Victor Grippo, Fridericianum - Documenta11
Unter den Arbeiten der DOCUMENTA11 spricht mich eine sehr ästhetische und kontemplative Arbeit des argentinischen Künstlers Victor Grippo im Museum Fridericianum besonders an. Auf kleinen Podesten stehen sieben Tische unterschiedlicher Höhe, darunter mehrere wacklige Schultische, die bei uns aus Sicherheitsgründen für den Schulgebrauch gewiss verboten wären, sowie zwei quadratische Wohntische. Über jeder Platte hängt eine Glühbirne von der Decke herab, die die Tischplatte beleuchtet und ein warmes gedämpftes Licht verbreitet. Alle Tische tragen Spuren von Arbeit. Sie sind mit Spuren von Tinte und Farbe bekleckert, der Lack ist abgesprungen oder es liegen Materialien oder Werkzeuge darauf. Außerdem sind sie mit Textauszügen argentinischer Autoren beschrieben.
Der quadratische Tisch mit den gedrechselten Beinen trägt einen Text von Grippo selbst, in dem er auf die Bedeutung des Tisches für die menschliche Gesellschaft eingeht. Er zählt all die Dinge auf, die Menschen an einem Tisch versammeln, wobei er teilweise Begriffe aus dem religiösen Kontext verwendet, wie, dass am Tisch das Brot gebrochen wird. Zum Schluss sagt er, der Tisch sei ein Ort der Transsubstantiation, einer Verwandlung zu höherer Wertigkeit - die katholische Kirche bezeichnet mit diesem Begriff die eucharistische Wandlung von Brot und Wein. Ein weiterer Tisch ist durch Zimmermannshammer und Hobelspäne eindeutig als Arbeitstisch gekennzeichnet. Der Text verweist auf den Zimmermann als den Schöpfer des Kreuzes.
Auf dem letzten Tisch stehen in Glasgefäßen chemische Substanzen. In der geöffneten Lade liegt die Zeichnung einer Rosenblüte und auf einer Petrischale, wie das Objekt eines Versuchs, eine getrocknete Rose. Die Rose ist in unserer Kultur mit vielfältiger Symbolik belegt; sie steht für die Liebe, die Schönheit und das Leben aber auch für Leiden und Tod und ist ein christliches Symbol für die Jungfrau Maria als auch für Jesus Christus. In Joseph Beuys' Bureau für direkte Demokratie stand stets in einem Glas eine Rose und er sagte dazu: "Ohne die Rose tun wir's nicht, da können wir gar nicht denken." Für ihn war die Rose ein Symbol organischen Wachstums und der Entwicklung. Victor Grippo kannte als Chemiker auch die Mutter der Chemie, die mittelalterliche Alchemie, deren Ziel darin bestand, Materie in Gold zu verwandeln. Dabei ging es eigentlich nicht um das Gold und den damit verbundenen materiellen Reichtum, sondern um das Erreichen der höchsten Stufe, die durch das edelste aller Elemente verkörpert werden sollte - Sinnbild und Abglanz des Göttlichen - wie auf den mittelalterlichen Tafelaltären.
Für Grippo ist die Alchemie ein metaphorisches Modell und der Künstler die Inkarnation des Alchemisten, der im Stande ist, aus alltäglichen Materialien durch Transsubstantiation ein Kunstwerk zu schaffen. [Barbara Richarz-Riedl]
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