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Magazin für Theologie und Ästhetik


Die Geste des Pfeifenrauchens

Vilém Flussers Lehrstück über Kunst und Religion

Andreas Mertin

Pfeifenrauchen

In zunächst paradox anmutender Weise hat Vilém Flusser sich in seinem höchst lesenswerten Buch "Gesten. Versuch einer Phänomenologie" dem Thema Kunst und Religion genähert. In einer phänomenologischen Reflexion der "Geste des Pfeifenrauchens" bestimmt Flusser diese als "eine weitgehend rituelle Geste" [208], die paradigmatischen Charakter für andere rituelle Gesten habe. Flusser wählt das "Pfeifenrauchen", weil es im Gegensatz zu den Handlungsfeldern "Kunst" oder "Religion" zweckfrei, profan und ideologisch nicht besetzt ist. Pfeifenrauchen sei eine stereotype Handlung, "deren allgemeine Struktur feststeht und die ausgeführt wird, um diese allgemeine Struktur zu verwirklichen, und nicht, um einen über die Struktur hinausweisenden Zweck zu verfolgen" [212]; Pfeifenrauchen ist eine Handlung, "die ein verfügbares Modell verwirklicht" [213]. Wie das Modell verwirklicht wird, ist dann eine Frage des Stils, "eine ästhetische Frage" [213]. Aus seinen phänomenologischen Beobachtungen zieht Flusser weitgehende Konsequenzen: das Charakteristische der rituellen Handlung ist ihr Selbstzweck, jede kommunikative Absicht, jeder ethische Aspekt, jedes magische Moment verunreinigt nur den Ritus. "In Wirklichkeit raucht man Pfeife und kommuniziert in der Kirche und wäscht sich rituell die Hände, um innerhalb eines verfügbaren Verhaltensmodells eine Geste zu vollführen" [214].

Lebensform

Flussers These lautet, "dass es eine ästhetische Daseinsform gibt, das künstlerische Leben, und dass sich dieses Leben in verschiedenen Gesten, darunter auch in rituellen äußert. Nicht die Kunst ist eine Art von Ritus, sondern der Ritus eine Kunstform ... die Kunst (wird) so als eine Daseinskategorie aufgefasst ..., innerhalb derer sich Phänomene wie Riten, Musik, Malerei, Dichtung ereignen. Nicht also wird, wie gewöhnlich, behauptet, das künstlerische Leben sei eine der Lebensformen, neben der das politische Leben, das wissenschaftliche Leben oder das religiöse Leben stehen, oder gar, das künstlerische Leben sei irgendwie dem religiösen untergeordnet (Kierkegaard), sondern es wird ungewöhnlicherweise behauptet, das religiöse Leben, soweit man darunter ein rituelles Leben versteht, sei eine der Arten der künstlerischen Lebensform" [216]. Rituelle Gesten, so macht Flusser deutlich, werden ausgeführt, weil sie Vergnügen bereiten, "weil es eine Geste ist, in der man sich auslebt. Ausleben meint dabei insbesondere "die eigene, ganz spezifische und mit keiner anderen vergleichbaren Existenz aus sich selbst hinauszuprojizieren" [220f.], die rituelle Geste befähigt, "sich im eigenen Stil in der Welt zu erkennen" [221].

Kunst und Religion

Am Beispiel der "Negerkunst" beschreibt Flusser das Ineinandergreifen von rituellem Gestus, Kunst und Religion. "Die Negerkunst ist Selbstzweck; man trommelt, weil das Trommeln Vergnügen bereitet, weil man sich in dieser Geste findet ... Gerade dieses Sich-selbst-Erkennen in der Welt fordert jedoch den Gott heraus niederzufahren. Genau besehen, erscheint der Gott nicht im Rhythmus der Trommel, sondern in der Selbsterkenntnis, die dank der ästhetischen Geste gewonnen wurde. Der Gott ist ein ästhetisches Phänomen, das heißt, er ist eines der Erlebnisse, die man hat, wenn man sich auslebt ... Wenn man aber das Interesse an Gott das religiöse Interesse nennt, dann muss man das religiöse Leben als eine Variante des künstlerischen ansehen ... Nur in der ästhetischen Geste kann ich religiöses Erleben haben, denn in dieser Geste erlebe ich mich selbst, das heißt, ich habe Erkenntnis" [225f.]. Die Geste des Pfeifenrauchens, an der diese Erkenntnisse gewonnen wurden, ist nur deshalb kein religiöses Phänomen, weil dieses sich auf das ganze Dasein bezieht: "Das Religiöse steckt so tief, dass es nur erlebt werden kann, wenn die rituelle Geste das ganze Dasein mobilisiert, nicht nur, wie beim Pfeifenrauchen, einen seiner Aspekte" [229]. Aber "durch das Pfeifenrauchen hindurch erkennt man so das Wesentliche am rituellen Leben: sich dem religiösen Erleben durch rein ästhetische, also absurde Gesten zu öffnen" [231].

