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Magazin für Theologie und Ästhetik


Videoclips XIII

Identität(en). Die Verwirrspiele von Aphex Twin

Andreas Mertin

Richard Dick James alias Aphex Twin ist ein höchst interessanter wie umstrittener Experimentator, und das gilt sowohl für seine Musik als auch für deren visuelle Umsetzung durch verschiedene Regisseure. Während aber "On" unter der Regie von Javis Cocker und Martin Wallace 1993 noch im Bilddexperiment befangen blieb (man sieht vor allem eine animierte dadaistische Collage von Einzelbildern) gehen die später von Chris Cunnigham realisierten Clips zu "Come to daddy" und "Window Licker" weit über das rein Experimentelle hinaus, insofern sie sich mit Grundfragen der Identität des Menschen, seinem Ich-Verhältnis, seinen Ängsten, seiner Körperlichkeit beschäftigen.

Aphex Twin, Come to daddy (1997)

Verlassene Trabantenstädte und Hochhaussiedlungen sind der Kontext, in dem "Come to daddy" von Aphex Twin unter der Regie von Chris Cunnigham spielt. Der Betrachter sieht leere Betonburgen und eine ältere Frau, die mit ihrem Hund durch die Straßen läuft. Der Hund zerrt an der Leine. Die Umgebung ist gefüllt mit Straßenabfällen und Schrott. Die ältere Frau stößt auf einen umgekippten Einkaufswagen, aus dem ein scheinbar defekter Fernseher gefallen ist. Die Frau scheint aus dunklen Hauseingängen belauert zu werden, sie blickt sich furchtsam um. Der Hund pinkelt an den Fernseher, der daraufhin überraschend "zum Leben erwacht" und ein verzerrtes elektronisches Horrorgesicht zeigt, das sagt: "I want your soul. I will eat your soul." Der Hund bellt und reißt an der Leine, die Frau muss ihn loslassen und flüchtet in einen Hofeingang. Dort trifft sie zu ihrem Entsetzen auf eine Schar kleiner Freaks, Kinderklone mit immer gleichen Erwachsenengesichtern, die durch die Hinterhöfe laufen und Angst und Schrecken verbreiten. Ihr Ziel ist der scheinbar defekte Fernseher, auf dem nun das verzerrte Horrorgesicht vernehmlich die Worte "Come to daddy" wiederholt. Die Kinder greifen sich den Fernseher und laufen mit ihm durch die Hinterhöfe und vertreiben einen jungen Mann, der panisch in seinen PKW flüchtet. Im Hintergrund hört man die ganze Zeit elektronisch verzerrte Musik. An einer Stelle unterbricht sie und wird ersetzt durch Fragmente eines Kinderliedes. Dazu laufen zwei Klon-Kinder aus einer Hofeinfahrt heraus. Dann setzt die elektronisch verzerrte Musik wieder ein, die Kinderbande zerstört systematisch alles, was sie in der unwirtlichen Umwelt vorfindet. Sie streiten und prügeln sich, der Fernseher poltert zu Boden und entwickelt plötzlich ein Eigenleben. Eine hagere menschliche Horrorgestalt wird aus der Bildschirmoberfläche heraus geboren und ihr Geburtsschrei mischt sich mit dem Entsetzensschrei der älteren Frau, der sie plötzlich frontal gegenübersteht. Ein kakophonisches Schrei-Duell/Duett entsteht. In der nächsten Sequenz sieht man, wie die gerade geborene Gestalt die Klonkinder, die alle ihre verkleinerten Ebenbilder sind, freundlich-zärtlich um sich versammelt. In der Folge überlagern und durchdringen sich die Bilder, ihr narrativer Gehalt wird durch eine nun endgültig nicht mehr kontrollierbare Bilderflut abgelöst.

Natürlich spielt der Clip mit unseren Albträumen, mit der real erlebten und dann nächtlich verarbeiteten Angst in einsamen Straßen einer Großstadt oder traumatisch erfahrenen Begegnungen mit realem Entsetzen. Auf der anderen Seite greift er bewusst auf narrative Traditionen zurück, die schon seit Jahrhunderten derartige Ängste bearbeiten, wie z.B. die skandinavischen Erzählungen von dämonischen Trollen. Meines Erachtens liegt der Horror aber weniger in jenen Szenen, die die verzerrten Gestalten zeigen (hier zeigt der Clip sogar ausgesprochene Schwächen, wenn er etwa szenisch Elemente des Werwolf-Genres aufgreift), sondern gerade in jener Sequenz, die aus dem Horrorszenario ausbricht und nur das Fragment des Kinderliedes ertönen lässt. Im Kontext des Schrecklichen ist das wahrhaft Befremdende die Abweichung, die scheinbare Idylle, die von noch viel größerem Grauen kündet. Was hinter/unter der Oberfläche (des Bildschirms, der Apparatur, des Alltags, der Idylle) lauert, ist nur schwer abzusehen und bereitet um so mehr Angst.

