis zum März diesen Jahres online zu sehen.

Unter "Mostra" kann man sich der Moses-Statue im Detail widmen und auch Grundlegendes zur restauratorischen Praxis lernen. Die Reproduktion von Kunstwerken geschah lange Zeit auf Kosten des Originals. Noch im 18. Jahrhundert wurden Gipsnachbildungen gefertigt, die sogenannten "Calchi", für die das Original mit verschiedenen Ölen vorbereitet werden musste, Substanzen, die in den Marmor eindringen, Flecken hinterlassen und langfristig tieferliegende Schäden anrichten. Ein Ziel der gegenwärtigen Restaurierung unter anderen ist es daher, den ursprünglichen Oberflächenglanz und die transparente Lucidität des Materials wieder hervorzuholen.

Wirklich spektakulär ist die Möglichkeit, bei diesen Arbeiten online dabei zu sein. Man kann sich der Statue "mit dem Blick eines Restaurators zu nähern, der auch in die Nischen und Schattenzonen gelangt, die dem bloßen Auge meist verborgen bleiben." Der größte Sponsor, die Lottogesellschaft in Italien, wollte nicht die Restaurierung selbst finanzieren, wohl aber in einer modernen Sprache und mit technologisch avancierten Mitteln das machen, was Michelangelo in seiner Zeit gemacht hat: "mettere in communicazione il grande pubblico con l'esperienza artistica": eine große Öffentlichkeit mit der künstlerischen Erfahrung bekannt machen.

Man kann zwischen drei webcams, die die Skulptur jeweils aus einem anderen Winkel in den Blick nehmen, wählen. Mit der Kamera 1 steht man links vom Moses nahe am Grabmal, mit der Kamera man rechts davon so entfernt, dass man ihn im Gesamtzusammenhang des Grabmals erkennt, und mit der Kamera 3 befindet man sich auf Höhe der Skulptur Giulios II.

Hat man sich für eine der Kameras entschieden, muss man als Regisseur agieren und Schärfe, Winkel, horizontalen und vertikalen Ausschnitt, Helligkeit, Zoom und Übertragungsgeschwindigkeit justieren. Mit einem Klick auf >scatto fotografie hält man eigene Momentaufnahmen fotografisch fest, die dann im Netz für die Dauer der Restaurierung archiviert werden und auch außerhalb der Arbeitszeiten (Mo-Fr 9 -17.00 Uhr) abrufbar sind. Loggen sich mehrere Besucher zugleich ein, hat jeder mindestens 1 Minute Zeit zu filmen. Unter restauro/help werden alle variablen Einstellungen erläutert. Darüber hinaus kann man sich die Geräte der Restauratoren anschauen, einen virtuellen Rundgang durch die Kirche machen und vieles mehr. Das Forum, in dem online diskutiert werden sollte, ist jedoch offenbar nicht realisiert worden oder aber bereits geschlossen? Im Netz findet man jedenfalls lediglich eine Beschreibung.

Für Besucher der Kirche vor Ort, die den Gang der Restaurierungsarbeiten verfolgen wollen, gibt es eine aufwendige, begehbare Brückenkonstruktion mit drei Ebenen. Hier haben sie den Blick auf signifikante Bereiche des Grabmals. Michelangelos ursprünglicher Entwurf ist außerdem als Computersimulation einmal komplett realisiert worden. Insgesamt wird das bedeutende Werk der italienischen Renaissance nicht nur Gegenstand einer restauratorischen Behandlung, sondern einer umfassenden "Riscrittura" der Beziehungen zwischen dem Werk, seinem Kontext und unserer Gegenwart.


© Karin Wendt 2002
Magazin für Theologie und Ästhetik 15/2002
https://www.theomag.de/15/kw11.htm