Chrohreh Feyzdjou, Fridericianum, Documenta11
"Der Flaneur folgt weniger einer Hermeneutik der Aneignung als vielmehr einer Hermeneutik der Distanz" (Albrecht Grözinger). Diesen Charakterzug meiner selbst kann ich im ersten Raum des rechten Flügels des Fridericianums zum ersten Mal auf seine Stimmigkeit hin überprüfen. Eine "Boutique" betrete ich und den ausgestellten "Product(s) of Choreh Feyzdjou".
Eine jüdische Künstlerin 1955 im Iran geboren,1996 in Paris gestorben hat hier ihr Vermächtnis versammelt. "Die Stille und das Gewicht der toten Materie sind physisch zu erfahren". So hat Werner Hofmann seinen ersten Eindruck beim Betreten dieses Raumes beschrieben. Ich erinnere, dass Catharine David hier Marcel Broodthaers "Musée d'Art Moderne, Dèpartement des Aigles" aufgebaut hatte. So kommen auch diesmal wieder Zeit, Geschichte, Museum, Kunst zusammen. Nur diesmal auf andere Weise. Weniger ironisch. Eher schmerzhaft durchlitten, im Wissen um das eigene sterbliche Leben, gezeichnet vom Krebs, der alle künstlerische Lebenserwartung, alle Hoffnung schwärzt und nur noch ein Einziges tun lässt, rechtzeitig die Summe des Lebens zu ziehen, soweit sie sich überhaupt zu Lebzeiten ziehen lässt im Aufheben des eigenen Lebens-Werkes. Im dreifach Hegelschen Sinn ist ihr das (zugleich) gelungen: als auf eine andere Stufe heben, als aufbewahren und als beseitigen. In Kisten verpackt: zusammengerollte Blätter, Notizen, Skizzen? Zu großen Rollen gewickelt und über Stangen und in Gestelle wie Stoffballen gehängt: Leinwände, Bilder darauf, andeutungsweise, eher zu ahnen als zu sehen. Leere Keilrahmen, verschiedener Größe an die Wand gelehnt. Stumme Zeugen einer einstigen Bilderwelt. Kästen, Schachteln mit Kohleresten, Kohlestaub und was einst Malmaterial gewesen sein mag. Eingeschwärzt als hätte sich der Staub von Jahrhunderten darüber gelegt. Ein Wandbord mit Flaschen darauf, jede anders in Größe und Gestalt, mit schwarzen Dingen darin, wie verkohlte Insekten. Sedimentierte Geschichte. Kunst, unsichtbar gemacht, in einem Archiv aufgehoben oder für eine Reise verpackt, weil die Jüdin wie Ahasverus unterwegs und eigentlich nirgends zuhause ist? Hat sie es für die Nachwelt möglicherweise bewahrt und als Kunst für den Betrachter beseitigt, freilich auf geheimnisvolle, stille und mächtige Art anwesend in ihrer Abwesenheit? Der Tod der Kunst als Kunst. Begann dieser als Tod der Malerei nicht schon bei van Gogh, als er ausrief "Der Maler der Zukunft wird der Maler der Farbe sein"? Folgte nicht auf deren Emanzipation die der Oberfläche, so dass es bald nur noch Farbobjekte gab, die sich schon bei Malewitsch aufgelöst hatten ins Schwarz auf Schwarz und Weiß auf Weiß, so dass man eigentlich gar nichts mehr sah? Hat sich die radikale Selbsteinlösung des zweiten Gebotes nicht am radikalsten in der Kunst selber vollzogen, weil Künstler ihre radikalsten Ikonoklasten sind? "Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen"? Ich beginne, etwas zu sehen, und zugleich wird es mir entzogen. Es steht mir nicht zur Verfügung. Aneignung ist hier nicht möglich. Jede Nähe wird hier sofort zur Distanz. Kommt daher die große Ruhe, die von diesem Raum ausgeht? Ist es das Rätselhafte, zu dem Feyzdjou ihre Dinge aufgehoben hat?
Eine von mir besonders geliebte Passage aus Erhart Kästners "Aufstand der Dinge" fällt mir ein "Nur noch das Rätsel": "Die Welt-Ausrechnung, Allmacht der Neuzeit, vor der auch Diktatoren sich beugen und Alle, die sich sonst hassen, verbrüdern, will alle Dinge entsiegeln. Im Freiraum der Kunst, wenngleich er folgenlos wurde: versiegeln sie sich wieder. Je mehr wissenschaftlicher Aufschluss, desto verschlossener erweisen sich die Dinge. Sie trotzen. Sie sehen den einzigen Fluchtweg, wenn sie überhaupt einen sehen: Umzug ins Rätsel. das Labyrinth, ihre Wohnung. So geht durch die Künste unserer tage ein Zug, wir kennen ihn Alle. Jeder Vers sagt es, jedes Bild spricht davon: Die Dinge verrätseln sich. Das Unaufgeklärte, das Schwerverständlich ist ihre Zuflucht. In der Neuzeit, in der totalen Welt-Ausrechnung, so will ihnen vorkommen: Es ist nur das Rätsel, das Rat gibt."
[Klaus Röhring]
|