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Magazin für Theologie und Ästhetik


AMOK vs. KOMA?

Eine theologische Warnung vor Schnellschüssen

Bernd Beuscher

Der Schreck sitzt tief. Schon werden Chroniken von Amokläufen abgedruckt. Man verschafft sich einen ersten Überblick. Schnell werden wieder die üblichen Verdächtigen (Computerspiele, berufstätige Mütter) herbeizitiert. Und abermals tappt man in die bereitstehenden Skandalisierungs- und Bagatellisierungsfallen. Doch weder Imitations- noch Katharsismodelle von Gewalt werden dem Phänomen gerecht.

Solche Ansätze von Gewaltbewältigung sind selbst dem Banne der Gewalt erlegen. Mit aller Gewalt versuchen sie zu verhindern, was erst einmal zu erkennen wäre. Der Grad der Empörung markiert dabei das Maß der Distanz-Illusion, wie sie Hegel anschaulich beschrieb: "Das Herzklopfen für das Wohl der Menschheit geht darum in das Toben des verrückten Eigendünkels über, in die Wut des Bewusstseins, gegen seine Zerstörung sich zu erhalten, und dies dadurch, dass es die Verkehrtheit, welche es selbst ist, aus sich herauswirft und sie als ein Anderes anzusehen und auszusprechen sich anstrengt."

Trauergottesdienste werden zwar gerne geduldet im Sinne einer anästhetischen Notfallerstversorgung. Aber solange Theologie als diagnostische Spezialwissenschaft in Sachen humaner Gewaltphänomenologie mit ihren unbequemen Diagnosen von der Ursachenforschung ausgeschlossen bleibt, ist der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, der ganze Aufwand an Geld und Expertengremien diene eher dem Widerstand als der Heilung.

"Das kommt aus Amerika" heißt es vielfach, wobei als Ursache nicht etwa die grassierende Scheinheiligkeit auf der ganzen Linie im Blick ist, sondern nur das Epiphänomen, die Waffen. In den USA boomen religiöse Videoverleihe, die "Clean Flicks" (jugendfreie Fassungen der großen Hollywoodfilme) produzieren, wo Nacktszenen, Flüche und Blut fehlen. Gestrichen ist z.B. in "Schindlers Liste" eine Szene, in der KZ-Häftlinge nackt herumlaufen. In "Der Soldat James Ryan" sterben wie im Original viele Soldaten, aber es fließt kaum Blut. Bequem auch die automatisierte Gewaltlösung, wo TV-Geräte mit einem Chip ausgestattet sind, der bei Gewaltszenen auf ein Signal der Sender hin ab- oder umschaltet. Derart weltverfälschende und lebensfremde Gewaltverleugnung kommt auch in Deutschland schwer in Mode. So wurde die Zeichentrickversion von "Jim Knopf" entschärft: Lokomotivführer Lukas musste seine Tabakpfeife abgeben, die Piraten mutierten zu alkoholischen Abstinenzlern und Jim Knopf zur leichtgebräunten Sportskanone.

Früher sang und klatschte unsere geliebte Kindergärtnerin nach alter Weise den Reim mit uns: "Ringel, Rangel, Rose, Butter in die Dose, Schmalz in den Kasten, morgen woll'n wir fasten, übermorgen Lämmlein schlachten, das soll sagen 'Mäh'." Heute kommt es auf political correctnes an, wo kurzerhand "schlachten" durch "übermorgen Lämmlein streicheln" ersetzt ist. Feine Unterschiede mit gewaltiger Wirkung, weltanschauliche Umerziehung zur Kitschwelt. Welche Version - (gewalthaltiges) Original oder (gewaltfreie?) Fälschung - die größere friedenserzieherische Wirkung hat, daran scheiden sich die Geister, z.B. an Weihnachten: "Morgen kommt der Weihnachtsmann, kommt mit seinen Gaben, Trommel, Pfeifen und Gewehr, Fahn' und Säbel und noch mehr, ja ein ganzes Kriegesheer, möcht ich gerne haben!" (A. H. Hoffmann v. Fallersleben). Kultiviert dagegen die moderne Kindergartenversion nicht Zynismus und Blasiertheit: "Morgen kommt der Weihnachtsmann, kommt mit seinen Gaben. Viele Kinder auf der Welt haben weder Brot noch Geld. Panzer rollen übers Feld, daran sollt ihr denken" - ?