Sich ausleben

Es liegt auf der Hand, dass Flussers Phänomenologie nicht auf alle Phänomene der von ihm behandelten Handlungsfelder zutrifft. So muss er selbst einräumen, dass seine Beschreibung an der westlichen Kunst spätestens des 20. Jahrhunderts vorbeigeht: Kunst bestimmt er als jene "Geste, durch die sich das Dasein auslebt, indem es sich freiwillig und absichtslos innerhalb eines dazu gewählten Parameters ausdrückt" [222]. In der okzidentalen Geschichte sei dagegen zunehmend das Wesen des Künstlerischen verkannt worden, es sei in Arbeit und Kommunikation aufgegangen: "Im Westen ist Kunst zu einer Art Arbeit geworden, die, wie jede Arbeit, auf ein Werk abzielt ... Zugleich aber ist im Westen Kunst zu einer Art Kommunikationsmethode geworden, die, wie jede Kommunikation, den anderen etwas mitteilt" [222f.]. Ebenso dürfte das Phänomen der Offenbarungsreligion seiner Beschreibung geradezu diametral entgegengesetzt sein, auch wenn er das Judentum und die Prophetie als Belege seiner Beobachtungen anführt. Eher artikuliert Flusser einen Religionsbegriff, der dem bürgerlichen Selbstwertgefühl und seinem Kulturschaffen entspricht. Andererseits liefert Flusser eine Bestimmung der neuzeitlichen bürgerlichen Religion und auch einiger Aspekte des künstlerisch Tätigwerdens (vor allem in der Freizeitindustrie). Folgt man seiner Phänomenologie, gibt es ein ästhetisches Kulturphänomen, das als "sich-ausleben-des Menschen" bestimmen werden kann und mit dem bestimmte Kulturerscheinungen wie etwa Religiosität, künstlerische Aktivitäten im allgemeinen Sinn und auch das "Oberflächenphänomen" Pfeifenrauchen als Gesten erfassbar sind. Von diesem Kulturphänomen sind allerdings Phänomene wie die Offenbarungsreligion (durch ihren Widerfahrnischarakter) und die westlich geprägte Hochkunst (durch ihre Elaboriertheit) zu unterscheiden.

Ethik - Ästhetik

Die Kritik an der esoterischen Kunst durch Flusser basiert auf einer Unterscheidung dreier Gesten: Arbeitsgesten, Kommunikationsgesten und rituelle Gesten; von da aus lassen sich drei Lebensformen differenzieren: das arbeitende, das kommunizierende und das rituelle Dasein [217]. Im Blick auf das Verhältnis von Ethik und Ästhetik, Kunst und Religion bedeutet dies: "Die Wissenschaft ist eine mögliche Folge der Arbeit, Ethik und Politik sind mögliche Folgen der Kommunikation, und die Religion ist eine mögliche Folge der Kunst" [226]. Kunst ist so per definitionem der Kommunikation und der Arbeit entgegengesetzt. Jede Beziehung zur Gesellschaft führt zur "Verunreinigung". So ist Magie "das Übergreifen der künstlerischen Geste auf nichtkünstlerische Gebiete" [227]. Reiner Ritus sei dagegen nicht magisch, "weil die rituelle Geste das Gebiet des künstlerischen Lebens nicht überschreitet" [228]. Letztlich terminiert Kunst im l'art pour l'art, ohne dass eine Souveränität der Kunst anders denn als (magische) Abweichung gedacht werden kann. Zugleich wird die Religion von der Ethik abgekoppelt, als Form des "sich-auslebens-des-Menschen" ist sie nicht handlungsorientiert, sondern - wie die Kunst bzw. als Form der Kunst - autoreferentiell. Ethik ist ein handlungsorientiertes Geschehen, Religion dagegen eine Form des "sich-selbst-Lebens". Auf diese Weise wird Religion zum Lebensstil.

Kritik

Einen Vorteil der Phänomenologie Flussers am Beispiel des Pfeifenrauchens sehe ich in der Bereitstellung einer Begrifflichkeit, die das Gemeinsame bestimmter Gesten herausarbeitet, die bis ins 20. Jahrhundert lebensweltlich wirksam sind bzw. hier erst richtig wirksam geworden sind. Man wird nicht übersehen können, dass das, was in der Kultursoziologie der Gegenwart als "Erlebnisgesellschaft" beschrieben wird, und was im einzelnen etwa unter die Religionskritik Karl Barths oder die Kulturkritik Theodor W. Adornos gefallen wäre, in der Phänomenologie Flussers seinen genauen Ausdruck findet. Die Ausdifferenzierungen der Moderne erzeugen ein Vakuum, innerhalb dessen deren Regeln (z.B. Spezialisierung, Professionalisierung) nicht mehr gelten sollen und deren einzige Regel das "sich-selbst-ausleben" ist. Dieser Bereich der "Authentizität" unterliegt weder ästhetischen Kriterien im Sinne der westlichen Hochkultur noch ethischen Kriterien im Sinne von Verallgemeinerbarkeit. Freilich tragen Flussers Beobachtungen nichts zur Erhellung des Verhältnisses der ausdifferenzierten elaborierten Diskurse zueinander bei, sie bleiben allemal auf der Ebene lebensweltlicher Reflexionen. Seine phänomenale Klassifikation kann das Zusammenspiel von Arbeitsgesten, Kommunikationsgesten und rituellen Gesten nur als eine Form von Simultaneität beschreiben: "tatsächlich führt ein jeder von uns alle drei Typen von Gesten ständig aus, und jeder Typ besitzt auch Aspekte der beiden anderen. Wir sind, mit anderen Worten, da, indem wir uns immer zugleich gegenüber der Welt (Arbeit), den anderen (Kommunikation) und uns selbst stilisieren (Ritus)" [218]. Unterbrechungen durch ästhetische Souveränität sind in diesem Diskursmodell nicht vorgesehen.


© Andreas Mertin 2002
Magazin für Theologie und Ästhetik 19/2002
https://www.theomag.de/19/am66.htm