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Magazin für Theologie und Ästhetik


Heiliger Blick der Güte

Sphären des Heiligen unter den Bedingungen der entzauberten Welt

Fulbert Steffensky

In meiner katholischen Kindheit hatten wir - längst vor esoterischen Zeiten - esoterisches Wissen vorweggenommen. Wir lebten in kräftigen und Furcht erregenden Welten, in bergenden und gefährlichen, eben in heiligen Welten. Heilig war ein Grundwort dieser Welten. Nicht alles war heilig, es gab heilige Zeiten und andere. Heilige Zeiten waren etwa solche, an denen man besondere Ablässe gewinnen konnte wie etwa an Allerheiligen und Allerseelen oder in einem heiligen Jahr. Die Nächte zwischen Weihnachten und Dreikönige waren heilig. Die Fruchtbarkeit der Welt erneuerte sich in ihnen, es war gefährlich, in jenen Tagen Wäsche zu waschen. Es gab heilig-kräftige Orte, etwa die Wallfahrtsorte, an denen man in besonderer Weise beten konnte für die Gesundheit der Augen, der Galle oder für einen guten Ehemann und dessen Treue. Es gab natürlich Personen, die mit besonderer heiliger Gewalt ausgestattet waren: Subdiakone, Diakone, Priester und Bischöfe. Je nach ihrem Stand hatten sie einen abgestuften Anteil an der Macht über das Heilige. Der eine konnte die Speisen segnen, der andere das Brot verwandeln, der Nächste sich bei der Priesterweihe gar in die Reihe apostolischer Sukzession stellen. Es gab heilige Formeln, die genau einzuhalten waren, wenn sie wirken sollten, zum Beispiel die Absolutionsformel bei der Beichte und die Einsetzungsformeln in der Messe. Die Schöpfung war noch nicht ganz verdorben. Es gab in ihr Stellen, Zeiten, Formeln und Personen, die gesegnet waren, die einen besonderen Zugang zum Heiligen eröffneten. Der Begriff heilig hatte in dieser Welt wenig mit sittlicher Vollkommenheit zu tun. Man konnte ihn fast gleichsetzen mit kräftig, und sein Gegenteil ist nicht böse, sondern kraftlos. Das Profane war das Alltäglich-Kraftlose. In dieser Welt lebten die Menschen geborgen, weil sie wussten, was zu tun war, aber auch geängstigt, weil man immer in der Gefahr war, den heiligen Vollzug, die heilige Formel, die heilige Person zu verletzen. Wer in einer katholischen Welt groß geworden ist, weiß zum Beispiel sehr genau, welche Ängste sich aus der Verletzung des Gebots der Nüchternheit vor dem Empfang der Kommunion ergaben. Aber das Hauptgefühl in solchen Landschaften war nicht Angst, sondern Geborgenheit. Man kannte die Kräfte, konnte sie nutzen und die Gefahren vermeiden. Es waren eher religiös gekonnte als fromme Welten. Man hat sich der Kräfte oft mit großer Nüchternheit bedient. Oft galten sie in sich selber, und sie waren keineswegs immer mit Gott verbunden. Wenn man Halsschmerzen hatte, betete man zum heiligen Blasius, und wenn ein großes Gewitter war, zündete man eine Kerze für den Apostel Judas Thaddäus an. Sie waren eben zuständig. Eine erste Entzauberung dieser Welt erlebte ich in einem Benediktinerkloster, in dem ich viele Jahre lebte. Die Frömmigkeit dieses Ortes hatte eine andere Intensität. Es gibt keine größeren Störer in verzauberten Welten als die Aufklärung und als religiöse Dichte. An allen Orten religiöser Radikalität stürzen die Bilder und werden die Landschaften, in denen alles so säuberlich in profan und heilig eingeteilt ist, verwüstet. Jeder religiöse Neuanfang bedeutet einen Bruch mit den alten Sinn- und Vergewisserungswelten.

