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Magazin für Theologie und Ästhetik


Im Labyrinth XI

Erscheinungen im Cyberspace

Karin Wendt

Polylog

Kulturen sind Räume, die wir hervorbringen, Praktiken, die wir pflegen, Rituale, die wir weitergeben, und Kultur ist etwas, das unser Menschsein kulturenübergreifend bzw. kulturenunabhängig charakterisiert bzw. charakterisieren soll. "Kulturen sind schwebende Systeme, sie hängen insgesamt in der Luft." (Peter Sloterdijk, Die Sonne und der Tod) In dieser schwebenden Begründungsstruktur zwischen dem Wissen über die Welt und dem Wissen um die Konstruktion dieses Wissens vollzieht sich unser Reden und Nachdenken über Kultur sowie unsere Kultur zu denken, zu sprechen und zu handeln.

Polylog ist ein virtuelles Forum für interkulturelles Philosophieren. Das dreisprachige Internetforums hat einen philosophischen Schwerpunkt mit einer starken interdisziplinären Ausrichtung. Es präsentiert eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der interkulturellen Herausforderung der Philosophie in wissenschaftlichen wie essayistischen Beiträgen, in einem Diskussionsforum sowie in einem Serviceteil.

"Im interkulturellen Philosophieren sehen wir also vor allem eine neue Orientierung und Praxis des Philosophierens, eines Philosophierens, das eine Haltung der gegenseitigen Achtung, des Zuhörens und Lernens erfordert.

Wir verstehen interkulturelles Philosophieren als die Bemühung, die vielen philosophierenden Stimmen im Kontext ihrer jeweiligen Kulturen vernehmbar und in einer gemeinsamen und gleichberechtigten Auseinandersetzung füreinander fruchtbar zu machen.

Neue Orientierung deshalb, da im Bewusstsein der kulturellen Situiertheit der Philosophie Geltungsansprüche sich erst interkulturell bewähren müssen. Kultur und Kulturen werden somit als kontextueller Grund des Philosophierens bewusst ins Blickfeld genommen. Und neue Praxis daher, weil dieses Bewusstsein ein Abgehen von einer individuellen, monokulturellen, häufig ethnozentrischen Philosophieproduktion verlangt. Statt dessen sucht es eine dialogische, prozesshafte, grundsätzlich offene Polyphonie der Kulturen und Disziplinen."

Dabei soll es auch um den - vor allem an Universitäten - fehlenden Dialog der philosophischen Strömungen untereinander und nach außen gehen. Die Verschulung philosophischen Denkens ist eines der Hauptprobleme für ein geisteswissenschaftliches Selbstverständnis.

"Das Forum polylog versucht eine derartige Praxis in einem interkulturellen Dialog zu verwirklichen, zwischen Philosophen und Philosophinnen sowie Interessierten aus Wissenschaft und Gesellschaft generell: in einem philosophischen Polylog. Das Projekt bietet somit eine virtuelle Plattform für die weltweite Diskussion zu Themen interkulturellen Philosophierens. Dabei ist nicht beabsichtigt, interkulturelle Philosophie als neue Theorie, Disziplin oder Schule zu etablieren. Vielmehr soll gerade der Vielfalt der Intentionen und Ansätze mit größtmöglicher Offenheit und zugleich wissenschaftlicher Seriosität entsprochen werden - möglichst in der jeweils angemessenen Form und Weise."

Der ethische Fokus liegt auf der Reflexion "sozialer Gerechtigkeit" in interkultureller Perspektive. Beeindruckend ist das Reflexionsniveau der Forschungsbeiträge, der kulturelle Radius der vorgestellten Perspektiven und aktiven Beitragenden.

"Interkulturelle Philosophie situiert sich genau in diesem Spannungsfeld von universalistischen und partikularistischen Versuchungen. In ihrem Bemühen um eine globale Verständigung sollte sie sich also bewusst sein: Mit der Widerständigkeit der Kulturen ist zu rechnen - und durchaus in einem positiven Sinne."

Neben Veranstaltungsankündigungen, Berichten und Literaturrezensionen gibt es die Rubrik "Anthologie", in der zahlreiche philosophisch oder interkulturell relevante Texte verlinkt werden, die im Internet publiziert sind.

Das Forum darf man jedoch nicht betreten, ohne vorher die "Netiquette" studiert zu haben. Die kommt dann sehr belehrend daher. Die Empfehlung, den Text vor dem Absenden "auf Fehler" und "auf Sinnhaftigkeit" zu überprüfen, traut den Philosophierenden offenbar nicht viel zu. Das Problem eines offenen Chats liegt ja darin, unterschiedliche Stimmen zuzulassen - so erzielt man allenfalls eine recht harmonische Polyphonie? Der Hinweis, "welche Nachrichten ins Forum gehören" und gar die Rubrik "unerwünschte Nachrichten" verderben die Lust am Engagement. Wenn der Inhalt einer Erwiderung "persönlich gefärbt" ist, soll er erst gar nicht öffentlich werden, sondern als Mail direkt an den Absender - wie kann eine Erwiderung (unter interkulturellen Voraussetzungen!) ohne persönliche Färbung sein, und wer spricht dann im Forum mit wem? Die Aussage, die Aufgabe der Philosophie sei es, "die große Welt auszubuchstabieren", gibt dem interkulturellen Unternehmen vor diesem Hintergrund eine problematische Färbung.


