selten war die Diskussion um den Kirchenraum und was mit ihm und in ihm geschehen darf so aktuell wie zur Zeit. Die Kirche in Göttingen droht mit dem Abriss von stadtbildprägenden Türmen der Kirche St. Johannis, wenn deren Renovierung nicht von der öffentlichen Hand mitgetragen wird - recht so, denn Kirchtürme sind schon seit längerem eher im öffentlichen als im kirchlichen Interesse. Und die Matthäuskirche in Frankfurt, zwischen Bahnhof und Messe gelegen, bringt es zu trauriger Berühmtheit in den Massenmedien, wo larmoyantes Gejammer vor allem jener erklingt, die eine Kirche schon seit Jahren nicht mehr von innen gesehen haben. Die Kirche soll abgerissen werden und einem für Frankfurt typischen Wolkenkratzer weichen - zu einem angemessenen Preis natürlich. Das Lamento der Kritiker: hier würde eine/die Kirche dem Kapital geopfert. Dass selbst ortsansässige Pfarrer in diesen Unsinn einstimmen, stimmt bedenklich. In keinem Bericht wird die konkrete Innen-Architektur der Kirche, ihre ästhetische Ausstattung und ihre örtliche wie architektonische Disfunktionalität erwähnt. Eine Ausnahme bildet Dieter Bartetzko in der FAZ vom 19.01.2002, der aber auch nur architektur-dokumentatorische Argumente vorbringen kann, den Bau selbst hält er nicht für sehr gelungen. Aber er bereichert uns mit einen schönen Bild, nämlich dass der Turm der Matthäuskirche zwischen den Hochhausriegen und den Baukränen des Messegeländes aufragt wie der gereckte Arm eines Ertrinkenden. Nach Mt 14, 31 wäre das ein Symbol für die Kleingläubigkeit der Gemeinde. "Da die Handlungen des Kirchendienstes an eine beschränkte Räumlichkeit gebunden sind, welche ebenfalls durch ihre Beschaffenheit einen gleichzeitigen Eindruck machen kann: so ist zu entscheiden, inwiefern ein solcher zulässig ist oder wünschenswert, und demgemäß Regeln darüber aufzustellen" schrieb Friedrich Schleiermacher schon 1830. Und er fügte hinzu: "Da die Umgrenzung des Raumes nur eine äußere Bedingung, mithin Nebensache, nicht ein Teil des Kultus selbst ist: so würden die Regeln nur sein können eine Anwendung der Theorie der Verzierungen auf das Gebiet der religiösen Darstellung". Schleiermacher verweist uns also in Raumfragen nicht an die Theologie, sondern an die dafür zuständigen und kompetenten Nachbardiskurse, seien diese nun zeitgenössisches Design, Architektur, Kunst oder Kunsthandwerk. Es wäre schön, wenn Gemeinden und Kirchenleitungen sich heute ebenso unaufgeregt mit dem religiösen Raum auseinandersetzen würden. Säkularisieren wir also die Debatte um den religiösen Raum, so wie es protestantische Vernunft seit nahezu 500 und jüdische schon seit 2000 Jahren vorschlägt. Oder folgen wir der Kunst, die die faktische kulturelle Ingebrauchname von Kirchenräumen schon seit längerem realistisch gezeichnet hat. So zum Beispiel Giovanni Paolo Pannini, der 1755 die Peterskirche in Rom nicht mehr als Weihestätte über dem Apostelgrab, sondern als "Ort des sich Zeigens, der Begegnung, der Intrige" dargestellt, wie das folgende Detail zeigt: Die Ingebrauchnahme von Kirchenräumen für Modenschauen, Diskussionen und die bürgerliche Öffentlichkeit hat also offensichtlich schon eine längere Tradition. Den erfrischenden bunte Pluralismus, der die konkrete Praxis des Umgangs mit dem Kirchenraum vor Ort auszeichnet, können Sie auch dem aktuellen und ziemlich umfangreichen Heft des Magazins für Theologie und Ästhetik ablesen, das in Zusammenarbeit mit Matthias Ludwig, Assistent am Marburger Institut für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart, entstanden ist. Sie finden dort ... ARTIKEL: Dem einleitendem Aufsatz von Matthias Ludwig können Sie den Stand der Diskussion und die Beschreibung und Kommentierung einiger herausragender Beispiele entnehmen. Erstmalig haben wir (mit Hilfe der Bildungsplattform Reliweb) eine Internettour bereitgestellt, die Sie zu verschiedenen Internetseiten von Kirchen und Initiativen führt, die die kulturelle Nutzung von Kirchenräumen vorantreiben. Ulrich Hentschel skizziert den Ansatz der Kulturkirche Hamburg-Altona, dem vielleicht konsequentesten Modell der Selbstsäkularisierung des evangelischen Kirchenraums. Von Klaus Röhring publizieren wir zwei Texte zum John-Cage-Projekt in Halberstadt, das gerade begonnen hat, dessen erster Ton 2003 erklingt und das noch mindestens 637 Jahre die Kultur bereichern wird. Inge Kirsner stellt verschiedene Modelle der Begegnung von Kino und Kirche vor mit einem speziellen Augenmerk auf die KinoKirche. Thomas Erne geht der Bedeutung des Raums für eine ganzheitliche Gottesdienstpraxis nach. Andreas Mertin erörtert, was nach dem Scheitern der kirchlichen Bauprogramme nun für die Konstruktion des religiösen Raumes in Anschlag zu bringen ist. REVIEWS: Karin Wendt stellt einige der höchst spannenden Internetexperimente des Künstlers Kleine-Vehn vor. MARGINALIEN: In einer Glosse setzt sich Andreas Mertin mit den Begründungsmustern einer kirchlichen "Orientierungshilfe zur Nutzung von Kirchen für nichtkirchliche Veranstaltungen" auseinander. SPOTLIGHT: Hier finden Sie die gewohnte Zusammenstellung von Besprechungen zu Videoclips (diesmal themenbezogen zum Vorkommen von Kirchenräumen in Musikvideos), Netzauftritten (ebenfalls themenbezogen zum Kirchenbau und zur Kirchenpädagogik) und Büchern. Hinweisen möchten wir Sie noch auf die neuerschienene Arbeit der Mitherausgeberin Karin Wendt über Günter Fruhtrunk. Wir wünschen den Leserinnen und Lesern eine erkenntnisreiche Lektüre dieses Heftes! |