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Magazin für Theologie und Ästhetik



Jeff Wall, Der unsichtbare Mann, Fridericianum - Documenta11

Die Präsentation der inszenierten Fotographie von Jeff Wall, aufgespannt in einem 2,40m hohen und 3,20m breiten weithin sichtbaren metallgerahmten Leuchtkasten im ersten Stock des Fridericianums ist die Inszenierung der Geschichte eines jungen schwarzen Amerikaners und seiner Suche nach der eigenen Identität. In seinem exzellenten, 1952 erschienenen Roman "Invisible Man" hat Ralph Ellison die Geschichte in einer Ich-Erzählung inszeniert. Ellison versucht in seinem Buch - im Gegensatz zur Bürgerrechtsbewegung - die Identitätssuche des jungen Schwarzen nicht von seiner Hautfarbe, sondern von den kulturellen Bedingungen her, unter denen er aufgewachsen ist, zu beschreiben. Schon der Beginn des Buches erzählt vom Protagonisten: "Ich bin ein Unsichtbarer. Nein, keine jener Spukgestalten, die Egar Allan Poe heimsuchten, auch keins jener Kino-Ektoplasmen, wie sie in Hollywood hergestellt werden, Ich bin ein wirklicher Mensch, aus Fleisch und Knochen, aus Nerven und Flüssigkeit - man könnte vielleicht sogar sagen, dass ich Verstand habe. Aber trotzdem bin ich unsichtbar - weil man mich einfach nicht sehen will ... Wer sich mir nähert, sieht nur meine Umgebung, sich selbst oder die Produkte seiner Phantasie - ja, alles sieht er, alles, nur nicht mich."

Jeff Wall greift diesen Abschnitt aus dem Roman auf, der in der Beschreibung gipfelt, was unter "unsichtbar" zu verstehen ist: die Unsichtbarkeit des Menschen ist ein Problem der Konstruktion des inneren Auge des Betrachters. Niemals erkennt der Betrachter die Individualität des anderen, sondern er sieht ihn als eine Puppe oder als sein Werkzeug an. Die platonische Vorstellung, dass man nicht mit den Augen, sondern durch sie hindurch sieht, daß es vom "Bau der inneren Augen" abhängt, was man durch das "körperliche Auge" als Wirklichkeit wahrnimmt, wird zum Topos dieses ersten Abschnitts.

In einem zweiten von Jeff Wall aufgegriffenen Abschnitt geht es um die Wahrheit. Licht ist Wahrheit und daher braucht der Protagonist Licht, auch wenn er die Energie, die er für die aufgehängten 1369 Lampen in seiner Kellerwohnung in Harlem benutzt, durch das Anzapfen der Leitung von der Elektrizitätsgesellschaft stiehlt. Es heißt, dass der junge Schwarze "die Dunkelheit des Lichts" sehen kann. "Licht bestätigt meine Realität, gebiert meine Gestalt". Da der Protagonist erkannt hat, dass er bisher zu feige gewesen ist, den ihm eigenen Prozess der Individuation und den Weg der Befreiung zu sich selbst zu gehen, versucht er, wie ein Bär in einer warmen Höhle, in der fensterlosen Kellerwohnung in einen "Winterschlaf" zu verfallen. Dort will er sich selbst im Licht der vielen Lampen und im Sog von Musik ausbrüten. Am Ende möchte er wie "ein Osterküken" ausschlüpfen, um seiner eigenen Existenz und Freiheit gewiss zu sein.

Es ist der zweite, 1999 unternommene Versuch von Jeff Wall, eine Erzählung im Medium des Leuchtkasten zu illuminieren, zu inszenieren und damit als Inspirationsquelle zu benutzen. Seine Inszenierung der Geschichte des jungen Schwarzen mit dem Medium der Fotographie ist eine Übersetzung der Geschichte in "die verbreitetste Sprache unserer Zivilisation" (Gisèle Freund). In einem Leuchtkasten erscheint die Geschichte einerseits - wie das Alltagsrequisit der Werbung - als flüchtig wahrgenommenes Geschehen, andererseits ist der Leuchtkasten - ein Wissenschaftsutensil zum Erkennen einer Röntgenaufnahme - ein untrügliches Mittel, um dieser amerikanischen Identitätssuche eines Schwarzen auf den Grund zu gehen.

Der kanadische Künstler hat das Bild, das er nach dem Romantitel "Invisible Man" benennt, am Computertisch Stück für Stück zuammen gesetzt, hat die Nähte und Narben entfernt und eine "Fotographie" erzeugt, die die Anteilnahme des Künstlers an dem Geschehen zeigt und gleichzeitig den Betrachter fasziniert. Er benutzt diese Bildherstellung, um der Erzählung einen neuen Hintergrund und eine Deutung zu geben: denn so kann er das Flüchtige und Zufällige des modernen Alltags mit einem Moment, einem Zipfel des Ewigen verbinden. Ohne diese "Beleuchtung" würde diese Erzählung zerfließen, genauso wie ohne Licht der Farbige in seinem Kellerversteck zu einem Schatten oder Gespenst werden würde. Die "Fotographie", die den Eindruck erweckt, als ob Jeff Wall gerade selbst die vollgestellte Kellerwohnung betreten würde und den jungen Schwarzen beim Kochtopfreinigen überrascht, lässt den Akt der "Reinigung" durch das zur Obsession gewordene Licht spüren. Sie lässt uns einen Blick auf den "unsichtbaren Mann" werfen, der versucht, zur Besinnung zu kommen, ein anderer zu werden, sein Leben neu zu leben und sein Sich-selbst-fühlen zu spüren.

Die Hängung der Arbeit von Jeff Wall im Fridericianum durch Okwui Enwezor ist eine Hommage an den Künstler: Licht, Raum, Architektur sind so komponiert, dass der Betrachter einen Wink erhält, dass hier ein Künstler am Wirken ist, der eine Geschichte geschaffen hat, die uns in unserem modernen Leben unbedingt angeht. Durch die betonte Hängung geht ein Sog hin zu diesem Leuchtkastenbild.

Leider ist Jeff Wall mit einem neuen, für die Documenta11 konzipierten Werk nicht fertig geworden und wollte daher auch nicht ein weiteres vorgesehenes Werk, ein Frühwerk, zur Documenta11 ausgestellt wissen. Ein Qualitätsmerkmal des künstlerischen Schaffens von Jeff Wall wäre durch diese zwei weiteren Werke sichtbar geworden: Seine künstlerische Arbeit ist ein "work in progress". Dass Jeff Wall sich dadurch jetzt den Raum mit David Goldblatt teilen muss, stört ihn sicherlich nicht. [Ernst Wittekindt]