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Magazin für Theologie und Ästhetik


ASLSP - oder die Gegenwart der Zeiten

Klaus Röhring

639 Jahre werden heute beginnen, von Mitternacht an, wenn die Blasebälge die Luft bereitstellen für den ersten im Februar 2003 erklingenden Akkord von John Cage's ASLSP (As slow as possible), einem E-Dur-Akkord, dem der Grundton E erst ein Jahr später folgen wird zu seiner eindeutigen harmonischen Bestimmung. "639 Jahre bis zum letzten Ton". Eine lange, uns nicht ausdenkbare Zeit in eine dunkle Zukunft hinein, in eine Zeit, die nicht ist, die ja erst kommt, auf uns zukommt, auf diese "25 Menschengenerationen", wie Geo sie errechnet hat, um sich den Ururur...enkel vorzustellen, der den Schlussapplaus wird hören können, vielleicht selber spendet, wenn nicht Unvorhersehbares, Menschliches, Irdisches und Außerirdisches dieser Zeit vorzeitig ein Ende setzt. Eine Zeit, die wir und die Generationen nur erwarten, auf die wir uns nur vorbereiten können.

Blicken wir jedoch zurück, wie wir es taten, als wir die 639 Jahre bestimmten, wird Erinnerung wach. Dokumente finden sich. Die einer Blockwerkorgel, von Pater Nikolaus, dem Tischler 1361 gebaut. Deren Klaviatur bestimmt die unsrige bis heute. Dokumente von der Baugeschichte dieser Kirche können wir studieren oder die des Domes, der Stadtmauer, die der Stadtgeschichte überhaupt. Geo hat wichtige Daten der Stadtchronik genannt. Meist katastrophale und (warum nur?) wenige lebensverheißende. Eine dokumentierte, erforschte und somit denkbare Zeit. "Nur" 639 Jahre lang, überschaubar also, begreifbar im wörtlichen Sinn. Vergangene Zeit, die nicht mehr ist, die wir freilich erinnern und damit auch vergegenwärtigen können.

Und nun der heutige Tag, der heutige Abend, die bald mitternächtliche Stunde, wenn das Werk von John Cage an seinem 89. Geburtstage beginnt - mit der inzwischen schon weltweit berühmten Pause. Zeit, die Orgel hier ins Geviert zu bauen, eine Blockwerkorgel, welche sich mit ihren Pfeifen dann im ganzen Raum verströmen wird. Unsere Zeit, unsere Gegenwart, in der wir diesen Anfang mit-erleben können. Eine Zeit, die nicht ist, die sich "nur" um uns und an uns ereignet, die wir gestalten und mitgestalten, in Augenschein nehmen können und die mit diesen Stunden hier vorübergeht, ins Vergangene sinkt, ins Erinnern und somit zur Geschichte wird.

Zukunft - Vergangenheit - Gegenwart: drei Zeiten also, die uns heute Abend zu Bewusstsein kommen.

Die Orgel, wie sie gebaut werden soll, wird die drei Zeiten symbolisieren und realisieren, ihre Zusammengehörigkeit und ihre Einheit. Die Blockwerkorgel, hier in der Mitte, deren Umfang und Größe, deren Raumvolumen wir durch dieses Gestell hier erahnen können. Sie erinnert die Orgel von Pater Nikolaus, dem Tischler. Sie wird mit heutiger Technik und gegenwärtiger Ästhetik gebaut. Sie wird sich in künftigen Jahren mit ihren Pfeifen und den damit zufälligen Klangmöglichkeiten in diesem Kirchenraum ausbreiten und akustisch verströmen. Man wird in ihr wandeln, sie von innen hören können. Vergangenheit - Gegenwart - Zukunft: drei Zeiten an diesem einem Instrument.

Die drei Zeiten bestimmen auch das nun um Mitternacht beginnende Werk, dessen Name und Idee zu diesem Kunst-Projekt uns bewegte: ASLSP - As slow as possible. Es wird gleich beginnen, mit seinem Luftstrom uns gegenwärtig sein und uns gleichzeitig in erwartende Haltung versetzen. Wir werden die Stille, die mit Klang geladen ist, hören. Es macht uns kontemporär.

Und wird doch bald schon vergehen und in seinem Anfang für uns vergangen sein. Einen Tag, eine Woche, ein Jahr alt, zwei Jahre, wenn der erste Akkord ertönt sein wird. Wir werden die Pause, die Stille, diese eigenartige Situation des heutigen Beginnens, das eigentlich im landläufigen Sinn kein solches ist, erinnern. Und wir und andere werden dann auf die Töne hören und lauschen, das Innen und Außen in unserem Ohr mischen und die nächsten Töne erwarten, hoffend, dass wir sie erleben - sofern uns nach menschlichem Maß ein solches Erleben geschenkt wird. Drei Zeiten also: Vergangenheit - Gegenwart - Zukunft, verschieden und doch immer zugleich.

