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Magazin für Theologie und Ästhetik


Videoclips XI

Popreligiöse Raummetamorphosen

Andreas Mertin

Ein nicht uninteressanter Aspekt der Thematisierung von Religion in den Videoclips der populären Musik ist ihr ab und an anzutreffender Bezug auf verschiedene Kirchenrauminszenierungen. Mag man bei manchen Clips noch an einen Zufall glauben, kann man beim wiederholten Bezug auf Kirchenraumgestaltungen schon von einer bewussten Botschaft sprechen. Alles in allem ist die kulturelle Nutzung, die die Regisseure der Videoclips der populären Musik der letzten 25 Jahre von den Kirchen und ihren Räumen machen, jedoch nicht besonders aufregend. Kühne Bilder, ungewöhnliche Darstellungen, unkonventionelle Inszenierungen kommen nur selten vor und wenn, lassen sie sich im Wesentlichen auf die großen Stars und Gruppen begrenzen. Es gibt einige spektakuläre Ausnahmen, wie etwa bei Guns and Roses "November Rain", bei der die Kirche und ihre Räume für zentrale Lebensabschnitte eine Rolle spielen, oder auch bei Madonna, die ein komplexes Verwirrspiel um Denominationen in Amerika betreibt. Inszenierungen wie im Kinofilm (man vergleiche etwa das Spiel Al Pacinos mit dem Weihwasser in "Im Auftrag des Teufels") kommen in den Videoclips jedoch nicht vor. Es bleibt bei Anspielungen, Silhouetten und dem Spiel mit Stereotypen. Im Folgenden möchte ich einige der Kirchen-Raumbezüge aus verschiedenen Clips aufgreifen.


Die Ärzte: Schrei nach Liebe

Im Clip "Schrei nach Liebe" der Ärzte geht es um Neonazis. Einige Glatzköpfe verfolgen zwei Kinder, die sich angsterfüllt in eine Kirchenruine flüchten, wo scheinbar gerade eine Beerdigung stattfindet. Die Neonazis betreten die Kirche und plötzlich ändert sich die Szene: Die Ärzte steigen aus den Särgen und heizen den Glatzköpfen ein. Die Kirche - die an verfallene Kirchenruinen der DDR-Zeit erinnert - dient als Staffage für die Clipinszenierung. Eine besondere Bedeutung außer als Inszenierungs- und Anspielungsraum [auferstanden aus Ruinen] und als Fluchtraum für die Kinder kommt ihr nicht zu.


Bone Thugs-N-Harmony: Tha crossroads

Der Clip "Tha crossroads" der Gruppe "Bone Thugs-N-Harmony" betrauert den Tod eines Freundes und stellt die Warum-Frage. Der Clip setzt ein mit der Beerdigung des Freundes und dem spektakulären Auftreten des Todes (ein Schwarzer im schwarzem Ledermantel), der die Seele des Verstorbenen holt. Die Kircheninszenierung ist ein konventionell, ohne besondere Veränderungen oder Akzentuierungen. Die Gruppe selbst tritt vor dem Hintergrund der Chorfenster mehrfach mit dem Refrain des Liedes auf.


Elton John: Believe

Im Videoclip zu Elton Johns Stück "Believe" geht es drunter und drüber was die Bilder und die Bild-Inszenierungen betrifft. Man sieht viele Bild-Ikonen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus Filmen und Zeitschriften, aber sie werden surrealistisch verfremdet und gebrochen. Die hier abgebildete Kirche erweist sich auf den ersten Blick als große Stadtkirche, faktisch müsste sie aber unvorstellbar monumental sein, denn der Gang durchs Mittelschiff ist eine vier- bis fünfspurige Autostraße. Nichts ist "normal" in diesem nur scheinbar vertrauten Kirchenraum-Panorama, denn so wie die Welt ist auch die Kirche aus den Fugen geraten.


Space Frog: X-Ray (Follow me)

Der etwas rätselhafte Clip zu Space Frogs "X-Ray (Follow me)" beginnt mit einer Kirchendarstellung, die eher konventionell ist: Man sieht einen Geistlichen, der mit der Bibel in der Hand an der Kirchentür steht und seine "Schäfchen" verabschiedet. Alternativ dazu tanzt der Hauptdarsteller und fordert die Umstehenden auf: Follow me. Diese Predigt wird abgeschlossen mit einer sich öffnenden Kirchentür, durch die helles weißes Licht dringt, in welches die Jünger eintreten. Das Kircheninnere bleibt in beiden Fällen positiv wie negativ im Imaginativen.


