Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Magazin für Theologie und Ästhetik


White Cube I

Ausstellungskritiken

Andreas Mertin

Museutopia. Schritte in andere Welten

"Das Streben der Menschheit ist es, über sich hinauszuwachsen. Jede Tätigkeit, in der sich dieser Wille kundgibt, ist Kunst. Wir treiben also Kunst, um die Menschheit zu heben" - diese Worte, die vermutlich ebenso gut aus dem Munde des Leiters der documenta11, Okwui Enwezor, hätten stammen können, gehören zum literarischen Vermächtnis des Mäzens Karl Ernst Osthaus, der 1902 im westfälischen Hagen das Museum Folkwang gründete.[1] 100 Jahre nach der Gründung fragt das Karl Ernst Osthaus-Museum nach der Aktualität seiner Ideen, nicht zuletzt "welche Bedeutung das Museum für Moderne Kunst für unsere Gesellschaft haben kann" - das wiederum hätte Enwezor weniger interessiert; wie er trotz mancher Ähnlichkeit der Fragestellung (und der Künstler) die Intentionen dieser Ausstellung vermutlich nicht geteilt hätte.

Vom 11. Juni bis zum 15. Oktober inszenieren die Kuratoren innerhalb des Museums einen "utopischen Staat", in dem über "grundlegende Fragen des menschlichen Lebens" nachgedacht wird. Das Museum wird so zum Ort der Wissensproduktion. Und dennoch: "Die Wahrheit, die MUSEUTOPIA befördern wird, ist die des autonomen Kunstwerks."

Die Thematisierung (und gleichzeitige Historisierung[2]) des Utopischen in Zeiten, in denen die "Kunst der Resignation" (Franz Josef Wetz[3]) und damit der Sinn-Losigkeit der Welt gepflegt wird, ist ein mutiges und wie die Resultate zeigen, auch ein lohnenswertes Unternehmen. Eingeladen haben die Kuratoren zahlreiche internationale KünstlerInnen zu den Themen "Das Verhältnis zwischen den Geschlechtern - Verhältnis zum Körper - Bildung und Erziehung - Selbstverständnis und Körperlichkeit - Altern und Krankheit - Geburt und Tod - Ernährung und Ernähren - Kleidung und Stil - Konstruktion von und Umgang mit Wissen - Entwicklung und Innovation - Netzwerke von Wissenschaft und Künsten - Vergegenständlichung ohne Arbeit - Identitätsbildung - Soziale Fragen - Austauschprozesse - Umgang mit Ressourcen - Verhältnis zur Natur - Werte und Besitz - Soziale Institutionen - Kommunikation und Vermittlung - Mythos, Religion, Kosmologie und Geschichte". Unter den präsentierten Arbeiten, die durchweg hohes Niveau haben, seien einige explizit benannt.

Gleich zu Beginn stößt der Besucher auf den ersten Teil der die Ausstellung in einem gewissen Sinne strukturierenden Arbeit(en) von MARK DION: "Für das Osthaus-Museum hat Dion ein modernes Studiolo als eine Reihe begeh- und nutzbarer Skulpturen konzipiert, die Archetypen utopischen Denkens zur Anschauung bringen und auf wunderbare Weise biblisches, kabbalistisches, mittelalterliches und modernes Denken verschmelzen." Das konkretisiert sich so, dass der Besucher verteilt über die gesamte Ausstellungsfläche Seven Lamps of Utopia findet und zwar folgende: das Paradies, die Arche, das Kloster, der Tempel, das Labyrinth, die Pyramide und der Turm zu Babel. Faktisch erweisen sich diese sieben Lampen als eine Art enzyklopädisches Archiv, das Motive und Elemente zum jeweiligen Thema versammelt. So präsentiert das Paradies ein menschliches Skelett, während sich das Kloster als Bibliothek im Halbrund (s. Abb.) erweist, welche ausgewählte Werke utopischen Denkens, der Utopieforschung und der Darstellung des Utopischen enthält. Zugänglich ist diese wie auch alle anderen aufgestellten Lampen der utopischen Erkenntnis[4] allerdings nur bedingt.

