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Magazin für Theologie und Ästhetik


Spielräume des Glaubens

Zur Bedeutung des Raums für eine ganzheitliche Gottesdienstpraxis

Thomas Erne

Vorbemerkung

Bei den meisten Menschen, besonders aber bei Kindern[1] und Jugendlichen ist die erste Assoziation beim Stichwort "Kirche" das Kirchengebäude, also der Turm, die Glocken, der Innenraum mit Altar, Kanzel, Taufstein, die harten Bänke. Das führt dann bei Konfirmanden, wenn sie den dritten Artikel des Glaubensbekenntnisses kommentieren, häufig zur Ablehnung des Satzes "Ich glaube an die heilige christliche Kirche" mit dem Argument, sie glaubten doch nicht an ein Gebäude.

Die nahe liegende Assoziation von Kirche und Raum ist in der protestantischen Theologie aber alles andere als selbstverständlich. Schlägt man die 6. Neuauflage des Evangelischen Erwachsenenkatechismus[2] aus dem Jahr 2000 auf, dann findet man unter dem Stichwort "Kirche" eine lange Liste von Themen: zum Verhältnis von Staat und Kirche, die Merkmale der wahren Kirche, ihren Auftrag, ihr biblisches Fundament, bis hin zum Verhältnis von ehrenamtlichen und hauptamtlichen Mitarbeitern, Ökumene, Kirchemitgliedschaft, Kirchensteuer, Kirchenaustritt und Kirchenkritik - alles und einiges mehr, aber nichts zum Thema Kirchenraum. Nichts zu den Orten, den Gebäuden, den sinnlichen Symbolen, der Architektur, den Stimmungen, die sie inszeniert. Fast scheint es so als haben die Autoren dieses Standardwerks evangelischer Laienfrömmigkeit um die räumliche Assoziation des Alltagsbewusstseins beim Begriff Kirche gewusst und gegen eben diese irreführende Unterbestimmung von Kirche mit aller Macht angeschrieben. Ein evangelischer Christ, der in der Durcharbeitung seines Glaubens schließlich auf Augenhöhe mit dem Erwachsenenkatechismus zu stehen kommt, wird dadurch eigentümlich abstrakt und ortlos. Der Glaube des erwachsenen Christen spielt sich nur noch auf der Bühne seiner Innerlichkeit ab. Erwachsen im Glaube werden bedeutet offenbar unabhängig zu werden von Orten der religiösen Erhebung. Positiv gesagt, der erwachsene Christ lernt den Verlust an unverwechselbarem Aroma, an sinnlicher Präsenz, an Stallgeruch als Läuterung und Vergeistigung seines Glaubens zu begreifen.

Die VELKD hat im Jahr 2000 nicht nur den Erwachsenkatechismus, sondern eine ganze Katechismusfamilie herausgegeben. Neben dem Erwachsenenkatechismus auch ein Glaubensbuch "Himmel überm Asphalt. Von der Alltäglichkeit des Glaubens", das sich an Menschen wendet, "die im Christentum und der Kirche ungeübt sind."[3] Und dort findet sich unter dem Stichwort Behausungen all das wieder, was im Erwachsenenkatechismus unter dem Stichwort Kirche fehlt. Es geht um das Zelt und die besondere Unbehaustheit des wandernden Gottesvolkes, das Fremdsein Jesu, der keinen Ort hatte, an den er sein Haupt hätte legen können und trotzdem die Gastfreundschaft in Häusern genoss und deshalb auch seine Ortslosigkeit einen Ort haben musste. Es geht um Räume, in denen Geborgenheit erfahren und Vertrautheit überschritten wird, um offene und öffentliche Stätten der Erinnerung, um Orte des Übergangs wie Bahnhöfe, Flughallen und Friedhöfe; um Gnadenorte, Wallfahrtsorte, magische Orte, um ekstatische Orte, um Kulträume wie Kinos und Diskos. Und um Kirchen als Übungsorte der Erhebung, um das Lichtspiel der Fenster und die Kerzendämmerung, um vertikale und horizontale Wahrnehmungsachsen, um Bewegungsabläufe in Kirchenräumen, um religiöse Rituale.

