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Magazin für Theologie und Ästhetik



On Kawara, Eine Million Jahre (Vergangenheit und Zukunft), Fridericianum - Documenta11

Im zentralen Raum im ersten Stock des Museum Fridericianum mit Blick auf den Friedrichsplatz findet sich On Kawaras documenta-Beitrag "One Million Years". Der Raum ist offen zur Rotunde, die sich über drei Stockwerke hinzieht und mit dem für die Documenta11-Konzeption ebenso zentralen Zahlenwerk von Hanne Darboven ausgefüllt ist. On Kawara füllt nicht nur seinen Raum, sondern auch den Flur der Rotunde akustisch. 10 Stunden am Tag über 100 Tage hinweg ertönen Jahreszahlen über einen Lautsprecher - vorgetragen von jeweils zwei wechselnden Personen, die wie Radiosprecher in einem Studio aus Glas sitzen - vor sich je ein Mikro und einen dicken Ordner. Daraus lesen sie abwechselnd - keine Nachrichten, sondern - Jahreszahlen - langsam, stoisch, im gleichmäßigen Rhythmus:

Onethousandfourhundredninetyeight BC ...........................
Fivethousandfourhundredseventysix AD ........................

Unermessliche Zeitspannen tun sich auf zwischen vergangenen Jahren, Jahrhunderten, Jahrtausenden und solchen, die noch kommen werden. Persönliche Geschichte, Menschheitsgeschichte, Erdgeschichte - Gottesgeschichte? Die Zeitmessung ist jedenfalls orientiert an letzterer - der Geburt des Christus (BC) und seiner Identifizierung als des Herrn (AD). Aber vermutlich geht der Künstler nur vom Faktum der "herr"schenden Zeitrechnung und der "Dominanz" des christlichen Abendlandes aus - ohne es zu werten. Stete Zahlenflüsse, der unermessliche, gleichgültige Lauf der Zeit - der Chronos wird beschworen.

Im gleichen Raum in zwei Glasvitrinen an den Wänden finden sich die 20 Bände, aus denen gelesen wird: One Million Years - Past, 10 Bände mit Listen von Jahreszahlen, die von 1969 an bis ins Jahr 998.031 rückwärts gezählt und One Million Years - Future, 10 Bände mit Jahreszahlen, die von 1999 an bis ins Jahr 1.001.998 in die Zukunft fortgeschrieben wurden. Zahlenkolonnen auf zweimal 2000 Seiten, Blätter vom Künstler selbst mit Schreibmaschine beschrieben . Viel Zeit hat er dafür gebraucht. Vor über 30 Jahren begann der in New York lebende, in Japan geborene Künstler dieses Werk (1969!).

Aber auch andere Arbeiten On Kawaras verstehen sich als Dokument gelebter Zeit. Zum Beispiel seine 1966 begonnenen Date-Paintings, die nichts als das Datum des Tages zum Gegenstand haben, an dem er das Bild malt - immer in weiß von Hand auf einem monochromen Hintergrund . Nur auf den ersten Blick wirken die Gemälde schablonenhaft und standardisiert, bei genauem und langem Hinsehen zeigt sich eine große Variationsbreite in der malerischen Ausführung der Oberfläche. Die Art und Weise, wie er das Datum malt, hängt darüber hinaus von der Sprache und den Konventionen des Landes ab, in dem er sich bei Entstehung des Bildes gerade befindet. Jede Serie der inzwischen mehr als 2000 Datumsbilder wird - um den örtlichen und historischen Kontext zu dokumentieren - in einem Pappkarton aufbewahrt, der mit Zeitungen des Ortes und des Tages ausgeschlagen ist, an dem das jeweilige Bild entstanden ist. Mehr als die Hälfte seiner Arbeiten entsteht auf Reisen.

Ebenso besessen wie von der Dokumentation von Tagen und Jahren ist On Kawara vom ständigen Nachweis der Orte, an denen er sich befindet und vom Nachweis der eigenen Existenz. So besteht die Serie I AM STILL ALIVE aus Telegrammen, die er an Freunde und Bekannte schickt oder die Serie I GOT UP aus Postkarten mit dem Vermerk der jeweiligen Uhrzeit, zu der er an dem und dem Tag aufgestanden ist. I WENT besteht aus Stadtplänen und Karten, die die Bewegung des Künstlers an verschiedenen Orten markieren und die Serie I READ dokumentiert Zeitungsausschnitte von Tagen, an denen der Künstler ein Date-Painting malte. Sich der eigenen Existenz in der Zeit zu vergewissern, fällt für den Künstler in eins mit seinem Kunstschaffen. Kunst und Leben sind nicht zu trennen. Ein Kritiker schreibt zu den Date-Paintings: "Das ist Malerei als Lebensvollzug und Selbst-Vergewisserung. Weil ich male, lebe ich. Aber mehr als das, dass ich an dem Tag gelebt (und gemalt) habe, ist nichts mitzuteilen ... Die Dokumentation aller gemalten Bilder fügt sich zur umfassenden Biographie."

Konzeptkunst und Minimal Art sind die Koordinaten, in die On Kawara gern eingezeichnet wird, und in der Tat sind Sol le Wit und Donald Judd wichtige Bezugsgrößen seiner künstlerischen Entwicklung. Gleichwohl bestehen seine Arbeiten sind nicht nur aus Konzept und Idee, bei der die materielle Präsenz des Werkes unerheblich wäre. Die malerische Ausführung besonders bei den Date-Paintings scheint für Kawara etwas sehr Wesentliches zu sein, und auch die Gestaltung der Arbeit One Million Years im Museum Fridericianum ist von ihrer spezifischen Art der Ausführung, die in der physischen Präsenz des Werkes im Raum als Installation und Performance besteht, nicht zu trennen.

Hatten die Serien und Datumsbilder noch den deutlichen Anspruch, die individuelle Existenz in einen historisch-politischen Kontext zu stellen, wenn auch sehr minimalistisch, so ist dies bei der Arbeit One Million Years nicht mehr zu spüren. Zu groß ist die Spannweite der Jahrtausende und Jahrmillionen als dass sie in ihren Ausmaßen für das Individuum noch wahrnehmbar und in historisch-politischen Zeitmaßen erfahrbar und deutbar wäre. Die Macht des Chronos und der Gleichmut des östlichen Denkens in seiner Behauptung des Kollektiven gegenüber dem Individuellen, des Allgemeinen gegenüber dem Partikularen drängen sich in der documenta-Arbeit von On Kawara in den Vordergrund. Das Überindividuelle, aber auch die Gelassenheit östlicher Religion und Kultur kämpfen mit der Aufgeregtheit, dem dauernden Versuch, den Kairos nicht zu versäumen und dem damit einhergehenden Zeitgefühl im westlichen Kulturkreis des christlichen Abendlandes. Wo in Sekundenschnelle Informationen um die Welt geschickt werden können, Computer ebenso rasant die abenteuerlichsten Rechnungen auszuführen und genetische Eingriffe Jahrmillionen der Evolution zu überspringen vermögen, ist ein Innehalten angesichts One Million Years im Raum von On Kawara nicht unangemessen. [EV]