Und dieses Werk hörend, seine Geräusche, Töne, Klänge, seine Musik - werden wir verschiedene Zeiterfahrungen machen. Man wird erleben, wie die Zeit vergeht, die eigene Lebenszeit, wenn man sich der Länge dieses Werkes bewusst wird und die künftigen Jahre bedenkt. Man wird die Zeit erleben, als ob sie steht und sich nicht von der Stelle wegbewegt, als sei sie festgefroren. Das "as slow" kann unendlich lang, unerträglich lang aber auch beruhigend lang erscheinen, je nach dem. Es kann klingen "wie ein Räuspern am Morgen", wie Cage es dem uraufführenden Organisten Gerd Zacher als mögliche Assoziation für dessen Interpretation überließ. Es kann aber auch die unendliche Dehnung eines abendlichen Glückgefühls sein, das in eine große Stille übergeht wie in ein Nichts oder zur erfüllten Zeit wird, zum Glück, das man bekanntlich nicht hat, sondern in dem man ist, das verweilen, nie vergehen soll, wenn Zeit zur Ewigkeit und Musik die Kunst der Zeit der Ewigkeit geworden ist.

"Die Zeit im Grund, Quin-quin, die Zeit,
die ändert doch nichts an den Sachen.
Die Zeit, die ist ein sonderbares Ding.
Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts.
Aber dann auf einmal,
da spürt man nichts als sie:
sie ist um uns herum, sie ist auch in uns drinnen.
In den Gesichtern rieselt sie, im Spiegel da rieselt sie,
in meinen Schläfen fließt sie.
Und zwischen mir und dir da fließt sie wieder.
Lautlos, wie eine Sanduhr.
O Quin-quin!
Manchmal hör ich sie fließen unaufhaltsam.
Manchmal steh ich auf, mitten in der Nacht,
und lass die Uhren alle stehen."

So wird es sein mit diesem Werk, mit dieser Orgel und den drei Zeiten in Burchardi hier in Halberstadt, wie's Hugo von Hofmannsthal im Rosenkavalier ein wenig melancholisch es dichtet. Es ist, als ob wir mit dem heutigen Beginn der 639 Jahre alle Uhren anhalten und die Zeit still stehen lassen wollten und doch ihr eiliges Vergehen damit überdeutlich machen, unsere Vergänglichkeit. Die Uhrzeit ("Temps mesuré") und die Erlebniszeit ("temps vécu") treten in eine sich ergänzende, unser Leben bestimmende Spannung. Und vielleicht verhilft sie uns und den nachfolgenden Generationen zur Erfahrung der Tiefe der Zeit ("profondeur du temps"), wie ein anderer Komponist, Klaus Huber, die Erfahrung der Zeit durch die Musik beschrieb.

Vergangenheit - Gegenwart - Zukunft: Die Verschiedenheit und die Einheit der Zeiten. Uhrzeit - Erlebniszeit - Tiefe der Zeit: Die Verschiedenheit und Einheit der Zeiterfahrung an und mit der Musik. Dies ist der eigentliche Grund für dieses Kunst-Projekt in dieser Kirche, das wir um Mitternacht beginnen. Dies ist der eigentliche Grund für all die Anstrengungen, für das vielfältige Engagement von inzwischen vielen Menschen. Dies ist der eigentliche Grund, das Kunst-Projekt auch ein soziales nennen zu können. Dies ist der eigentliche Grund, warum es sich nicht mit den Prozenten der Arbeitslosigkeit in dieser Stadt in Frage stellen lässt oder mit der subjektiven Sympathie oder Apathie der Bevölkerung gerechtfertigt oder abgelehnt werden könnte. Darum habe ich es im letzten Jahr mit einem "musikalischen Erdkilometer" verglichen, mit dem Pflanzen eines Apfelbäumchens in gleichsam "zeit-apokalyptischen" Zeiten.

"Läuft der Zeit die Zeit davon?", fragen wir: In immer kürzerer Zeit immer schneller und immer mehr? Menschliches Leben, natürliches Wachstum in Licht-Geschwindigkeit? Kronos verschlingt seine Kinder. Die gefräßige Zeit. Sie verbraucht und zerstört, was er braucht, um leben zu können. Darum jetzt durch unser Projekt die drei anderen Zeiten dagegengesetzt, ihre Verschiedenheit und ihre Einheit zu Bewusstsein gebracht! Es ist, so scheint, es an der Zeit.