Ästhetisches, d.h. weit gefasst, die Sinnlichkeit des Sinns, und dazu gehören Räume, Bilder, Farben, Symbole, Gerüche, ist relevant für Kinder und für die Ungeübten im Glauben. Deshalb nimmt dieses Thema breiten Raum ein im Katechismus für Jugendliche und andere kirchlich Distanzierte. Die Geübten dagegen bedürfen solcher sinnlichen Hilfsmittel nicht. Sie bekommen einen dicken Wälzer in die Hand, der die erforderliche Lesedisziplin durch keinerlei auflockernde Bilder, anregende Gedichte, sprachliche Feinheiten, die im Glaubensbuch für Ungeübte zu finden sind, ermäßigt. Bilder, Symbole, religiöse Räume - sie sind die Milch der frühen Denkungsart (1K 3,1-3), die flüssige Milchspeise, die Paulus nur den Kindern füttern, den Lehrern aber vorenthalten möchte (Heb 5,12).

Zum Thema

Welche Relevanz hat der Raum für eine ganzheitliche Gottesdienstpraxis? Sind die sinnlichen Momente nur ein pädagogisches Hilfsmittel, das bei zunehmender Reife eines Menschen überflüssig wird, oder sind sie konstitutiv und unverzichtbar für jede Form des Gottesdienstes?

A) Die protestantische Nichtbeachtung des Raumes

Die gegenwärtige Praktische Theologie beginnt den Raum wiederzuentdecken.[4] Aufs Ganze gesehen ist die protestantische Tradition allerdings durch eine auffällige Zurückhaltung bei der Thematisierung des Räumlichen charakterisiert. Auch da, wo der Protestantismus keine Reserve gegenüber der Ästhetik entwickelt wie bei Schleiermacher bleibt der Raum nur eine beiläufige Randnotiz.

Es gibt für diese protestantische Nichtbeachtung des Raumes im Wesentlichen zwei Gründe, von denen der eine wenig stichhaltig ist. Der andere dagegen ist ein ernstzunehmender Einwand, der aber eine Aufwertung des Raumes nicht ausschließt.

Der wenig stichhaltige Grund für die protestantische Nichtbeachtung des Raumes beruft sich auf die reformatorische Charakterisierung der wahren Kirche. Nach CA VII ist Kirche immer da, wo die Gemeinschaft der Glaubenden miteinander feiert, Gottes Wort hört und die Sakramente, Abendmahl und Taufe recht verwaltet werden. Konstitutiv für Kirche und Gottesdienst ist daher Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung, nicht aber der Raum, in dem dies geschieht. Christoph Albrecht fasst Schleiermachers Raumprogramm mit der These zusammen: "Das Wesen des Kultes ist von kultischen Räumen unabhängig."[5] Die Unabhängigkeit von sakralen Räumen - der Gottesdienst kann nach Luther auch unter Brücken stattfinden, wenn nur Gottes Wort rein gepredigt und die Sakramente recht verwaltet, wird - wird nun im Protestantismus zu einer Unabhängigkeit vom Raum überhaupt gesteigert, so als ob es eine Ortslosigkeit in Raum und Zeit geben könne. Und in der Tat gibt es die auch, nämlich in der Innerlichkeit der frommen Seele.

In Reindarstellung führt das zu der Vorstellung von einem Predigthörer, der gleichsam mit geschlossenen Augen dem Raum enthoben in ausschließlicher Konzentration dem Wort Gottes lauscht und das Heilsdrama nur vor seinem inneren Auge ablaufen lässt. Die Intensität dieser Verinnerlichung bemisst sich nach dem Grad der Verachtung von Äußerlichem, also von dem Ort, an dem ich lausche, dem Leib mit dem ich lausche, und von der Zeit, während der ich lausche.

Die Nichtbeachtung des Raumes im manchen, vor allem pietistischen Spielarten des Protestantismus lässt sich an der Kargheit von Gemeinschaftshäusern, aber auch am den Kirchenbauten der Nachkriegszeit ablesen, die oft den Charme von Mehrzweckhallen entwickeln.