Eine weitere humanistisch beschönigende Virtualisierung der Weltanschauung (du kannst alles, was du willst; der Mensch ist eigentlich in Ordnung, nur die Umstände machen ihm das Leben schwer etc.) ist inhuman und wird die Sache nur verschlimmern. So ist "das Unbehagen in der Kultur", der Vorwurf, den Freud 1927 "gegen die heutige Erziehung erheben" musste, hochaktuell: "Sie [die Erziehung] sündigt außerdem darin, dass sie den jugendlichen Menschen nicht auf die Aggression vorbereitet, deren Objekt er zu werden bestimmt ist. Indem sie die Jugend mit so unrichtiger psychologischer Orientierung ins Leben entlässt, benimmt sich die Erziehung nicht anders, als wenn man Leute, die auf eine Polarexpedition gehen, mit Sommerkleidern und Karten der oberitalienischen Seen ausrüsten würde ... Denn die Kindlein, sie hören es nicht gerne, wenn die angeborene Neigung des Menschen zum 'Bösen', zur Aggression, Destruktion und damit auch zur Grausamkeit erwähnt wird. Gott hat sie ja zum Ebenbild seiner eigenen Vollkommenheit geschaffen ... Angesichts dieser Schwierigkeit ist es für jedermann ratsam, an geeigneter Stelle eine tiefe Verbeugung vor der tief sittlichen Natur des Menschen zu machen; es verhilft einem zur allgemeinen Beliebtheit und es wird einem manches dafür nachgesehen."

Verlieren, scheitern, Fehler machen, schuldig werden gehören zum Leben, aber man bereitet Menschen kaum noch darauf vor, man erzählt nichts davon, im Gegenteil, man meint, man täte ihnen einen Gefallen, dies humanistisch auszureden: "Da ist nichts!" "Reiß dich zusammen!" "Du musst nur wollen!" "Gewalt - eine gern verleugnete Verhaltensweise" titelte Bruno Bettelheim. Janusc Korczak, Françoise Dolto, Günther Anders, Umberto Eco, - die Liste von Philosophen, Pädagogen und Kinderpsychologen ist groß, die leidenschaftlich gegen eine Ausmerzung des Gewalt- und Kriegsthemas aus der Spiel- und Lebenswelt plädieren, weil derartige Totaltabuisierung dem menschlichen Herzen nicht gerecht wird.

Arno Gruen verwies bereits anlässlich der Ereignisse von Mölln, Solingen, Lübeck und Magdeburg auf ein Phänomen: "Immer hassen wir die Opfer", und es gibt "Mitleid mit den Tätern." Keiner will das hören, das kommt in keine Talkshow, ja das verschweigen wir vor uns selbst, obwohl offensichtlich ganze Filmgenres davon leben. "Wir hassen das Opfer in uns selber ... Indem wir dem Opfer dafür heimzahlen, dass es Opfer ist, lügen wir die eigene Sünde weg ... Solange wir uns als erfolgreich einstufen können, solange wir uns in unserem Schaffen nicht bedroht fühlen, ruht das Opfer in uns. Es erwacht, und damit erwacht auch der Hass auf uns selber, den wir loswerden müssen - wenn unser Selbstwertgefühl bedroht ist ... Schon als Kinder werden wir zu Opfern, irgendwann einmal, ganz früh. Zugleich dürfen wir das nicht zugeben, denn Opfer sein gilt als Beweis, dass wir es als Kind nicht richtig gemacht haben ... So hassen wir das Opfer in uns und deswegen die, die ... zum Opfer erkoren werden: die Ausländer, die Juden, die Türken, die Andersartigen, die Behinderten ... "

"Wir wollen gewaltlos sein, weil wir bessere Menschen sein wollen" konstatiert der Theologe Jürgen Ebach. Aber solange wir nicht schuld sein können, werden wir nicht frei für einen humaneren Umgang mit Gewalt. Sich etwas schämen zu können, und weder vor Scham vergehen noch reflexartig in Schamlosigkeit und Unverschämtheit verfallen zu müssen, das ist die feine psychologische Lösungsspur, die die biblischen Geschichten tradieren. Günther Anders, der sich selbst immerhin als "notorisch anti-religiös" bezeichnete, hatte davon Ahnung: "Sich schämen bedeutet also: nichts dagegen tun können, dass man nichts dafür kann. In anderen Worten, gerade dasjenige, was man als Absolution von der Scham in Anspruch nimmt, stellt das Grundmotiv der Scham dar."

Amok oder Koma müssen die Alternativen nicht sein. Nicht weniger, eher mehr öffentliche Bühnen und Räume für Gewalt in Sport, Spiel und Spannung sind nötig. Schädlich sind weitere Schnellschüsse, die nach hinten losgehen.

Theologisch führt eine Spur vom blutigen Grauen und Schrecken zu bigotter Humanolatrie. Das ist kein Trost für die Betroffenen, aber ein unangenehmer Spiegel für die Gesellschaft. Und die Theologie ist nicht nur zum Troste da.


© Bernd Beuscher 2002
Magazin für Theologie und Ästhetik 17/2002
https://www.theomag.de/17/bb1.htm