"Religiöse Radikalität stürzt alle Bilder"

Das Herz und das Gewissen werden zu Orten religiöser Entscheidung, nicht Orte, Zeiten, Formeln oder Personen. Nicht was in den Menschen hineingeht, verunreinigt ihn, sondern was aus ihm herauskommt (Matthäus 15,11). Das Herz also ist die Stelle der Reinheit oder der Unreinheit, nicht ein Ort, eine Zeit oder eine Formel. Heiligkeit wird nicht mehr einem Ort oder einem Ding zugesprochen, sondern sie ist das Attribut Gottes. Er ist der heilige Gott, über den nicht mit Formeln und Techniken verfügt werden kann. Von der Heiligkeit der Kirche und der Menschen in ihr kann nur noch gesprochen werden als der Gabe dieses Gottes. Der Geist heiligt (Römer 1,4), und der neue Mensch, den wir anziehen sollen, ist nicht unser Produkt; er ist nach Gott geschaffen "in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit" (Epheser 4,24). Das nun ist die wieder entdeckte Erkenntnis der Reformation, jenes immensen religiösen Neuanfangs: Wir sind nicht Produzenten unserer eigenen Heiligkeit und Ganzheit, es ist der Blick der Güte, der uns ins Leben zieht. Wir bezeugen uns nicht selbst, sondern der Geist Gottes ist der Zeuge unseres Lebens (Römer 8,16). Gegen unsere Existenz in Gebrochenheit und Schuld liest jener Geist uns liebenswürdig und unser Leben heilig. Die Lehre von der Gnade und der Glaube an die Geborgenheit in jenem Blick der Güte hat eine anarchistische und bilderstürmerische Kehrseite. Es ist die Bezweiflung aller Mächte und Gewalten, aller Einrichtungen und Naturhaftigkeiten, die sich als wichtig, als unerlässlich, als lebensrettend und als substantiell notwendig aufspielen. Der Glaube an den Ursprung der Lebensrettung im Blick der Güte weckt zugleich die Grundskepsis gegen alle Heiligkeits- und Rettungsagenturen, seien es Personen, Orte, Zeiten oder Techniken. Du sollst keine fremden Götter neben mir haben! Du sollst nicht glauben, dass dich etwas anderes rettet oder birgt als jener Blick, mit dem du angesehen bist! Der Glaube ermöglicht den Unglauben und das Misstrauen gegen alles, was sich als unberührbar, als unumstößlich und als heilig gibt. Es ist ein Grund gelegt, und mehr Grund und Begründung brauchen wir nicht. So hat der Glaube an die Güte Gottes eine zersetzende Kraft. Er vertreibt alle Geister und Mächte, die diese Güte ersetzen oder ergänzen wollen. Dieser Glaube ist der Grund der Freiheit eines Christenmenschen, und das Charisma des Protestantismus ist eben jene aus dem Glauben geborene Skepsis. Diese Skepsis führte in der Reformation zu einer fast unvorstellbaren Veränderung von religiösen Landschaften. Zeiten, Orte, Personen wurden profaniert, und es wurde ihnen ihre numinose Qualität genommen. Ablässe und Heiligenverehrung verschwanden, denn man brauchte keine Vermittler. Die Sakramente wurden reduziert. Kirchenschmuck und Gewänder verschwanden. Der Glaube an spezielle Heilige und an das Wunder verschwand. Das einzige Wunder war der Einfall der Gnade Gottes. Wenn Protestanten heute klagen, dass der protestantische Gottesdienst weniger Heimat böte als der katholische, dass er gestenarm und wenig sinnlich sei, so sollten sie doch wissen, dass diese Kargheit der Schatten eines großen Reichtums ist, nämlich der Schatten jenes Glaubens an die Gnade und jener skeptischen Freiheit, die aus ihm geboren ist. Das also haben wir mit der Reformation und der Aufklärung, der die Reformation den Weg bereitet hat, gewonnen: Wir sind den Verzauberungen entronnen. Die Dinge sind nun, was sie sind. Der Wallfahrtsort ist ein Stück Erde wie andere Orte auch; Bischöfe und Priester sind keine besonderen heiligen Leute wie unsereiner auch. Mit heiligen Zeiten ist aufgeräumt, nicht einmal vor dem Wechsel des Jahrtausends braucht man sich zu fürchten, denn alle Zeiten haben ihre gleiche Nähe zu Gott.

Vor lauter Erlösung die Schöpfung vergessen?