Diese Nichtbeachtung des Raumes ist immer zugleich auch eine Nichtachtung des Leibes. Raumerfahrung gibt es nur als Leiberfahrung. Der Leib ist ortsgebunden, immer an seinem Platz, wenn auch nicht immer am richtigen. Aus dieser konkreten Verortung des Leibes in Raum und Zeit entwickeln sich die menschlichen Anschauungsformen, Denkstrukturen (zählen beginnt mit Treppensteigen) und Wahrnehmungshorizonte. Reserve gegen Räume ist immer eine Reserve gegen den Leib und drückt sich bis in die Körperhaltung protestantischer Frömmigkeit hinein aus.

Nicht zuletzt der Pfarrer in seinem Talar ist Sinnbild dieser protestantischen Nichtachtung des Leibes in konkreten Räumen. Sein schwarzes Gewand entleibt ihn und lässt nur noch den Mund frei, damit nichts an seine konkrete Person, sein Existieren in Raum und Zeit erinnert und er nur noch Sprachrohr Gottes ist, das die Gemeinde ins Wort ruft, also in die Innerlichkeit ihrer Seelen und sie dort im Jenseits des Raumes versammelt.

Bevor ich die Gründe nenne, die gegen die Raumlosigkeit des Glaubens sprechen, möchte ich nur andeuten, warum diese Position überhaupt attraktiv war und immer noch ist. Es müssen ja irgendwelche Gratifikationen mit dieser Unterdrückung des Leiblichen verbunden sein.

Das Attraktive ist m. E. die Erfahrung der Entrückung. Innerlichkeit als Raum- und Weltüberwindung enthebt der Unübersichtlichkeit und Komplexität der konkreten Wirklichkeit und macht in gewissem Sinn unangreifbar. Es gibt immer noch diesen archimedischen Punkt außerhalb zu dem ich flüchten, an dem ich geborgen bin und wo mir keiner etwas anhaben kann.[6]

Die Einwände gegen diese Position liegen m.E. auf der Hand. Selbst die Beschreibung der raumüberwindenden Innerlichkeit muss sich räumlicher Metaphern bedienen (vor dem inneren Auge, innen - außen). Die Nichtbeachtung des Raumes bleibt an eben diesen Raum gebunden. In einer (abstrakten) Formel gesagt: Jeder Sinn, und sei es der Höchste, bedarf der Sinnlichkeit, um als Sinn erfahrbar zu werden.

Weniger leicht sind die Vorbehalte auszuräumen, die sich nicht gegen die Bedeutung des Raumes an sich aussprechen, sondern gegen eine Vorstellung der Qualität von Heiligkeit, die bestimmten Räumen zueigen sein soll und die sie als heilige, auratische Orte kennzeichnet. Schleiermacher These, dass das Wesen des Kultes von kultischen Räumen unabhängig ist, schließt ja eine Beachtung der Abhängigkeit von Räumen nicht aus. Ein Gottesdienstraum soll anders aussehen als ein Büro, weil er anderen Zwecken dient. Und, wenn der Kirchenraum aussieht wie eine Turnhalle, dann macht das die Erbauung zwar nicht unmöglich, aber doch so beschwerlich, dass gerade dann, durch den Widerstand, der Raum permanent präsent bleibt.

Schleiermachers und Luthers[7] These wendet sich nur gegen eine Aufladung von Räumen mit Bedeutung diesseits ihres Gebrauchs. Räume, die also die Gegenwart des Heiligen unabhängig vom Betrachter als objektive Größe inszenieren wollen. Gegen diese Objektivierung wandte sich die Reformation mit dem Argument, dass entscheidend nicht das An-sich-Sein Gottes, sondern sein Für-mich-Sein ist, also das Heilige nur ist, sofern es für mich ist und mein Leben bestimmt und ungestaltet, aber nicht als an sich existierende Atmosphäre eines Raumes.

Die Gefahr, etwas in die Dinge hineinzulegen, was in den Betrachter hineingelegt gehört, führt bei Luther auch zur Kritik der heiligen Bilder. Beides Räume und Bilder sollen nicht abgewertet, sondern in einen bestimmten, der Erbauung dienenden Gebrauch genommen werden. Und das geht umso besser, je mehr ihre Form dieser Funktion religiöser Erbauung dient. Das Formprinzip der klassischen Moderne, "form follows function" liest sich da wie ein protestantisches Bilder- und Raumprogramm.

Man kann die Aufhebung der Trennung von sakral und profan - charakteristisch für dieses protestantische Programm ist der Abbruch der Chorschranken in den mittelalterlichen Kirchen - nicht nur in die eine Richtung lesen. Dann bedeutet es, dass es keine abgegrenzten heiligen Räume mehr gibt.

