Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Magazin für Theologie und Ästhetik


Weltkunstausstellung

Ein Rückblick auf die documenta11

Andreas Mertin

Eintritt

Wer im Sommer 2002 zur documenta11 nach Kassel mit der Erwartung gereist war, dort die neuesten Entwicklungen der Gegenwartskunst kennenzulernen und sich auf den aktuellen Stand des "Betriebssystems Kunst" zu bringen, wurde enttäuscht. Wenn er auf große Kunst traf, war sie ihm in der Regel schon seit vielen Jahren bekannt (Leon Golub, Louise Bourgeois, On Kawara, Hanne Darboven u.v.m.). Darüber hinaus irritierten eine Überfülle von Film- und Fotodokumentationen, gab es zu viele Kunstwerke, die eher historisch und dokumentarisch, denn zeitgenössisch waren, und es störte die betonte Vernachlässigung ganzer Kunstsparten wie etwa der Malerei. Für den Besucher mit einem überlieferten europäischen Kunstbegriff musste diese Ausstellung also notwendig desillusionierend sein. Nach der documenta 10 war das nicht ganz überraschend, aber mancher hatte wohl doch gehofft, dass nach der theorieüberfrachteten Vorstellung des Jahres 1997 nun am Beginn des neuen Jahrtausends neue Kunst und neue Perspektiven präsentiert werden würden. Und letztlich wurde man in dieser Erwartung ja auch nicht enttäuscht, aber es waren eben andere Perspektiven als gedacht.

Bisher gab es keine documenta, die nicht auch heftig umstritten war, kaum eine, die nicht nach fünf Jahren in Relation zur jeweils neuesten verklärt wurde. Neben der Präsentation von Gegenwartskunst ist und war es immer auch eine Aufgabe der jeweiligen documenta, Diskussionen anzustoßen über den Stellenwert und die Bedeutung der Kunst in der Gesellschaft. Und unbestreitbar hat die documenta11 genau das in überraschend produktiver Weise erreicht.

Postkoloniale Kunst

Die Berufung Okwui Enwezors hatte viele Erwartungen und Hoffnungen geweckt, einen neuen Blick auf die Kunst der Welt zu bekommen. Ein gewisses exotisches Interesse, vielleicht auch die uneingestandene Hoffnung, eine stagnierende Westkunst mit neuen Impulsen auszustatten. Der in New York lebende Nigerianer war 1997 als Kurator der 2. Biennale von Johannesburg und durch seine zahlreichen Beiträge zur zeitgenössischen afrikanischen Kunst bekannt geworden. Daher schien er die ideale Besetzung zu sein, die das theoretische Konzept der documenta X nun hätte konkrete Kunstpraxis werden lassen können. Enwezor allerdings machte von Anfang an deutlich, dass er nicht Willens sei, der nordatlantischen Kunstwelt noch einmal neue Impulse zu vermitteln, die dann umstandslos in den Kunstbetrieb integriert werden können. Statt dessen dekonstruierte er die moderne Kunst als eine historisch gewordene, aber nicht zwingende und vor allem auch koloniale Form der Kunst. Die bürgerliche Idee der Autonomie der Kunst, so formulierte es einer der zahlreichen Kommentatoren, wurde auf dieser documenta "geschlachtet".

Enwezor möchte dagegen die "Wissensproduktion als Teil der Ausstellungspraxis" darlegen, er will im Medium der Künste die politischen und sozialen Probleme der heutigen Welt aufzeigen. Nicht der Stand der Kunst, sondern der Stand der Welt in der Kunst ist sein Erkenntnisziel. Kunst soll so öffentlich als eine aktive Form kulturellen Handelns wahrgenommen werden. Das verschiebt den Fokus weg von der kontemplativen Arbeit hin zur dokumentarischen Intervention. Der Kunstcharakter ist letztlich sekundär, so dass auch Computerwissenschaftler ihre Objekte präsentieren können. Die Gleichberechtigung der Präsentation verschiedener Objekte war jedenfalls auffallend.

