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Magazin für Theologie und Ästhetik


Lektüren III

Aus der Bücherwelt

Andreas Mertin

BuchcoverEin Spaziergang im Hindukusch von ERIC NEWBY ist in England 1958 erschienen und liegt nun als 206. Band der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebnen Anderen Bibliothek in deutscher Übersetzung vor. Der Reiz dieses Buches liegt u.a. - neben einer poetisch geschilderten Katastrophengeschichte - in der zeitlichen Differenz von 45 Jahren, mit der man Schilderungen aus einem Bereich der Erde vernimmt, der zur Zeit in der Medienwelt Tag für Tag (aber nur scheinbar) zum aktuellen Thema geworden ist.

Ein Großteil des Buches ist dem letztlich gescheiterten Versuch der Ersteigung des Berges Mir Samir gewidmet, sowie den Mühen und Leiden der beiden etwas spleenigen Engländer, die ohne größere Vorkenntnisse durch den Hindukusch stolpern. Aber dabei begegnen die beiden Europäer eben auch Paschtunen und Tadschiken, Butterträgern und Mullahs, Waffennarren und Stammesältesten, und sie forschen ganz nebenbei nach den übriggebliebenen Resten von Religion aus der Zeit vor der Islamisierung dieser Region. Es fällt manchmal schwer sich bei den Schilderungen Newbys zu vergegenwärtigen, dass dies alles sich erst Mitte der fünziger Jahre ereignet hat, als große Teile des Hindukusch für Europäer noch nahezu unerforscht waren.

Die Aktualität des Buches blitzt (abgesehen von der Tatsache, dass sich schon damals Russen und Amerikaner in Kabul tumelten und Waffen eine absolute Faszination ausübten) immer wieder in einzelnen Formulierungen wie dieser auf: "Trotz der Hitze war es ein schöner Tag, und weiße Wölkchen trieben wie von Kanonen ausgespuckt am tiefblauen Himmel. Üppige Maulbeerbäume schützten die grauenhafte Straße vor der Nachmittagshitze. Es wuchs viel Wein, und überall floß Wasser, es gluckste und tanzte im Sonnenlicht, und an den Bewässerungsgräben saßen halbnackte Nomadenkinder aus den Zeltlagern, die an der Straße aufgeschlagen waren, und spielten fröhlich mit dem Tod." [131]


BuchcoverDas Massaker der Illusionen, eine von Mario Andrea Rigoni zusammengestellte Auswahl aus den Zibaldone von GIACOMO LEOPARDI (1798-1837) ist im März 2002 als 207. Band der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Anderen Bibliothek in deutscher Übersetzung erschienen. Leopardi gilt mit seiner schwermütigen, radikal pessimistischen Literatur als bedeutendster Dichter Italiens seit Petrarca. Es gehört zu den Besonderheiten, dass die Zibaldone zwar zwischen 1817 und 1832 geschrieben wurden, jedoch erst 1898 bis 1900 erschienen sind. Eine vollständige deutsche Übersetzung gibt es bis heute nicht. In der nun von Rigoni vorgelegten Auswahl, die knapp 280 Seiten umfasst, findet der Leser vor allem die politischen und sozialen Reflexionen Leopardis. Aber diese sind eng mit seinen kulturellen, religiösen und philosophischen Gedanken verflochten. Was macht das Besondere der Reflexionen Leopardis aus? Wie die Romantik generell, so nehmen auch Leopardis Gedanken bereits die Grundthemen der Moderne (bis hin zur Postmoderne) vorweg: die Kritik an der Rationalisierung, der Verlust der Einbildungskraft wie der Individualität zugunsten der Atomisierung der Menschen: "Es ist doch sehr merkwürdig: Während die Nationen nach außen immer mehr zu einer einzigen Person werden und sich schon kein Mensch mehr vom ändern unterscheidet, ist nun im Innern jeder Mensch eine eigene Nation, soll heißen, man hat mit niemandem mehr etwas gemein, schließt sich nicht mehr zusammen, hat kein Vaterland mehr, und der Egoismus beschränkt jeden ausschließlich auf den Kreis der eigenen Interessen, ohne Liebe noch Fürsorge für die anderen, ohne jede innere Verbindung noch Beziehung zu den übrigen Menschen." [13]

Und so fasst Mario Andrea Rigoni im Nachwort zum Buch die Leistung Leopardis zusammen: "Gefeit gegen den Aberglauben des Rationalismus wie gegen die Versuchungen der Theologie, der Wissenschaft oder der Moral, untersucht er mit hippokratischem Blick den monströsen Körper der Gesellschaft und der Geschichte. Seine Sicht ist extrem, zutiefst zerrissen und notwendigerweise ohne Lösung, aber kaum jemals willkürlich, weil er den Abstraktionen der Geschichtswissenschaft und der politischen Utopie eine unaufhörliche 'physiologische' Beobachtung von Menschen und Dingen entgegensetzt." [304f.]

Das Buch weckt den Hunger nach mehr; Rigoni hat sich in seiner Auswahl auf die politischen und sozialen Reflexionen konzentriert. Wie wäre es also mit einem Nachfolgeband mit einem Schwerpunkt auf den kulturellen und ästhetischen Reflexionen?


© Andreas Mertin 2002
Magazin für Theologie und Ästhetik 15/2002
https://www.theomag.de/15/am52.htm