Man kann es auch in die andere Richtung lesen. Dann heißt das: Jeder Ort kann zu einem heiligen Ort werden, wenn er in entsprechender Weise in Anspruch genommen und genutzt wird. Es hängt an den äußeren Zeichen, Wortverkündung und Sakrament und an der inneren Haltung, dem Gebrauch, den die Gemeinde von diesen Zeichen macht.

Faktisch und tatsächlich geschieht dies an bestimmten Orten (Kirchen) häufiger und intensiver als an anderen (Sportplatz) und zwar deshalb, weil diese Orte einen solchen Gebrauch anregen, stimulieren, da eine lange Gebrauchsgeschichte von frommen Haltungen in ihr Raumprogramm eingeflossen ist.

Man kann also die Kritik der Reformatoren an sakralen Räumen teilen, ohne die Intuition zu bestreiten, die wir vermutlich alle teilen, dass es besondere Orte gibt, die unverwechselbare Stimmungen und Atmosphären zulassen. Nur, diese Atmosphäre ist nicht objektiv und hängt nicht in Räumen wie eine Art von Wolke, sondern sie entsteht in einem Zusammenspiel von räumlichen Gegebenheiten und aneignender Inszenierung.

B) Das Phänomen "Raum"
1. Was ist ein Raum?

Wir sind immer schon in einem Raum, wenn wir diese Frage stellen. Räume sind unserem Nachdenken über Räume voraus. Wir sind durch sie irritiert, angenehm gestimmt oder gedrückt, zu bestimmten Haltungen und Handlungen ermuntert, und an anderen gehindert, bevor wir uns dessen bewusst werden.

Wir denken bei "Raum" heute in der Regel an den physikalischen Raum, ein dreidimensionales Koordinatensystem, in das jeder beliebige Körper eingestellt und seine Position genau berechnet werden kann. So gesehen sind Räume Container, Behältnisse, Schachteln, Kisten, um Körper und Menschen darin aufzubewahren.

Räume sind aber auch Orte, die wir mit Leben füllen, und die wir gefüllt mit Leben, schon gelebtem und künftigen, noch zu lebendem antreffen. Wir sind deshalb nicht einfach wie andere Dinge im Raum lokalisiert, sondern wir handeln, verhalten uns, empfinden, fühlen, gestalten. Räume bekommen durch uns Atmosphäre, wir leben uns in sie ein, finden in ihnen unsere Erinnerungen gespeichert, unsere Stimmungen gespiegelt, unser Verhalten gesteuert und begrenzt.

Räume sind eine elementare Ordnungsmaßnahme. Sie eröffnen einen Ort der Vertrautheit durch die Abgrenzung eines Innen von einem Außen. Raum in diesem elementaren Sinn ist das Paradies. Der Garten, der die Ordnung vom Chaos, die Regelstruktur vom Tohuwabohu abgetrennt.

Räume trennen ein unübersichtliches Außen von einem übersichtlichen strukturierten Innen, einem Raum vertrauter Differenzen von dem undifferenzierten Außerhalb. Als Unterscheidung von Innen und Außen dienen Räume der Abwehr der Leere, der namenlosen Angst, dem Horror vacui. Nicht der Abwehr von konkreter Furcht, sondern der Abwehr einer ortlosen Angst[8], dem Horror vor dem Blick in die leeren Augenhöhle des Kosmos (J. Paul), der Frage, warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts.

Räume gliedern dieses Innen, indem sie es mit Unterscheidungen besetzen. Also durch Proportionen von hoch und nieder, weit und eng; durch Gliederung des Lichtes in hell und dunkel; durch Begrenzung der Handlungsmöglichkeiten, das Verhältnis von Bewegung und Stillstand, Aktion und Passion; durch Begrenzung der Kommunikationsmöglichkeiten, von Nähe und Distanz, Beziehungsdichte oder Isolation der Personen im Raum.