Vielleicht ist die Arbeit des Beniner Künstlers Georges Adéagbo in der Binding-Brauerei ein gutes Beispiel für diese Veränderung. Wer seinen Raum betrat, stieß auf eine kaum überschaubare Sammlung von Dokumenten, die sorgfältig im Raum arrangiert waren. Texte und Bilder zur documenta lagen neben persönlichen Aufzeichnungen oder religiösen Reliquien in eine Reihe. Harald Fricke schrieb über diese Arbeit in der TAZ: "Auch Adéagbo entscheidet über die Auswahl seiner "Entdeckungen", verzichtet aber auf Hierarchien, sodass - fast wie im Leben - alle durcheinander reden. Denn Adéagbo respektiert das Palaver, die vermeintliche Ordnung ist bei ihm ein Balanceakt mit dem Material, das er anhäuft; die fortwährende Diffusion spiegelt wider, dass es außer dem Arrangement keine Logik gibt, die die Informationsschichten zusammenhält. Das ist die Natur der Zivilisation, ob in Afrika oder Europa: Das Räderwerk der Kommunikation steht nie still." Die in diesem Kontext immer wieder genannte Idee des Archivs, welche diese documenta geprägt habe, ist so gesehen irreführend, stellt sie doch den Versuch dar, erneut leitende Begriffe der Qualifizierung von Kunst einzuführen.

Es gab aber auch einen Preis, der dafür zu entrichten war: ohne Erläuterung des Konzepts des Künstlers, ohne Einführung in die Anlage der documenta, ohne Hintergrundwissen war die documenta nicht verstehbar. Jeff Walls beeindruckende Arbeit "The invisible man" etwa war im Kontext der documenta ohne die literarische Bezugnahme auf Ralph Ellison gleichnamigen Literaturklassiker kaum zu lesen. Viele Werke erschlossen sich in ihrer Auswahl bzw. in ihrer Anlage nur durch sekundäre Informationen. Nicht zuletzt deshalb die erschlagende Menge an geschulten Guides, die die offizielle Lesart der gezeigten Werke vermitteln sollten, nicht zuletzt deshalb die Menge an Besuchern, die weniger sehend als vielmehr den Kurzführer lesend durch die Gänge liefen.

Der zerstreute Blick

Die Geste des Wanderns, die der Besucher einer documenta in Kassel ja immer schon pflegen musste, wurde durch die Einbindung der Binding-Brauerei noch intensiviert. Es war eine documenta, die mit weniger als drei Besuchstagen auch nicht annähernd zu erschließen war (ganz abgesehen von der Zeit, die der wiederum dickleibige Documenta-Katalog erfordert, den Okwui Enwezor als Pflichtlektüre für das Verständnis seiner Ausstellung ansah.)

Aber in einem ganz anderen Sinne wurde "Wandern" zu einem Charakteristikum der d11, denn die ausgestellten Video- und Filmarbeiten zwangen die Besucher zur Pflege des zerstreuten Blicks. Niemand konnte ernsthaft Werke wie Craig Horsfields zehnstündige Videoarbeit oder die sechsstündige Filmvorführung von Ulrike Oettinger auch nur annähernd erfassen. Es blieb beim zappenden Blick auf diverse Werkausschnitte. Das berühmte bürgerliche Gespräch vor dem und über das Kunstwerk selbst wurde so unmöglich: Ich sah etwas, was Du nicht sahst.

Und doch: Es war eine überzeugende documenta, wenn auch vielleicht weniger wegen der gezeigten Werke (hier dürfte manche frühere documenta Eindrücklicheres präsentiert haben), sondern wegen der Nachdrücklichkeit der vorgetragenen These. Enwezors Versuch aufzuzeigen "wie man im Globalen einen Weg findet, die Idee der Weltbürgerschaft oder Kulturbürgerschaft zu artikulieren" ist bedenkenswert.

Ob Enwezor und seine Ko-Kuratoren mit dieser nun schon fast wieder idealistisch zu nennenden Perspektive recht behalten, wird sich noch zeigen. Manches gewichtige Argument spricht dafür, den Gang der nordatlantischen Moderne nicht so niedrig zu bewerten, wie dies die Veranstalter der documenta11 getan haben. Vieles spricht dafür, die Sparten der Kunst angemessener zu berücksichtigen, als dies die documenta11 etwa mit ihrer Missachtung der Malerei getan hat. Diese Korrektur des Blicks wird aber allein schon vom "Betriebssystem Kunst" vorgenommen werden, zu dem eben auch Galerien, Museen, Sammlungen und konkurrierende Ausstellungskuratoren gehören.


© Andreas Mertin 2002
Magazin für Theologie und Ästhetik 19/2002
https://www.theomag.de/19/am65.htm

 
Der  Buch-per-Klick-Bestell-Service
documenta11. Plattform 5, Ausstellung. Katalog
documenta11. Plattform 5, Ausstellung. Bildband