Parapluie

Sehr viel offener und spielerischer, aber auch sehr viel medienbewusster und politischer agiert das deutsche E-zine "Parapluie. Zeitschrift für Kulturen, Künste, Literaturen".

"Etwas Para-artiges ist nicht nur gleichzeitig auf beiden Seiten der Grenze zwischen innen und außen: Es ist auch die Grenze als solche, der Schirm, der als durchlässige Membran zwischen innen und außen fungiert. Es bewirkt eine Verschmelzung, lässt das Äußere eindringen und das Innere hinaus, es teilt und vereint sie." [J. Hillis Miller, The Critic as Host]

Ausgangspunkt der kulturellen Reflexionen ist nicht eine egalitäre, interkulturelle Perspektive, sondern stärker die kritische Reflexion auf den eigenen Standort im Kulturraum der Gegenwart.

"parapluie versteht [...] Kultur als einen Prozess, der im ständigen Wandel begriffen ist, ohne dass deshalb die Einnahme eines eigenen Standpunktes unmöglich wäre. Ohne die uns jeweils eigenen Träume, Wünsche und Vorstellungen ist schließlich an den Fortgang dieses Prozesses gar nicht zu denken, in dem die eingenommenen Positionen jedoch offen genug sein müssen, um stets neu verortet werden zu können. Kultur in diesem Sinne ist von Veränderung, der Konfrontation, dem Bedenken sowie der Vermittlung verschiedener, gleichwertig bestehender Perspektiven geprägt.

Auf dem Spiel steht unser Weltbild. [...] Dass wir nur über den Anderen und im Anderen ein Stück von uns erreichen, ist längst ein offenes Geheimnis, und der Schritt auf die Straße ist nichts anderes als der kürzeste Weg nach Hause. Dies gilt im Zeitalter der Satellitenkommunikation und der interkulturellen Gesellschaft mehr als je zuvor, werden doch die inneren wie die äußeren Grenzen von Tag zu Tag fragwürdiger und bedürfen der steten Verhandlung. Ein Weltbild, das im Spiel bleiben will, kann sich nur gleichzeitig als Bild des Anderen verstehen, muss stets im Gange sein und darf auch die Infragestellung nicht scheuen."

Die aktuelle Ausgabe befragt das Verhältnis von "Theater und Politik". Lesenswert ist der Beitrag über "Alphabetisierung und Körperlichkeit" oder die Analyse zu "Spielbergs entpolitisierten Minority Report". Seit 1997 sind Ausgaben mit folgenden Schwerpunkten erschienen:

Seeweg Indien - Sehnsucht - Unkultur - Schönheit und Ideal - Perspektive Afrika - X. Generation - Der Sprung - Zeitenwenden - Kommunikation - Chinesische Gegenwart - Virtuelle Städte - Haut - Cyberkultur - Theater und Politik

Mit der Metapher vom "Parapluie" im Gepäck lässt sich die Geschichte der Kultur aus der Perspektive des Gebrauchs erfahren, als Alltagsgeschichte von Gegenständen, deren Bedeutung und Nutzen vom Einzelnen und seiner Gesellschaft, vom Verhältnis des Einzelnen zu seiner Gesellschaft, abhängt und variiert.

"Parapluie, ein Gegenstand, der sich aus unserem Alltag nicht mehr wegdenken lässt, blickt auf eine Geschichte zurück, die bis weit in die Anfänge der Antike zurückreicht. Bei den frühen Chinesen, Ägyptern und Assyrern nimmt sie ihren Anfang, gelangt mit den Römern über die Alpen, geht mit ihnen zusammen zu Ende und kommt erst durch die portugiesischen Weltumsegler des 15. und 16. Jahrhunderts aus Afrika und Indien dazu, auch in Europa wieder weitergeschrieben zu werden. - Was heute als Parapluie in jedermanns Schirmständer steht, war einst als Parasol Zeichen der Würde von Kaisern und Pharaonen!" Parapluie verbindet auch heute noch Kulturen und Zeiten und bringt ein Bewusstsein ins Spiel, in dem das Eigene und das Fremde dieselbe Geschichte haben.

Das Interesse gilt daher besonders der Kunst und ihren Künsten, denn "da, wo etwas auf dem Spiel steht, sind die Künste niemals weit, kann es ihnen doch nur um die Fragen gehen, die noch nicht beantwortet sind, ja eigentlich sogar nur um solche, die gar keine endgültige Antwort haben und deshalb in ihren Möglichkeiten stets erneut aufs Spiel gestellt werden müssen."

Fokus der interdisziplinären Arbeit soll eine aktive geisteswissenschaftliche Einmischung in den gesellschaftlichen Prozess sein, im Sinne einer universitären Praxis, die mehr umfassen muss als die Tradierung eines Bildungskanons.

"Die Notwendigkeit, interdisziplinär zu arbeiten, die Allüren der Einzeldisziplinen zu überwinden, unter anderem Philosophen mit Philologen, Anthropologen mit Naturwissenschaftlern, Ökonomen mit Künstlern zusammenzubringen und dem Ergebnis außerhalb der Universitätsmauern Gehör zu verschaffen, liegt auf der Hand, wird aber leider noch viel zu selten auch in die Hand genommen. parapluie soll stets zur Hand sein: Ein Katalysator für den Kopf, der in jede Tasche passt."


© Karin Wendt 2002
Magazin für Theologie und Ästhetik 20/2002
https://www.theomag.de/20/kw17.htm