Jeder Raum enthält so ein Programm der Handlungen, Bewegungen, Möglichkeiten zur Kommunikation, die er fördert oder ausschließt. Man bewegt sich anders in einer Turnhalle als in einem Büro. Man sitzt anders im Klassenzimmer als im Wohnzimmer. Man redet anders in der Bar als in der Kirche. Es gibt Räume, die Gespräch im Keim ersticken und andere, die zum Reden ermuntern. Manche wie die Gefängniszelle machen sich als Widerstand geltend, andere wie das Zelt als offenes Projekt.

2. Der Kirchenraum

Was für alle Räume gilt, das gilt im Kirchenraum im Besonderen. Und zwar potenziert in dem Sinn, dass der Kirchenraum deutlich macht, was für alle Räume gilt. Denn er ist ein Raum, der sich als Raum mitteilen will. Er ist außerhalb des Gewöhnlichen, weil ohne unmittelbaren Nutzen und unterbricht so die Unmerklichkeit der gewöhnlicherweise unbewussten Raumwahrnehmung. Er übersetzt sie ins Merkliche, Spürbare. Das ist jedenfalls ein Sinn der Größe, Weite, Zwecklosigkeit religiös konzipierter Räume.

Wer eine Kirche betritt durch einen gestalteten Eingangsbereich, durch Portale, Tore, Eingangstüren vollzieht einen Übergang, eine Passage von Alltag zu Festtag. So wird er sensibilisiert für den Raum, der ihn erwartet. Er kommt suchend, fragend, verunsichert, wie er auf dieses nicht-alltägliche Bewegungs- und Handlungsprogramm reagieren soll.

Aber die Irritation einer ungewöhnlichen Raumordnung, die nicht mehr nach vertrauten Schemata von Turnhalle, Büro oder Bar agieren lässt - auch damit hat die sprichwörtliche Schwellenangst kirchlich Distanzierter zu tun - wird im Innern des Kirchenraumes in einem strengen Ritual gebannt. Kaum, dass man im Inneren ist, richtet der Raum seine stummen Gebote an den Körper. Deutlich und streng werden bestimmte Handlungsweisen privilegiert und andere ausgeschlossen, das Sitzen, Stehen, Gehen wird lokalisiert, das Rennen, Hüpfen, Stampfen verhindert, die Bewegungsfreiheit eingegrenzt und nach vorne hin konzentriert, die Abläufe festgelegt und kanalisiert, wie es die Gottesdienstordnung vorsieht.

In den Kirchenraum eingeschrieben ist eine Handlungssequenz, eine Passage nicht nur von Draußen nach Drinnen, von der Peripherie ins Zentrum und wieder zurück, sondern auch die Ordnung für den Verkehr mit dem Heiligen, die Haltungen des Gebens und Nehmens beim Abendmahl (Opfer), bei der Sündervergebung als Tausch und fröhlicher Wechsel von Sünde und Gnade, das Wort Gottes (Predigt) gegen das Menschenwort (Gebet).

Das Drehbuch, nach dem dieser Verkehr inszeniert und gespielt wird, heißt die Agende - was zu tun ist - und das Stück heißt Gottesdienst. "Alles Leben verhält sich" so Josuttis, "einiges Leben verhält sich manchmal nach der Agende."[9]

3. Gewohnheit und Spontaneität

Aber nun gehört zur Ordnung der Agende, die sich in der Gestaltung des Kirchenraums niederschlägt durch die Anordnung der Zuschauerposition im Blick auf Altar und Kanzel, durch die Limitierung der Bewegungsfreiheit etc. auch die Rückseite der Ordnung. Gerade wenn man gelernt hat, warum die Ordnung so ist, wie sie ist, kann man ermessen, wie es auch anders sein könnte. Zur Gewöhnung und Gewohnheit gehört die Spontaneität[10]. Das Moment des Spiels, der Umgestaltung, Veränderung und Variation. Und zwar das eine am anderen. Man sitzt in festen Bänken und singt: Vertraut den neuen Wegen, auf die der Herr uns weist, weil Leben heißt sich regen, weil Leben wandern heiß - und kommt nicht vom Fleck. Die Freiheit auch anders als fixiert in einer Bank zu sitzen, wird konkret in der Umgestaltung dieses Widerstands.