Aber könnte es sein, dass mit dieser Art der Entzauberung des Lebens ein großes Gähnen in die Welt gekommen ist und dass die Menschen eine Wirklichkeitsauffassung haben, die der eines etwas schläfrigen älteren Geschäftsmanns nach dem Mittagessen gleicht (Peter L. Berger)? Könnte es sein, dass wir vor lauter Erlösung Schöpfung nicht mehr denken können? Dass wir in den Dingen die Spuren, die Kraft und das Lob Gottes nicht mehr lesen und hören können? Kürzlich waren im saarländischen Marpingen 30000 Menschen versammelt, die auf eine Marienerscheinung warteten. Viele Menschen halten offensichtlich diese gähnende Normalität nicht mehr aus, die ausgeleuchteten Räume, in denen alles seine Erklärung und seine geheimnislose Vernunft hat. Es ist, als ob sie gegen alle Vernunft die Schatten, den alten Zauber und die gefährlichen Höhlen des Lebens suchten. Was uns da im hellen Licht der Aufgeklärtheit entgegenkommt, kann doch nicht alles sein. Es muss doch ein Geheimnis der Welt und der Dinge geben! So suchen sie Stellen, an denen das Fremde und Nichterklärliche erscheint; es mag aus dem Himmel oder aus der Hölle kommen. Ich vermute, dass sich für solche Sehnsüchte Satansmessen und Marienerscheinungen nicht wesentlich unterscheiden. Sie suchen das alte tremendum et fascinosum; sie suchen die Unerklärlichkeit und das zweite Gesicht der Dinge und der Welt. Die Beschränkung des Geistes auf Erklärbarkeiten und auf lösbare Fragen, die Eindimensionalität der Wahrnehmung und der Verzicht auf das Geheimnis lassen uns offensichtlich tief unbefriedigt. Von dem mittelalterlichen Theologen Bonaventura ist der Satz überliefert: "Alles Geschaffene ist Schatten, ist Echo, ist Bild, Spur, Ebenbild und Aufführung." Nichts also ist nur, was es ist. Es hat Anteil an der Heiligkeit Gottes, weil es sein Echo und seine Spur ist. Dies ist nicht das alte bannende sacrum, wohl aber eine Heiligkeit des Lebens, die unsere Ehrfurcht und Ergriffenheit will. Vielleicht bewahrt uns nur diese Auffassung vom Leben und von den Dingen davor, dass wir sie benutzen, als hätten sie kein Geheimnis und als stünden sie nur uns zur Verfügung. Als Echo Gottes sind sie für sich da, aber sie sind auch für Gott da. Vielleicht hat die Entzauberung der Welt dazu geführt, dass wir in grenzenlos imperialer Geste uns alles unterwerfen. Wer kein Tabu kennt und die Heiligkeit der Dinge nicht sieht, wird zu ihrem Zerstörer. Der Satz von der Heiligkeit der Dinge hat also durchaus eine politische Bedeutung. Sie hindert uns daran, die reinen Verfüger und die ungebremsten Herren zu sein. Könnte es sein, dass, wenn Gott der einzig Unverfügbare ist, alles andere bedenkenlos zur Verfügung steht? Der Protestantismus hat das Christentum vergeistigt. Das Herz und das Gewissen wurden die dramatischen Orte, nicht mehr die alten Stellen, Zeiten und Techniken waren entscheidend. Diese Veränderung war unausweichlich, es ist nur die Frage, ob sie genügt.