Denn damit nähern wir uns einem unauflöslichen Rätsel, dem Rätsel der Zeit. Es will ständig neu gelöst werden und kann es doch nicht. Ein Rätsel, das unser Leben begleitet, das unser Leben selber ist. Vor einem Jahr habe ich mit Augustin, dem Kirchenvater, Theologen und Philosophen diese Frage gestellt: "Was ist Zeit?" und mit ihm - aus seinen Bekenntnissen - eine erste Antwort gegeben: "Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiß ich es nicht." Heute, zu Beginn der 639 Jahre, will ich Augustins weitere Deutung erinnern für unsere Gegenwart und auch für die nachfolgenden Generationen:

"Nicht eigentlich lässt sich sagen: Zeiten 'sind' drei: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; vielmehr sollte man, genau genommen etwa sagen: Zeiten 'sind' drei. eine Gegenwart von Vergangenem, einen Gegenwart von Gegenwärtigem, eine Gegenwart von Künftigen. Denn es sind diese Zeiten als eine Art Dreiheit in der Seele, und anderswo sehe ich sie nicht: und zwar ist da Gegenwart von Vergangenem, nämlich Erinnerung (memoria); Gegenwart von Gegenwärtigem, nämlich Augenschein (Betrachten/ Ansicht) (contuitus); Gegenwart von Künftigem, nämlich Erwartung (expectatio)... (20,26)

Klingt es nicht wie eine Deutung unseres Kunst-Projektes und dient es nicht zur einer Beruhigung für die nervösen Kritiker, wenn Augustin fortfährt:

Gewiss, Künftiges 'ist' noch nicht, aber dennoch ist im Geiste Erwartung von Künftigem. Gewiss, Vergangenes 'ist' nicht mehr, aber dennoch ist im Geiste noch Erinnerung an Vergangenes. Gewiss, Gegenwart ist ohne Ausdehnung, weil sie im Augenblick ist und nicht mehr ist, aber dennoch dauert die Wahrnehmung, über die hin es in einem fort geschieht, dass, was erst dasein wird, auch schon dagewesen ist. - Also lang ist nicht künftige Zeit, die 'nicht' ist, sondern eine lange künftige Zeit ist nur eine lang sich dehnende Erwartung von Künftigem..." (28,37)

Was also anderes ist dieses Kunst-Projekt, was anders sind diese heute beginnenden 639 Jahre als ein einziges Lied, das wir mit John Cage's ASLSP/ Organ2 singen und spielen möchten? In Augustins Worten:

"Ich will ein Lied singen, eines, das ich kenne. Eh ich beginne, erstreckt sich meine Erwartung über das Ganze; habe ich begonnen, so erstreckt sich so viel, als ich von meiner Erwartung schon zum Vergangenen hinübergepflückt habe, nun in die Erinnerung, und erstreckt ist das Leben meines Tuns; es ist Erinnerung, soweit ich schon gesungen habe, es ist Erwartung, soweit ich erst noch singen will: was dennoch in Gegenwärtigkeit dableibt, ist mein Bedacht im Vollzug, durch den, was erst noch künftig war, hinüberfährt, so dass es nun zu Vergangenem wird. In dem Masse, als das fortschreitend geschieht, längt sich die Erinnerung und kürzt sich die Erwartung, bis endlich alles, was Erwartung gewesen, sich erschöpft, wenn mein ganzes Tun vollendet und in Erinnerung übergegangen ist. Und so wie mit dem Liedganzen, geht es mit jedem seiner Teilchen, mit jeder seiner Silben; geht es auch mit der szenischen Handlung, von der jenes Lied etwa ein Teilchen ist; geht es mit dem ganzen Menschenleben, dessen Teile die Handlungen alle des Menschen sind; geht es mit der ganzen Geschichte des Menschengeschlechtes, von der die Einzelleben alle doch nur Teilchen sind." (28,38)

Lassen Sie uns also mit diesem "Bedacht im Vollzug" jetzt beginnen!

Vielleicht vermögen dieser Stein und sein Klang, es sinnbildlich und akustisch zusammenzufassen: die Gegenwart dieser drei Zeiten Vergangenheit - Gegenwart - Zukunft, nämlich als Erinnerung (memoria), Augenschein (contuitus) und Erwartung (expectatio) - überleitend zu dem, was uns jetzt vorbereiten will auf den Beginn der 639 Jahre ...


© Klaus Röhring 2002
Magazin für Theologie und Ästhetik 15/2002
https://www.theomag.de/15/kr2b.htm