Es gibt im Verhältnis von Ordnung und Spontaneität zwei Extreme. Das eine Extrem wäre Ordnung ohne Spontaneität, das Verhaftetsein an die feste Form, ohne variierenden Spielraum. So werden die Raumordnung und die Ordnung der Feier in Kirchenräumen häufig wahrgenommen. Fest, unbeweglich, ein Mechanismus zwanghafter Wiederholungen. Ein magischer Ablauf, bei dem es unheilvolle Folgen haben könnte, wenn man die Reihenfolge der Gesten und Worte nicht peinlich genau einhalten würde.

Das andere Extrem ist eine Spontaneität und Freiheit, die sich ablöst von dem konkreten Ort und sich in den Möglichkeitshorizont der Utopie, des Nicht-Ortes verflüchtigt.

Freiheit und christliche Freiheit im Besonderen ist Spontaneität innerhalb von Strukturen, innerhalb des Vertrauten und Gewohnten, innerhalb der Räume, der liturgischen und alltäglichen Ordnung, in der wir leben.

Glaube (pneumatologisch) ist die Bewegung des Transzendierens nicht in ein Jenseits von Ordnung, also keine Flucht in eine abstrakte Innerlichkeit, sondern überschreiten am jeweiligen Ort zu Gunsten neuer Ordnung, die dann wieder Gegenstand von Gewöhnung wird und neuem Überschreiten (und so weiter).

Man muss also in gewissem Sinn in jeder Ordnung das Chaos, das man auszugrenzen sucht, immer wieder neu zulassen, damit die Ordnung nicht erstarrt. Das ist im Zentrum des Raumprogramms einer Kirche, deren Ordnung unter anderem auch (oder vor allem?) dazu zu dient, immer wieder überschritten zu werden.

Also nicht nur: Halte Deine Träume fest, sondern auch: Lerne sie an deinem jeweiligen Ort zu leben!

4. Raum als Lernprogramm

Räume sind immer auch Lernorte. Dabei richten sich die Angebote und die Gebote eines Raumes als lautlose Anmutungen unmittelbar an den Leib, den Körper. Bevor das Bewusstsein reflektiert, hat der Leib im Raum schon reagiert. Räume sind so etwas wie die lautlosen Schemata unserer Bewegungs- und Handlungsabläufe. Sie strukturieren unsere unbewusste Wahrnehmung. Diese stummen Gebote des Raumes lassen sich überblenden. Man gegen das Raumprogramm agieren oder mit ihm konform gehen, aber man kann es nicht völlig außer acht lassen.

Genau dieses Zusammenspiel von Ordnung und Spontaneität wird in Kirchenräumen und den in sie eingeschriebenes Handlungsprogramm eingeübt - jedenfalls in Augenblicke des Gelingens - und zwar als eine Lernerfahrung des Leibes. Daiber sagt das so: "Der erste Schritt im Blick auf den Umgang mit den Ritualen ist das Mitmachen, das Nachahmen, das einfache Dabeisein und dann Immer-Wieder-Dabeisein."[11] Der zweite Schritt aber ist dann die Variation des Vertrauten, das Spiel in der Ordnung und mit der Ordnung, in die man eingewöhnt worden ist.

Das Lernen von Raumprogramm ist in der Regel nicht bewusst. Man geht nicht mit einem Raum- und Stockwerksplan in die Gebäude und nicht mit der Agende in den Kirchenraum, sondern lernt durch Gewöhnung und durch die Gewohnheiten, was wir mit bestimmten Räumen, ihrem Zweck, ihren Möglichkeiten verbinden. Es ist ein learning by doing.

Kein theoretisches Wissen, das erst gelernt und dann angewandt wird, aber auch keine Reiz-Reaktionskette wie in einem behavioristischen Lernprogramm[12].

Man lernt den Raum kennen, indem man sich im Raum bewegt und sich durch den Raum bewegen lässt, in ihm handelt, lebt, sich freut, leidet. Auch das Bewegungs- und Handlungsprogramm von Kirchenräumen lernen wir nun durch Gewöhnung. Aber da es ein dem Gewöhnlichen enthobener Ort ist, macht der Kontrast den Vorgang des learning by doing, der sich in allen Räumen abspielt, in einem Kirchenraum besonders bewusst - und eröffnet so die Möglichkeit zum Spiel. Wiederum nicht als ein theoretisches Wissen, sondern als eine Erfahrung mit der Erfahrung, einer Wahrnehmung dessen, was der Leib in Räumen lernt.

