Der in der im Sommer 2002 erschienen EKD-Kulturdenkschrift "Räume der Begegnung" geforderte Dialog von Theologie und Kirche mit der Kultur und den Kulturwissenschaften ist in der Studie "Liturgische Körper. Der Beitrag von Schauspieltheorien und -techniken auf die Pastoralästhetik" von Marcus A. Friedrich in exemplarischer Weise auf einem für die kirchliche Praxis zentralen Feld eingelöst - und zwar auf dem der Liturgie.[1] Auf dem Hintergrund des seit den achtziger Jahren zu diagnostizierenden Paradigmenwechsels in der Praktischen Theologie von der Allianz mit den Kommunikationswissenschaften hin zur Auseinandersetzung mit der Ästhetik (besonders Albrecht Grözinger, Gerhard Marcel Martin, Karl-Heinz Bieritz) macht Marcus A. Friedrich den Versuch einer genaueren Verhältnisbestimmung auf einem speziellen praktisch-theologischen Gebiet.
Er greift drei für das zwanzigste Jahrhundert paradigmatische schauspielästhetische Modelle auf und setzt sie zur Pastoralästhetik, der Liturgiewissenschaft und der liturgischen Praxis, äußerst genau ins Verhältnis. Dabei argumentiert er gegen das gerade im kirchlichen und kleinbürgerlichen Milieu häufig anzutreffendes Klischee, Liturgie und Schauspielerei hätten auch nicht im geringsten etwas miteinander zu tun. Das Vorurteil lautet: "Der Schauspieler steht für eine oberflächliche, wenn auch unterhaltsamere Scheinwelt der vorübergehenden Verstellung: 'Schauspielerei' wird bei vielen mit Vormachen, Vortäuschen, So-tun-als-ob, ja oft mit 'unecht' oder 'nur gespielt' gleichgesetzt. Der kirchliche Liturg hingegen agiert authentisch und ernsthaft in der wahren und tiefgründigen Welt Gottes."
Der Autor zeigt jedoch, dass es in beiden Bereichen darstellenden Handelns, sowohl in der liturgischen Situation wie auf dem Theater, - und dies machen spätestens die vorgestellten und diskutierten schauspielästhetischen Beispiele deutlich - um ein überzeugendes Verhältnis von Rolle und Person, von persönlicher Haltung und öffentlicher Verkörperung der Handelnden und letztlich um das gestaltete Verhältnis von Form und Inhalt der Handlungen geht. Es seien Theater- und Schauspieltheorien, die dem kirchlichen Handeln in der liturgischen Praxis ein unverzichtbares Instrumentarium der Reflexion an die Hand geben könnten.
Das Verdienst der Studie ist es, diese Theorien und Modelle zugänglich und bis in die äußere Erscheinung des parallel zu lesenden Scripts für die Pastoraltheologie fruchtbar gemacht zu haben. Die ausgewählten schauspielästhetischen Ansätze samt ihrer Wirkungsgeschichte sind nicht willkürlich gewählt, sondern in unterschiedlicher Gestalt und Gewichtung, im Sinne des Autors manchmal auch verkannt und fehlinterpretiert, in der "liturgischen Kunst" und in der pastoraltheologischen Diskussion bereits aufgetaucht, z.B. in den pastoraltheologischen Arbeiten von Dietrich Stollberg, Manfred Josuttis und Michael Meyer-Blank.
Es handelt sich bei den herangezogenen Schauspieltheorien einmal um die schöpferische Schauspielästhetik des russischen Regisseurs, Theaterleiters, Theaterpädagogen und Schauspielers Konstantin Stanislawski, in der die Körperwahrnehmung, das Erleben der Schauspielenden und deren eigene kreativen Potentiale in den Mittelpunkt gestellt werden, sowie um das sich von diesem Modell abgrenzende epische Theater Bertold Brechts, das das Individuum nicht losgelöst von seinen gesellschaftlichen Bedingungen betrachten kann und eine gleichermaßen politische, gesellschaftskritische, aufklärerische wie auch utopische Dimension des Theaters grundlegt und schließlich um die spirituelle Schauspielästhetik des Polen Jerzy Grotowski, die darauf setzt, dass die Schauspielenden erst im szenischen Handeln zu ihrem transzendenten Grund als Menschen vordringen können.
Alle drei Modelle arbeiten jeweils mit den Personen der Handelnden und werden unter den Gesichtspunkten "Wahrnehmung", "Verkörperung" und "Deutung" rezipiert, diskutiert, voneinander abgegrenzt und miteinander in Beziehung gesetzt. Friedrich weist in Bezug auf die schöpferische Schauspieltheorie Stanislawskis auf, dass seine Fruchtbarmachung für die Pastoralästhetik und seine Anwendung auf die liturgische Situation alles andere als persönliche Verstellung und vortäuschendes Verhalten zur Folge haben muß. Vielmehr verhelfe das Modell nach Überzeugung des Autors dazu, eine lebendige Verbindung zwischen der Person des Liturgen und dem liturgischen Geschehen im Hinblick auf die Wahrnehmung des eigenen Körpers, des emotionalen und schöpferischen Befindens herzustellen.