In der pädagogischen Bearbeitung kann der Clip dort bearbeitet werden, wo es um Angst und Gewalt, um Albträume und ihre Verarbeitung geht. Weitere Informationen und viele Stills finden sich unter http://www.director-file.com/cunningham/526.html

Aphex Twin, Window Licker (1999)

Als rassistisch und sexistisch bezeichnet wurde der Clip zu "Window Licker" von Aphex Twin, ebenfalls unter der Regie von Chris Cunningham realisiert. Und natürlich ist der Clip durchaus "rassistisch" und "sexistisch", insofern die mediale Reflexion/Brechung von Rassismus und Sexismus auch ein Spiegelbild des Reflektierten ist. Gegenüber den sexistischen und rassistischen Anwürfen hat Cunnigham relativierend gesagt: "The influence behind [Windlowlicker] was cartoon, and everything in cartoons is a stereotype. Anybody who thinks about it on any other level is just wasting their energy." Im Kern geht es um die satirisch-ironische Bearbeitung/Inversion von Geschlechterverhältnissen, um Körperlichkeit, um unmögliche und doch erstrebte Identität(en), um Weiße, die als Schwarze auftreten und Rollenklischees, wie sie von den Clips der Rap-Szene verbreitet werden. Der Clip trieft von Ironie und Witz, er ist zugleich aber auch aggressiv und verstörend, man kann sich nicht - wie von Cunningham vorgeschlagen - auf die ironische Ebene zurückziehen, sondern wird von der Frage der sexuellen und ethnischen Identität direkt getroffen. Nur wenig Verbindung gibt es zwischen der Musik, für die der Clip ja Werbung machen soll, und dem Geschehen im Clip. Das aber ist natürlich Absicht, das Video ist ein Eyecatcher, der das Stück ins Bewußtsein bringen soll.

Im Clip sieht man zwei Schwarze, die im PKW durch die Straßen fahren und auf der Suche nach Mädchen sind. Dabei unterhalten sie sich im aggressivsten Slang, machen sich gegenseitig an und beleidigen sich permanent, ohne dass es wirklich Beleidigungen wären, weil es zu ihrem normalen Kommunikationsstil gehört. Mitten drin legen sie eine Musikkassette ein, "Window Licker" von Aphex Twin - weiße Musik. Sie stoßen dann auf zwei schwarze Mädchen, die am Rand der Straße stehen, und es entspinnt sich im selben Jargon ein Gespräch über Sex, Begehren, Attraktivität und Reichtum.

Plötzlich werden die beiden schwarzen Jungen in ihrem Wagen von einer unglaublich langen Stretch-Limousine beiseitegeschoben, die genau vor den Mädchen hält und sie in die komfortable Limousine einlädt. Der Limousine entsteigt Aphex Twin, der dann einen rasanten Tanz im exakt kopierten Michael-Jackson-Stil hinlegt. Der männliche Weiße gewinnt im Rock/Rap des Schwarzen die schwarze weibliche Sexualität für sich. In der Stretch-Limousine verkehren sich nun munter die Geschlechter und Identitäten, und wie schon in "Come to daddy" erscheinen die Gesichter der Handlungsfiguren als Klone von Aphex Twin. Liebe erweist sich im Wesentlichen als Selbstliebe. Dabei wie auch auf der sich anschließenden Party am Strand zeigt die sexuelle Attraktion zunehmend ihre fratzenhafte Kehrseite.

Aphex Twin öffnet schließlich ostentativ eine Champagnerflasche, deren Schaum sich penetrant über die Körper der tanzenden Klonwesen ergießt, deren Identitäten und Geschlechter schon lange nicht mehr zu identifizieren sind.

In der pädagogischen Bearbeitung erweist der Videoclip dort seine Stärke, wo er Rollen- und Geschlechterklischees persifliert, und dabei zugleich jede Form der Beruhigung durch pädagogisch erzielte Geschlechteraufklärung subtil unterläuft. Weitere Informationen und viele Stills finden sich unter http://www.director-file.com/cunningham/522.html


© Andreas Mertin 2002
Magazin für Theologie und Ästhetik 19/2002
https://www.theomag.de/19/am62.htm