C) Bedeutung des Raumes für eine ganzheitliche Gottesdienstpraxis

Das Ritual kommt religionsgeschichtlich vor dem Dogma, der Vollzug vor dem Verständnis des Glaubens, die Haltung vor dem Inhalt, die Gebärde vor der in Worte gefassten Doxologie. Der Raum, sein Raumprogramm, die Haltungen, Bewegungsabläufe, die er privilegiert, die Rituale, die er steuert, ist Lernort leibhafter Gewöhnung und leibhafter Spontaneität. Im Raum und im Ritual, das immer an Räume gebunden ist, werden Lernerfahrungen gemacht, die nicht in erster Linie die Gedanken verändern, sondern den Leib. Also Veränderung der ganz konkreten Existenz, eine Eingewöhnung und ein Spiel mit einer Ordnung, einem Ablauf, einer Haltung als Ausdruck meiner Praxis. Ein Lernen, das nicht nur mein Denken, sondern in gewisser Weise auch mein Leben ändert. Genau um dieses Lernen geht es der christlichen Religion in einem ganzheitlichen Sinn, um Lebenspraxis, oder wie das auch Marx sagen kann. Es geht um Veränderung nicht des Bewusstseins, sondern um Veränderung im Sein.

Darin sehe ich die Bedeutung des Raums, besonders des Kirchenraums. Er ist Ort und Bühne des leiblichen Lernens, in denen sich meine konkrete Situation ändert, nicht nur meine Sicht der Dinge, sondern meine Haltung und Beziehung zu ihnen und damit in gewisser Weise mein Leben.

Aber Rituale können auch scheitern und Räume zu Fallen werden, zu beklemmenden, angstauslösenden Behältnissen. Deshalb gehört zur leiblichen Lernerfahrung des Raumes der Sinn für die spielerische Variation der Ordnung, die in ihn eingeschrieben ist. So gesehen ist die ganze Welt ein Raum, eine vorbereitete Welt voller Regeln, Ordnungen und Gewohnheiten, in die wir hineingeboren werden, ohne die wir nicht überlebten. Vorbereitet ist auch unser Glaube, durch Gewohnheiten, Regeln, Ordnungen, die wir durch Nachahmung und Gewöhnung zuerst am eigenen Leib erfahren.

Die Aufgabe des Christseins kann man nun so beschreiben, dass ich eine Welt bauen muss, obwohl bereits eine Welt besteht[13]. Ich erfinde nicht die Ordnung des Glaubens neu, sondern mache sie mir zu eigen. Solche selbsttätige Aneignung aber gelingt nie nur qua Tradition, nie nur aufgrund von Gewohnheit, sondern nur durch beides, Gesetz und Evangelium, Ordnung und Variation, Regeln und Freiheit die Regeln zu verändern. Ohne Ordnung (Welt, die es schon gibt) würde sich die Spontaneität verflüchtigen. Ohne Spontaneität (meine Welt) würde die Ordnung in tödlicher Langweile erstarren.

Beides zusammen, Spontaneität und Ordnung kommt zusammen im Begriff der Inszenierung. Es wird ein vorhandenes Stück in Szene gesetzt, die Heilsgeschichte, Geburt und Passion des Erlösers, aber eben nicht als mechanische Reproduktion, sondern so, dass es den Akteuren in Fleisch und Blut übergeht. Dazu muss das Stück "wie neu" erfunden werden.

Das ist nach meiner Sicht der Dinge die Intention des religiösen Raumes und der in ihm inszenierten und gedeuteten Rituale. Dort kann man lernen, dass Gewohnheit notwendig ist, aber auch, dass sie nur dann lebendig bleibt, wenn sie variiert, neu übersetzt, verfremdet wird.

Darin besteht überhaupt die Chance des Ästhetischen für den Glauben, dass nur in der Bindung an solche sinnlich-konkreten Gestalten, Bilder und auch Räume, die Pole von Ordnung und Spontaneität spürbar wird. Dann versteht man auch besser, warum der Glaube primär eine Lebensbewegung ist, die an den sinnlichen Ausdrucksformen für Gott gebunden bleibt und sie zugleich immer wieder zu Gunsten neuer Varianten[14] zerbrechen und überschreiten muss. Denn wir haben Gott nur Bildern, aber kein Bild ist Gott.