Das Modell der schöpferischen Pastoralästhetik bewahrt vor der Gefahr, dass "Liturgie nicht zur bloßen Handwerkelei oder zur Vorführung in einem negativ theatralen oder rituellen Sinn verkommt." "Die Wahrnehmung der schöpferischen Pastoralästhetik erschließt den liturgischen Körper des Einzelnen im liturgischen Körper der Gemeinde binnenperspektivisch." An dieser Beschränkung des schöpferisch-pastoralästhetischen Modells auf das individuelle Gefühl, den schöpferischen Impuls des Einzelnen und deren Vermittlung mit dem liturgischen Akt setzt die Kritik der epischen Pastoralästhetik an, insofern sie im Anschluss an die episch-politische Theatertheorie Brechts liturgische Körper als gesellschaftlich-poli ti sche Körper(schaft) wahrnimmt. Der jeweilige gesellschaftliche Kontext der liturgisch Handelnden ist demnach im liturgischen Geschehen in den Blick zu nehmen und zu thematisieren. Die epische Pastoralästhetik versteht Liturgie als Aufklärung und verstandesmäßiges Begreifen der persönlichen und politischen Situation, als politische Information und Formulierung ungerechter gesellschaftlicher Verhältnisse, als Einklagen von Gottes Gerechtigkeit auf Erden (politisches Nachtgebet). Sie demokratisiert das liturgische Geschehen im Sinne des protestantischen Priestertums aller Gläubigen. Das episch-pastoral theologische Modell wird von Friedrich keineswegs als Konkurrenz zum schöpferischen Mo dell nach Stanislawski betrachtet, sondern als dessen Erweiterung um entscheidende Aspekte.
Die an der spirituellen Schauspieltheorie Grotowskis gewonnene Pastoralästhetik hat die Vision der Überwindung der Körper-Geist-Dichotomie und der spirituellen Entfremdung. Sie hofft auf die Entgrenzung liturgischer Körper im Sinne eines liturgischen Gemeinschaftskörpers, der Transzendenzerfahrungen und neue, außergewöhnliche Lebensdimensionen freisetzt. So wagt sich die spirituelle Pastoralästhetik deutlicher als die zwei anderen Modelle in den genuinen Bereich des Religiösen vor. Im Anschluss an Grotowski geht dieses Modell von einer Armut der künstlerischen Mittel in der Liturgie aus und beschränkt sich auf den Körper als liturgischem Medium. Auch dieses Modell wird zu den anderen beiden pastoralästhetischen Entwürfen in Beziehung gesetzt: "Die schöpferische Pastoralästhetik schafft die sinnlichen Voraussetzungen der liturgisch Handelnden, um eine spirituelle Wahrnehmung anzubahnen, die emotionale Präsenz. Die epische Pastoralästhetik verhindert, dass liturgische Praxis im Modell der spirituellen Pastoralästhetik zur abgehobenen, zeitlosen und asozialen Esoterik verkommt. Sie weist darauf hin, dass es kein richtiges spirituelles Leben im falschen sozialen Leben geben kann und hält so die Verbindung von Ethik und Ästhetik in der liturgischen Praxis aufrecht."
Die pastoralästhetische Bildung, die im "Ausblick" der Studie Friedrichs angesprochen und für die Ausbildung von TheologInnen, aber auch für liturgische Laien gefordert und für unerlässlich erachtet wird, hat in den drei schauspieltheoretischen Modellen ein reiches Reservoir zur Reflexion der jeweiligen liturgischen Praxis. Der Forderung des Autors nach einer stärkeren institutionellen und theologischen Aufwertung liturgischer Werkstatt-Arbeit und einer größeren Gewichtung des Bibliodramas für das liturgische Geschehen kann nur beigepflichtet werden.
Eine ähnliche Studie wie die zum Verhältnis von Schauspieltheorien und liturgischer Praxis und Theorie wäre zum Verhältnis von Kirche und bildender Kunst, Kirche und Musik etc. dringend erwünscht und erforderlich.
Anmerkungen
- Marcus A. Friedrich, Liturgische Körper. Der Beitrag von Schauspieltheorien und -techniken auf die Pastoralästhetik, Stuttgart 2001, Kohlhammer-Verlag
© Eveline Valtink 2002
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Magazin für Theologie und Ästhetik 20/2002 https://www.theomag.de/20/ev3.htm
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