Die heilige Welt der Bezeichnung

"Jede neue Religion, die Bestand haben will, muss den Schritt von der inneren zur äußeren Religiosität tun" (Mary Douglas). Dass ihr Geist eine Stätte findet, dass er "statthaft" wird (Gerardus van der Leeuw), ist die Bedingung ihrer langfristigen Existenz. So lese ich denn mit einem zweiten Blick die Welt meiner katholischen Kindheit und ihre "Heiligkeit". Vielleicht war ihr immer ein Stück Magie der Unterscheidung der Orte, Zeiten und Praxen beigemischt. Inzwischen aber frage ich mich, was gefährlicher ist: die Portion Magie oder der Verlust des Geistes im unbezeichneten Leben, die Verdunstung der Religiosität, die keine Stätte findet? Kann man aber unter der Bedingung des Protestantismus und der Aufklärung - beides darf man nicht ungestraft verraten - heilige Welten errichten? Kann man Tabus wieder einrichten, nachdem man gelernt hat, sie zu brechen? Kann man Orten und Zeiten eine besondere Ehre oder Weihe verleihen, ohne dass sie sich ausweisen müssen, das heißt, ohne dass sie Kräfte ausstrahlen, die uns überwältigen und die die Besonderheit des Ortes fraglos machen? Die Sprache hat im Bezug auf die Zeit eine merkwürdige Formulierung: den Sonntag heiligen. Die Menschen empfanden sich also als Koproduzenten der Heiligkeit einer Zeit. Ähnliches geschah bei den vielen Segnungen und Weihen im Katholizismus. Man verlieh dem Wasser Besonderheit, und man sprach vom Weihwasser. Man segnete Öl, Brot, den Wein am Johannistag, Blumen an Maria Himmelfahrt, die den Toten mit in den Sarg gegeben wurden. Man heiligte, indem man aussonderte. Denn das ist ja vermutlich der älteste Sinn von heilig: ausgesondert. Wenn man die Zeiten heiligt, dann kommen sie einem als heilige Zeiten entgegen. Der heilige Ort, die heilige Zeit entstehen dadurch, dass man sich auf sie bezieht. Man erhebt Orte, Zeiten und Dinge in den Rang eines Zeichens. Unsere Erklärungen schaffen einen heiligen Kosmos von Rhythmen und Zeiten, die dann geworden sind, wozu wir sie erklärt haben: heilig. Sie sind der Profanität entnommen, sie helfen uns, aber sie stehen nicht mehr zur Disposition. Das öde Chaos der Gleichgültigkeit wird überwunden mit der Pointierung der Orte, Dinge und der Zeiten. Dass dies notwendig ist, spüren wir Protestanten spätestens, seitdem der Buß- und Bettag abgeschafft ist und seit der Sonntag immer mehr verfügbare Zeit wird. Aber gibt es heute noch eine Heiligkeit des Ortes? In Hamburg in der Nähe der Universität stand die alte Synagoge, die in der so genannten "Kristallnacht" 1938 vernichtet und später gänzlich dem Erdboden gleichgemacht wurde. Lange Zeit war dieser Ort ein Parkplatz. Er hatte keine Heiligkeit mehr, weil niemand seiner gedachte. Viel später dann hat man den Grundriss der Synagoge als Mosaik in den Boden eingelassen. Nun erinnert dieser Ort mit leiser Geste jeden, der vorübergeht, daran, was Menschen angetan wurde. Jede Wahrnehmung dieses Ortes heiligt ihn aufs Neue. Einmal wollte ich mit einem Kollegen, der eine Zigarette rauchte, über diesen Platz gehen. Er aber machte einen Umweg, um nicht rauchend über diesen Platz des Gedenkens zu gehen. Der Platz wurde zu einem Tabu. Der Kollege empfand die Heiligkeit des Ortes, die ihm verliehen wurde durch das Gedächtnis der Menschen. Dabei kommt es nicht darauf an, dass genau hier die Synagoge gestanden hat. Ein anderer Ort, der zum Ort des Gedenkens gewählt worden wäre, hätte die gleiche Kraft gehabt. Die Menschen, die gezeichnete Landschaften kennen, sind nicht allein angewiesen auf die Stärke ihrer Innerlichkeit und ihres Gewissens. Die Figuren machen die Landschaft zu einem "Mnemotop" (Jan Assmann), zu einer Gedächtnislandschaft, die uns erinnert und damit unser Gedenken erbaut. Orte und Zeiten bilden uns. Sie verhelfen uns zum Gedächtnis, und sie figurieren unsere Innerlichkeit. Und nur in der Figur bleibt der Geist langlebig und erkennbar.


© Fulbert Steffensky 2002
Magazin für Theologie und Ästhetik 19/2002
https://www.theomag.de/19/fs1.htm

 
Der  Buch-per-Klick-Bestell-Service
Fulbert Steffensky, Der alltägliche Charme des Glaubens, Würzburg 2002
Fulbert Steffensky, Das Haus,m das die Träume verwaltet, Würzburg 1999