Anmerkungen
  1. Vgl. W. Huber, Kirche, Stuttgart 1979, 14: "Wenn Kinder das Wort "Kirche" hören, denken sie zuerst an das Gebäude."
  2. Evangelischer Erwachsenenkatechismus, hg. von M. Kießig im Auftrag der VELKD, Gütersloh 6/2000. Allerdings finden sich unter dem Stichwort "Gottesdienst" noch einige, eher beiläufige Bemerkungen zum Kirchenraum und den Paramenten, vgl. 523f.
  3. Himmel überm Asphalt. Von der Alltäglichkeit des Glaubens, hg. V. Thies Gundlach im Auftrag der VELKD, Gütersloh 2000, Klappentext.
  4. Der Religion Raum geben. Kirchenpädagogik und religiöses Lernen, hg. v. Thomas Klie, Münster 1998; W. Gräb, Lebensgeschichten, 1998, 122. Der Gottesdienst in der Erlebniswelt und da besonders 2.) Neuinszenierung kirchlicher Räume; Failing/Heimbrock, Gelebte Religion wahrnehmen, 1998, 91-122, Die eingeräumte Welt und die Transzendenz Gottes; M. Josuttis, Der Weg in das Leben, 1991; R. Volp, Liturgik Bd. 1, 1992, 344-406.
  5. C. Albrecht, Schleiermachers Liturgik, Göttingen 1963, 41.
  6. Es ist nicht nur die Religion, die solche Geborgenheitsfluchten erlaubt. Schulmeisterlein Wutz hofft auf die embryonale Schlafhaltung am Ende eines bedrückenden Tages, vgl. J. Paul, Schulmeisterlein Maria Wutz, in: Die unsichtbare Loge. Sämtliche Werke. Abt. I/Bd.1, München 1960, 431: "War der Tag gar zu toll und windig ... so war das Meisterlein so pfiffig ... dass es sich nichts darum schor; es war nicht Ergebung ... Abhärtung ... Philosophie ... oder Religion, die das belohnte [Übel] verwindet: sondern der Gedanke ans warme Bett. "Abends", dacht´ er, "lieg ich auf alle Fälle, sie mögen mich den ganzen Tag zwicken und hetzen, wie sie wollen, unter meiner warmen Zudeck und drücke die Nase ruhig ans Kopfkissen, acht Stunden lang." - Und kroch er endlich in der letzten Stunde eines solchen Leidentages unter sein Oberbett: so schüttelte er sich darin, krempte sich mit den Knien bis an den Nabel zusammen und sagte sich: "Siehst du, Wutz, es ist doch vorbei.".
  7. Predigt zu Kircheinweihung in Torgau, WA 49, 592; WA 10/I, 252 (Kirchenpostille), etc. vgl. G. Seibold, Evangelischer Kirchenbau, Protokolldienst der Evangelischen Akademie Bad Boll, 11/99 Anhang.
  8. Vgl. H. Blumenberg, Arbeit am Mythos 1984, 12: "Angst ist auf den unbesetzten (!) Horizont der Möglichkeiten dessen, was herankommen mag, bezogen." Schelling hat diese Angst als aus dem Wesen des Menschen entspringende anthropologische Verzweiflungsgrundfrage charakterisiert: "Warum ist überhaupt etwas? Warum ist nicht nichts?" Philosophie der Offenbarung, vgl. dazu, E. Jüngel, Gott als Geheimnis, §2 Einleitung 38.
  9. M. Josuttis, Der Weg in das Leben, München 1991, 11
  10. Zur Dialektik von Ordnung und Spontaneität vgl. B. Waldenfels, Das leibliche Selbst, 2000, 201- 209.
  11. Vgl. D. Stollberg, Liturgische Praxis, Göttingen 1993, 15.
  12. Zur (extremen) Alternative von rationalistischen und behavioristischen Lernprogrammen, vgl. B. Waldenfels, Das leibliche Selbst, 2000, 152ff.
  13. H. Blumenberg, Arbeit am Mythos 1984.
  14. Zur Kontinuität qua Variation vgl. M. Moxter, Kultur als Lebenswelt. Tübingen 2000.

© Thomas Erne 2002
Magazin für Theologie und Ästhetik 15/2002
https://www.theomag.de/15/te3.htm