Guns and Roses: November Rain

Die Differenz von religiösen Rauminszenierungen und ihren Bedeutungen wird wohl selten so deutlich wie in diesem Klassiker des Genres Videoclip. Der Clip zu Guns and Roses "November Rain" schwelgt in pathetischen und zugleich gut beobachteten Bildern, die sich zu einem guten Teil um zwei ganz unterschiedliche Kirchenräume bewegen. Während die Gefühlswelt an der schlichten einsamen Südstaaten-Kapelle hängt, benötigt die Kontingenzbewältigungskultur bzw. die kirchliche Kultivierung der Rites de passage die Größe einer Großstadtkirche. Und so werden im Clip die ganz persönlichen Gefühlsregungen der Protagonisten mit der einfachen Holzkapelle verknüpft, in der man versonnen am Klavier spielt bzw. um die herum das dramatisch-bewegte Gitarrensolo inszeniert wird. Für die Rites de passage wie Hochzeit und Tod wäre eine derartige Räumlichkeit aber vermutlich entweder zu intim oder zu ärmlich und beengt, weshalb sie nur in einem kirchlichen Ambiente möglich sind, in dem man die Braut gemessen zum Altar führen bzw. den Sarg würdevoll vom Altar zu Grabe tragen kann. Unverkennbar stellt der Videoclip bei allem gezeigtem Pathos die kirchliche Inszenierung der Rites de passage aber mittels deutlicher ironischer Brechungen als ein Klischee dar, das quasi abgearbeitet bzw. abgeschritten werden muss (so wie ein Jugendlicher den Konfirmandenunterricht erträgt, um an die Geschenke zu kommen). Die Großstadtkirche bietet einen Inszenierungsrahmen, während Wahrheit und Authentizität nur im reduzierten, ja individualisierten Kontext möglich sind.


Madonna: Like a prayer

Madonnas Klassiker "Like a prayer" treibt ein bewusstes Verwirrspiel mit dem Erscheinungsbild von Kirchen. Gleich zu Beginn des Clips stürzt Madonna auf ihrer Flucht vor einer mörderischen Straßengang in einem Vorort einer Stadt auf eine protestantische Südstaatenkirche zu, die Geborgenheit und Zuflucht verspricht. Als sie die Kirche betritt, hat sich diese urplötzlich in eine katholische Nordstaatenkirche verwandelt. Man sieht eine Seitenkapelle mit einem Heiligen, zahlreiche Devotionalien und luzide Anspielungen auf den Heiligen Franz von Assisi. Hier geschieht ein Wunder - eine Heiligenstatue fängt an zu weinen - und Madonna legt sich auf eine Kirchenbank und schläft ein. Während ihres Traums wird die Kirche verwandelt und der Betrachter sieht plötzlich an der selben Stelle eine schwarze Baptistengemeinde fröhlich und emphatisch feiern. Besonders ein kleiner Junge und eine Priesterin ragen aus dem Geschehen heraus. Sie verwandeln den Raum und geben ihm eine besondere Atmosphäre. Madonna nimmt nahezu ekstatisch an dieser Gottesdienstfeier teil. Im Laufe des Clips und während ihres Traums erkennt Madonna, dass sie einem für die Verbrechen der Straßengang unschuldig inhaftierten Schwarzen helfen muss. Und wieder einmal ändert sich das Szenario: aus dem Kirchenraum ist nun eine Polizeistation geworden, aus der Seitenkapelle eine Gefängniszelle. Madonna sorgt für die Befreiung des Gefangenen. Und als ob diese dreifache Raummetamorphose noch nicht ausreichen würde verwandelt sich das Ganze quasi im Epilog noch einmal in eine Theaterinszenierung. Der Vorhang fällt und wird wieder hochgezogen, die beteiligten Schauspieler - ob Täter oder Opfer - verbeugen sich, der Schriftzug The End erscheint. Madonnas Clip ist ein fast schon protestantisches Plädoyer für die Kontextabhängigkeit von Raumwahrnehmungen. Nicht der Raum an sich, sondern sein Gebrauch entscheidet über seine Bedeutung. Aber - und damit schließt sich der Kreis - noch das "Theatrum Mundi" war immer auch und wird zunehmend wieder ein theologischer Topoi.

© Andreas Mertin 2002
Magazin für Theologie und Ästhetik 16/2002
https://www.theomag.de/16/am49.htm