Der SALON DE FLEURUS stellt ein Modell eines Museums vor, das Kopien herausragender Werke der Moderne enthält: "Mit seinem Beitrag Museum of the Museum of Modern Art hinterfragt der Salon de Fleurus ein in den 1930er Jahren entstandenes Modell der Entwicklung der modernen Kunst und damit die Möglichkeit einer Prognostizierbarkeit künstlerischer Entwicklungen überhaupt. Im Spannungsfeld von Kunstgeschichte, Kennerschaft, strategischen Erwägungen des Kunstmarktes und Ausstellungspolitik modelliert und reflektiert der Salon de Fleurus eine utopische Miniatur der Entstehung eines Kunst-Kanons." Dieses Modell eines "Museums der Museen" finde ich allerdings deswegen nicht ganz so überzeugend, weil ich Analoges schon 1988 in der Inszenierung von Luccio Passetto im Palazzo Strozzi in Florenz realisiert gesehen habe. Nur dass seinerzeit umfassend die Kunst des Abendlandes und nicht nur die der Moderne gezeigt wurde.[5]

Die Prozess-Arbeit von KATHARINA KARRENBERG R.A.U.S.CH. © ZARA & TUSTRA ist ebenso komplex wie ironisch. Sie widmet sich, wie die Titelgebung ja schon nahe legt, "dem Themenkreis von Rausch und künstlerischer Produktivität." Vor Ort blickt der Betrachter auf eine Konstellation mit 600 Segmenten mit Tuschezeichnungen auf Transparentpapier im Format von je 29x11 cm, die dreidimensional in den Raum arrangiert sind. Die Arbeit verbindet dabei Elemente des Comics (die beiden Kunstfiguren ZARA & TUSTRA) mit der Bilderwelt der Désastres von Goya, dem Jüngsten Gericht von Hieronymus Bosch bzw. dem Inferno aus Botticellis Dante-Illustration. "Die Comicfiguren ZARA & TUSTRA sind Meister der Übertretung und der Grenzüberschreitung. In ihrer Suche nach dem Glück wandern, stürzen, taumeln sie durch die Schrecken der schönen und nichtmehrschönen Künste: Sie fliegen durch R.A.U.S.CH.- Felder der Extase, Hingebung, Hysterie, Habgier, Geiz, Mord und Totschlag." Der Besucher erhält einen "Einblick in ZARA's & TUSTRA's R.A.U.S.CH.haften Sturz aus den Desastres de la Guerra von Goya. Im Verlauf der weiteren Geschichte trennen sich die beiden voneinander, um ihre Identitäten in Feldern der Hysterie, der Spiegelungen, der Schwimm- und Flugversuche, in Box- und Karatekämpfen und in Cyborg- Visionen zu erproben. Wann und ob sie sich wieder treffen ist ungewiss - wie alles in dieser Geschichte." Vor Ort erschließt sich die komplexe Arbeit erst nach und nach, die kunsthistorischen Anspielungen sind - obwohl Katharina Karrenberg freundlicherweise viele textliche Hilfestellungen gibt - erst in der Nacharbeit richtig erschließbar. Dazu kann der Besucher 60 Segmente der Arbeit als sehr liebevoll gemachte kleine Bildkartenserie im Schuber erwerben, und so der Komposition und Konstruktion des Kunstwerks nachgehen.

Gleich beim Eintritt in das Museum bekommt der Besucher eine Eintrittskarte, die sich am Ende des Rundgangs als Kunstwerk erweist. Dann nämlich stößt man auf den Geld-Schrein von MARIA FISAHN, der sich u.a. mit der Bedeutung der Ökonomie in Utopie-Modellen auseinandersetzt: "Ein kontrovers diskutierter Punkt zahlreicher Utopien ist ihr Verhältnis zum Geld und damit verbundenen Tauschprozessen, Wertvorstellungen und Ökonomieentwürfen. Maria Fisahn befasst sich in ihren Arbeiten und Performances mit Werten: ideellen und materiellen. Ihr Fokus ist dabei primär auf das liebe Geld gerichtet. Für die Ausstellung entwickelt die Künstlerin ein Eintrittsgeld - eine Künstleredition, die innerhalb des Ausstellungskontextes einen 'Tauschwert' erhalten soll, entwertet, aufgewertet, personalisiert und getauscht werden kann."

Hervorzuheben ist abschließend noch, dass die Kuratoren auf die Erstellung eines umfassenden Kataloges verzichtet haben und statt dessen eine größere Zahl von Einzelpublikationen und Editionen anbieten. Und dabei sind dem Veranstalter und den für die Publikationen verantwortlichen Künstlern einige sehr gute Impulse gelungen.

Jürgen Brodwolf: Magie Figur

Gleich gegenüber dem Hagener Karl Ernst Osthaus-Museum zeigt die Galerie Michael Schlieper von Anfang September bis Ende Oktober 2002 aus Anlass seines 70. Geburtstages Arbeiten aus dem Oeuvre des schweizerisch-deutschen Künstlers Jürgen Brodwolf. Brodwolf, Teilnehmer der documenta VI unter Manfred Schneckenburger, ist vor allem durch seine charakteristischen Tubenfiguren bekannt geworden. Das Fragmentarische, Brüchige, Verletzliche, das an die Vergänglichkeit Erinnernde gehört zu den Charakteristika aller Werke von Jürgen Brodwolf. Seien es die zerdrückten Tubenfiguren aus der Anfangsphase seiner Bildhauerzeit (seit 1959), seien es später Leinwand- und Pappmaché-Figuren (seit 1974) oder sei es auch ganze Skulpturensembles: Brodwolfs Thema ist immer der Mensch, der gebeugte, der zerbrochene, verbrannte, aber auch der sich erhebende, den aufrechten Gang übende Mensch. Die Galerie Schlieper zeigt eine gelungene Ausstellung mit einem guten Querschnitt aus dem gesamten Schaffen Brodwolfs von einer Tubenfigur aus dem Jahr 1959 bis hin zu den neuesten Arbeiten, den Pigmentfiguren aus dem Jahr 2002. Das Besondere der Ausstellung ist es zudem, dass sie aus gegebenem Anlass auch typisiert. So finden sich mehrere Arbeiten, die als Ensemble präsentiert zugleich einen Werküberblick geben, etwa die Zeitpyramide mit Werken von 1972 bis 2002, oder auch die Figurentypologie III mit Arbeiten aus den Jahren 1984 bis 1992.

Anmerkungen
  1. Der Text von Osthaus geht weiter: "Je mehr Menschen an der Kunst teilhaben, um so höher steht die Gemeinschaft. Sozial ist es, diesen Zustand anzustreben. Die Vermittlung fällt den Museen zu. Ihre Aufgabe ist zu bewahren und zu lehren. Zu bewahren, damit der kostbare Besitz erhalten bleibe, zu lehren, damit Kunst immer lebendig sei. Das eine ist Sache der Fachleute, das andere ist Recht der Gesamtheit. Jeder sollte der höchsten Güter teilhaftig werden. Nicht durch Besitz, sondern durch inneres Verstehen. Denn wie dem Besitzer die Werke der Kunst oft schweigen, so schenken sie sich rückhaltlos dem, der sich ihnen mit offenen Sinnen naht. Museen sollten Tempel sein. Die Kraft der Kirche im Mittelalter lag in ihrer Mittlerrolle zwischen den reichen und den bedürftigen Seelen. Doch war die Kirche auch Lehrmeister. In ihren Klöstern trieb man jedes Handwerk um seiner selbst, nicht um des Gewinnes willen. Ein Werk um seiner selbst willen treiben, ist aber Kunst. Ehrfurcht und Hingabe sind die Wurzeln jeglicher Kultur. Sie zu erzeugen, ist der Museen erste Aufgabe. Wissen darf nur Mittel, Liebe muß das Ziel ihres Wirkens sein. Niemals sei das Museum wie die Oase in der Wüste. Nicht das Leben zu vergessen, sondern das Leben zu meistern sei die Lehre. Es gleiche dem Sämann, der Saaten streut. [...] Das Museum also soll Beziehung zum Leben suchen. Das Kunstwollen der Zeit muß in seinen Räumen sichtbar werden. Sichtbar und verständlich. Hier liegt die schöpferische Aufgabe seiner Leiter." http://www.keom.de/museutopia/welcome.html
  2. Es gehört zum Überraschenden dieser Ausstellung, dass sie selbst weniger im eigentlichen Sinne utopisch, als vielmehr weitgehend historisch-dokumentarische Aufarbeitung utopischer Ideen ist. Das gilt für die Bezugnahme auf biblische und mythologische Motive ebenso wie für die kunsthistorischen Zitationen.
  3. Vgl. Franz Josef Wetz, Die Kunst der Resignation, Stuttgart 2000.
  4. Zur Lampe als Motiv der Aufklärungszeit vgl. M.H. Abrams: Spiegel und Lampe: Romantische Theorie und die Tradition der Kritik. München 1978. Wolfgang Schivelbusch: Lichtblicke. Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert. München/Wien 1983.
  5. Museo dei Musei (Ausstellungskatalog), hg. von Paolo Piazzesi, Palazzo Strozzi, Florenz 1988. Kurator: Luccio Passetto. Vgl. auch den Beitrag von Umberto Eco im Katalog: Del falso e dell'autentico, S. 13-18.

© Andreas Mertin 2002
Magazin für Theologie und Ästhetik 19/2002
https://www.theomag.de/19/am67.htm